Die Grundidee, die gesundheitsförderliche Gestaltung von Interaktionsarbeit bei flexibler Dienstleistungsarbeit stärker kontextspezifisch zu rahmen, greift auf Erving Goffmans Konzept der Interaktionsordnung (
2001) zurück. Goffman versteht die Interaktionsordnung als „Sphäre der unmittelbaren Interaktion“ (Goffman
2001, S. 55), in der das Alltagshandeln sozial situiert ist. Die Interaktionsordnung wird durch direkte, wechselseitige Interaktionen raum-zeitlich gebundener und körperlich kopräsenter Subjekte konstituiert, reproduziert und verändert. Im Rahmen der Interaktionsordnung können soziale Interaktionen unterschiedliche Qualitäten annehmen, d. h. von flüchtigen oder singulären Begegnungen bis hin zu Konversationen längerer zeitlicher Dauer reichen. Die Interaktionsordnung konzeptualisiert Goffman als soziales Strukturmuster sui generis, das auf der „wechselseitigen Verstricktheit der Teilnehmer“ (Goffmann
2001, S. 57) in Interaktionssituationen beruht. Sie wird im Sinne loser Kopplung durch gesellschaftliche Makrostrukturen (z. B. soziale Ungleichheitsstrukturen) zwar beeinflusst, aber nicht determiniert. Zugleich kann sie auf soziale Makrostrukturen einwirken. Sie ermöglicht den Beteiligten eine Koordinierung ihres aufeinander bezogenen Alltagshandelns zum Zwecke der Verständigung. Hierzu dienen z. B. Techniken der Eindrucksmanipulation und der Darstellung von Gefühlen (vgl. Goffman
1991) sowie Begrüßungs- und Höflichkeitskonventionen, die es den Teilnehmenden erlauben, ihr Gesicht im öffentlichen Austausch zu wahren (vgl. Goffman
1955). Die Interaktionsordnung des Alltagshandelns ist geprägt durch das Spannungsfeld zwischen sozialen Zwängen, Strukturen und Verhaltenserwartungen auf der einen Seite sowie Freiheits- und Möglichkeitsräumen sinnhaften und kreativen sozialen Handelns (Raab
2008, S. 13) auf der anderen Seite. So versteht Goffman die Interaktionsordnung als soziale Ordnung des Alltagshandelns, die eine dynamische Stabilität aufweist, d. h. durch Menschen in sozialen Interaktionen wechselseitig hervorgebracht, reproduziert und verändert wird.
In diesem Beitrag wird das Konzept der Interaktionsordnung als Heuristik verwendet, um interaktive Dienstleistungsarbeit mit Blick auf ihre Analyse und die Entwicklung gesundheitsförderlicher Gestaltungsansätze stärker kontextualisieren zu können. Interaktionsordnung steht hier im Plural, um ihre potenzielle Vielfalt zu spiegeln. Interaktive Dienstleistungsarbeit im Sinne des integrativen Verständnisses von Interaktionsarbeit (vgl. Böhle und Weihrich
2020) wird demnach strukturiert durch spezifische betriebliche Interaktionsordnungen, die ihrerseits durch institutionelle Kontextbedingungen beeinflusst werden. Insbesondere handelt es sich dabei um betriebliche Rationalisierungsregime (vgl. Becke
2022; Bélanger und Edwards
2013; Baethge
2011) und überbetriebliche institutionelle Kontexte, wie Markt- und Wettbewerbsbedingungen oder Systeme der Arbeitsbeziehungen.
Betriebliche Interaktionsordnungen von Dienstleistungsarbeit weisen konstitutive Elemente auf, die je nach Dienstleistungsorganisation unterschiedliche Konfigurationen und Ausprägungen annehmen. In diesem Abschnitt geht es darum, diese Basiselemente zu skizzieren. In Bezug auf konkrete Interaktionsordnungen können Belastungs- und Ressourcenkonstellation, die mit spezifischen Erscheinungsformen interaktiver Dienstleistungsarbeit (z. B. in der ambulanten Pflege oder der agilen IT-Entwicklung) verbunden sind, ermittelt werden. Nun werden neun Basiselemente betrieblicher Interaktionsordnungen beschrieben, die auf der Grundlage unterschiedlicher Konzepte und Studien zur Interaktionsarbeit sowie in Anlehnung an Goffmans Arbeiten zur Interaktionsordnung identifiziert wurden (vgl. Goffman
1974,
1991,
2001); damit wird kein Anspruch auf die Vollständigkeit der Basiselemente erhoben:
1.
Anwesenheit als Voraussetzung für Interaktionsarbeit
2.
Interaktionsarbeit als Kern- oder relevante Nebenaufgabe
3.
Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Interaktionsarbeit
4.
Räume der Interaktionsarbeit
5.
Dauer, Intensität und Beziehungsqualität der Interaktionsarbeit
6.
Kernmerkmale der Dienstleistungsinteraktion
7.
Vorgaben interaktiver Dienstleistungsarbeit und Interaktionsspielraum
8.
Grenzregulation bei interaktiver Dienstleistungsarbeit
9.
Eingriffstiefe von Technik in interaktive Dienstleistungsarbeit
Die ersten vier Basiselemente beziehen sich auf Merkmale, die allen Interaktionsordnungen der Dienstleistungsarbeit gemeinsam sind. Der gemeinsame Fluchtpunkt des fünften und des sechsten Elements bildet die Perspektive der Beziehungsqualität interaktiver Dienstleistungsarbeit. Arbeitsorganisatorische bzw. technische Aspekte der Gestaltung von Interaktionsordnungen bilden das gemeinsame Band der übrigen drei Basiselemente.
2.1 Anwesenheit als Voraussetzung für Interaktionsarbeit
Nach Goffman (
2001, S. 55) ist die räumlich-zeitliche physische Kopräsenz von Menschen ein konstitutives Merkmal für soziale Interaktionen in Interaktionsordnungen. Die direkte, gemeinsame physische Anwesenheit von Dienstleistenden und Dienstleistungsnehmenden kennzeichnet insbesondere die Interaktionsarbeit in personenbezogenen Dienstleistungen. Sie ist zu unterscheiden von mediatisierter, d. h. technisch vermittelter Interaktionsarbeit, wie bei Call-Center-Dienstleistungen. An die Stelle gemeinsamer körperlicher Anwesenheit tritt hier die technisch vermittelte Anwesenheit (im digitalen Raum).
Interaktionsarbeit auf der Basis gemeinsamer physischer Anwesenheit ist gekennzeichnet durch die Gleichzeitigkeit und Gleichörtlichkeit der Beteiligten (vgl. Heintz
2014, S. 236), wodurch die Interaktionsteilnehmenden unmittelbar aufeinander reagieren können (Tratschin
2020, S. 117 f.). Gleichörtlichkeit verweist darauf, dass Anwesenheit in einen gemeinsamen Wahrnehmungsraum eingebunden ist, der zwei Dimensionen aufweist: Die Beteiligten halten sich in einem gemeinsamen Raum auf, der in der Regel „für alle gleichermaßen hörbar, greifbar und sichtbar ist“ (Heintz
2014, S. 238). Diese gemeinsame Außenwelt vermittelt Informationen über die soziale Situation, in der sich die Teilnehmenden befinden. So handelt es sich bei der stationären Langzeitpflege um Wohneinheiten als gemeinsamer Raum, in dem Pflegekräfte und pflegebedürftige Menschen interagieren. Der gemeinsame Wahrnehmungsraum umfasst zudem die sinnliche Wahrnehmung des jeweiligen Gegenübers, d. h. die „sinnliche Ko-Präsenz der Körper in einer ihnen gemeinsamen Außenwelt“ (Heintz
2014, S. 237).
Die gemeinsame, technisch vermittelte Anwesenheit bei Interaktionsarbeit basiert auf dem Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien, wie Messengerdienste, Telefonie oder Videokonferenzsysteme, die sich hinsichtlich ihrer Zeitstruktur, d. h. synchroner oder asynchroner mediatisierter Kommunikation, und der „sensorischen Komplexität des gemeinsamen Wahrnehmungsraumes“ (Heintz
2014, S. 236), z. B. textbasierte oder bildvermittelte Kommunikation, unterscheiden. Die technisch vermittelte Ko-Temporalität ermöglicht mediatisierte Interaktionsarbeit, bei der – im Falle der Videotelefonie – eine zeitlich unverzögerte Reaktion auf andere Dienstleistungsteilnehmende möglich ist. Bei mediatisierter Präsenz werden Gleichzeitigkeit und Gleichörtlichkeit weitgehend voneinander entkoppelt (vgl. Houben
2017). Dies bedeutet, dass die technisch vermittelte Interaktion unter Anwesenden hier nicht in einem umfänglichen gemeinsamen Wahrnehmungsraum der Beteiligten erfolgt. Die Teilnehmenden können sich selbst bei IuK-Technologien, die der face-to-face-Interaktion nahekommen (z. B. Videokonferenzsysteme), nur audiovisuell und ausschnitthaft wechselseitig wahrnehmen, sodass eine komplexe sinnliche Erfahrung und ganzheitliche Wahrnehmung des Gegenübers nicht möglich ist (vgl. Tratschin
2020; Heintz
2014).
Direkte und technisch vermittelte Interaktionsarbeit können in Interaktionsordnungen der Dienstleistungsarbeit in Mischungsverhältnissen auftreten und sich wechselseitig ergänzen. Je nach Interaktionsanlass und -situation kann es angebracht sein, technisch vermittelte Interaktionsarbeit durch direkten kopräsenten Austausch zu komplementieren. Beispiele bilden soziale Situationen, in denen es darum geht, zwischen den Beteiligten Vertrauen aufzubauen, oder Kooperationskonflikte zu klären (vgl. Heintz
2014).
2.2 Interaktionsarbeit als Kernaufgabe oder relevante Nebenaufgabe
Nicht nur bei personenbezogenen Dienstleistungen (z. B. in der Alten- und Krankenpflege), sondern auch bei administrativen und sachbezogenen Dienstleistungen (z. B. IT-Entwicklung) werden an Schnittstellen zu Kund:innen Anforderungen an die Interaktionsarbeit von Beschäftigten gestellt (vgl. Böhle und Weihrich
2020). Für die Differenzierung von Interaktionsordnungen der Dienstleistungsarbeit ist relevant, ob Interaktionsarbeit als Kernaufgabe oder als für den Dienstleistungsprozess relevante Nebenaufgabe ausgeübt wird. Eine Kernaufgabe bildet die Interaktionsarbeit überall dort, wo Arbeit primär mit und am Arbeitsgegenstand Mensch geleistet wird, insbesondere bei personenbezogenen Dienstleistungen. Die zu leistende Interaktionsarbeit bildet hierbei eine unverzichtbare Grundlage für die Ausübung instrumenteller Arbeitstätigkeiten, ja sie ist eng mit diesen verwoben, z. B. bei pflegebezogenen Verrichtungen in der stationären Langzeitpflege (vgl. Zenz und Becke
2020).
Interaktionsarbeit erweist sich hingegen als eine relevante Nebenaufgabe bei Dienstleistungstätigkeiten, die sich primär auf materielle bzw. immaterielle Arbeitsgegenstände richten, allerdings an relevanten Schnittstellen Arbeit mit Menschen erfordert, wie beim Verkauf von Gütern im Einzelhandel. In beiden Fällen kann die Interaktionsarbeit als Einzelarbeit oder im Rahmen von Arbeitsgruppen bzw. Teams erfolgen (vgl. Hacker
2009, S. 18).
2.3 Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Interaktionsarbeit
In vielen Dienstleistungsberufen bildet Interaktionsarbeit einen zentralen Referenzpunkt der beruflichen Identität von Beschäftigten, wie das mit Pflegeberufen verbundene Ethos fürsorglicher Praxis (vgl. Senghaas-Knobloch
2008). Die berufliche Identität von Dienstleistenden kann Schaden nehmen, wenn sie ihre berufsethisch geprägten Sinnansprüche an Interaktionsarbeit in Arbeitsprozessen und -strukturen nicht hinreichend realisieren können bzw. Interaktionsarbeit als relevanter Referenzpunkt ihrer Arbeitsidentität nicht anerkannt wird. Die Missachtung oder Nicht-Anerkennung von Interaktionsarbeit erweist sich als besonders problematisch, wenn Interaktionsarbeit als unsichtbare Arbeit geleistet wird.
Freilich entzieht sich Interaktionsarbeit zu einem gewissen Grad der öffentlichen Sichtbarkeit (vgl. Zenz und Becke
2020). Dies gilt vor allem für die intrapsychische Emotionsarbeit von Dienstleistenden, die sich weder von außen beobachten noch objektivieren lässt. Bei anderen Elementen der Interaktionsarbeit ist ein höheres Maß an Sichtbarkeit vorhanden, da sie anhand von Sprache und non-verbalem Ausdruck, wie Mimik und Gestik, der empirischen Beobachtung zugänglich sind. Für die Frage der Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit von Interaktionsarbeit ist allerdings von entscheidender Bedeutung, ob und inwiefern sie in Dienstleistungsorganisationen und aufseiten der Dienstleistungsnehmenden überhaupt als Arbeit(sleistung) anerkannt wird. Die Beantwortung dieser Frage ist eng verwoben mit sozialen Definitionsverhältnissen von Arbeit, die Herrschaftsverhältnisse reflektieren – in Unternehmen, Branchen und in der Gesellschaft. Je nach sozialem Kontext kann Arbeit so oder anders definiert werden (vgl. Leigh Star und Strauss
1999, S. 12 ff.). Die Definition von Arbeit inklusive der Indikatoren, anhand derer Arbeit näher bestimmt wird, entscheidet über ihre Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit (Leigh Star und Strauss
1999, S. 12). Unter unsichtbarer (interaktiver) Arbeit soll hier diejenige Arbeit oder Interaktionsarbeit verstanden werden, „deren Resultate nicht identifizierbar sind und deren Ausführung nicht erkennbar und auch nicht als wichtig darstellbar ist“ (Voswinkel und Korzekwa
2005, S. 290).
Leigh Star und Strauss (
1999, S. 15 ff.) diskutieren drei soziale Praktiken, die zur Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Arbeit beitragen: Die erste Praktik besteht – im Anschluss an Goffman (
1991, S. 138 ff.) – darin, die Sonderrolle der Unperson (non-person) zu schaffen. Hierbei sind das Arbeitshandeln oder dessen Ergebnis zwar sichtbar, aber die Arbeitsperson ist in sozialer Hinsicht unsichtbar. Klassische Beispiele hierfür sind Dienstbot:innen, die in privaten Haushalten von Arbeitgebenden tätig sind bzw. dort auch leben (vgl. Coser
2015). Die Herstellung von Unsichtbarkeit als soziale Nicht-Anwesenheit ist eine soziale Leistung, die durch Arbeitgebende und Beschäftigte erbracht wird: Arbeitgebende verhalten sich im Beisein der Dienstbot:innen so, als wären diese gar nicht anwesend. Letztere tragen selbst dazu bei, indem sie vorwiegend auf der Hinterbühne agieren bzw. im Beisein der Arbeitgebenden ihrer Arbeit möglichst zurückhaltend und unauffällig nachgehen (Coser
2015). Mitunter kann das Arbeitsethos der Dienstleistenden auch enthalten, in der Arbeit sozial unsichtbar zu bleiben. Die soziale Unsichtbarkeit der Dienstleistenden geht oft einher mit einem Mikromanagement der Arbeitgebenden, bei dem sie das Arbeitshandeln der Dienstleistenden überwachen und versuchen, die zeitliche Verfügbarkeit über die Arbeitskraft der Dienstleistenden auszuschöpfen bzw. zu erweitern (Leigh Star und Strauss
1999, S. 16).
Die zweite soziale Praktik („Abstracting and manipulation of indicators“) richtet sich auf die Objektivierung von Arbeit auf Basis beobachtbarer und messbarer Indikatoren, die nicht in der Lage sind, die Komplexität des Arbeitshandeln und der Arbeitssituationen abzubilden, aber die Basis für Managemententscheidungen und Ressourcenallokation bilden (Leigh Star und Strauss
1999, S. 15 f.). Arbeitstätigkeiten, die sich der Quantifizierung entziehen, werden nicht in die Personalbemessung sowie in die Arbeits- und Leistungsbewertung einbezogen und erfahren daher keine materielle und oft auch unzureichende symbolische Anerkennung, wie in der stark ökonomisierten Alten- und Krankenpflege (vgl. Kumbruck und Senghaas-Knobloch
2015; Zenz und Becke
2020). Die dritte soziale Praktik bezeichnen Leigh Star und Strauss (
1999, S. 15) als „disembedding background work“. Diese Praktik geht von Dienstleistenden aus, die auf eine Anerkennung ihrer unsichtbaren Arbeitsleistungen drängen, um Ansprüche an die Legitimierung ihrer unsichtbaren Arbeit als Arbeit und der Professionalisierung ihrer Arbeit geltend zu machen (Leigh Star und Strauss
1999, S. 20).
Die Herstellung von Sichtbarkeit bildet eine Basis für die Anerkennung von Interaktionsarbeit. Sichtbarkeit im Sinne von Transparenz kann im betrieblichen Interesse jedoch primär angestrebt werden, um Arbeitsprozesse und Mitarbeitende – technisch vermittelt bzw. digital – zu überwachen (vgl. Zuboff
2019). Aus der Perspektive von Beschäftigten wird Sichtbarkeit problematisiert, wenn dadurch ihre Arbeitsleistung umfassend kontrolliert bzw. ihre Tätigkeitsspielräume eingeschränkt werden. Dies gilt u. a. für Freiheitsgrade in der Interaktionsarbeit, Diskretion und Vertraulichkeit zu wahren (z. B. in Prozessen der Sterbebegleitung durch Pflegekräfte) (vgl. Leigh Star und Strauss
1999, S. 21).
2.4 Räume der Interaktionsarbeit
Interaktionsarbeit wird an sehr unterschiedlichen Orten geleistet, wie in Krankenhäusern, in Fahr- oder Flugzeugen, in Privathaushalten von Kund:innen oder aber in virtuellen Räumen. Gleichwohl wird die räumliche Dimension der Interaktionsarbeit bisher in der Arbeitsforschung – von Ausnahmen abgesehen (siehe Voswinkel und Korzekwa
2005, 297 f.) – oft vernachlässigt. Rekurriert wird zumeist noch auf die räumliche Unterscheidung von Front-Line-Work und Arbeiten im Back Office (vgl. Böhle
2006; Frenkel et al.
1999), die an Goffmans Unterscheidung von Vorder- und Hinterbühne des Alltagshandelns anschließt (Goffman
1991).
Das Konzept der Interaktionsordnung verleiht der räumlichen Dimension interaktiver Dienstleistungsarbeit mehr Aufmerksamkeit. Hierfür ist vor allem eine stärker raumsoziologische Fundierung der Interaktionsarbeit hilfreich: Goffmans Konzept der Interaktionsordnung weist eine größere inhaltliche Nähe zur neueren Raumsoziologie auf, die von einem relationalen Raumverständnis ausgeht. Raum wird hier verstanden als „eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten“ (Löw
2017, S. 271). Die relationale Perspektive betont, dass Räume durch soziales Handeln hervorgebracht und verändert werden können. Hierfür sind Synthese- und Platzierungsleistungen bedeutsam: Prozesse der raumbezogenen Wahrnehmung und Interpretation und damit verbundene Raumbilder sind demnach eng verwoben mit der Platzierung „… jener Güter und Menschen an Orten in Relation zu anderen Gütern und Menschen“ (Löw
2017, S. 263). Goffmans Konzept schließt insofern an diese relationale Perspektive an, als es die soziale Wahrnehmung räumlicher Strukturen in Interaktionsordnungen hervorhebt und zugleich Prozesse der Auseinandersetzung um „Territorien des Selbst“ bzw. deren Aneignung, Grenzverletzung und -verschiebung in den Blick nimmt (Goffman
1974, S. 54 ff.). Demnach werden in Interaktionsprozessen soziale Orte hinterfragt, die in der Interaktion und in der Sozialstruktur von Interaktionsbeteiligten besetzt werden (Frehse
2016, S. 12). So geht Goffman (
1974, S. 55) davon aus, dass einige Teilnehmende in sozialen Interaktionssituationen territoriale Ansprüche auf ein Reservat erheben, das sich auf ihr Anrecht, ein Gut oder ein Reservat zu besitzen, bzw. zu kontrollieren und zu verfügen, gründet. Andere Teilnehmende können dieses Anrecht bezweifeln und Gegenansprüche reklamieren, die den Anspruchserhebenden herausfordern oder bedrohen (Goffman
1974, S. 55). In Anlehnung an Goffman lässt sich untersuchen, inwiefern durch Interaktionsarbeit räumliche Strukturen (mit)konstituiert und verändert werden und welche Folgen dies für die Qualität der Dienstleistung, die Arbeitsqualität und die Beziehungsqualität zwischen Dienstleistenden und Dienstleistungsnehmenden hat.
Auf einen wichtigen raumbezogenen Aspekt für die interaktive Dienstleistungsarbeit weisen Voswinkel und Korzekwa (
2005, S. 298) hin, wenn sie hervorheben, dass Kund:innen und Beschäftigte den gemeinsamen Interaktionsraum unterschiedlich wahrnehmen und definieren können: als öffentlichen Raum aus Kund:innensicht und als (halböffentlichen) Raum der erwerbsbezogenen oder betrieblichen Lebenswelt aus der Perspektive der Dienstleistenden. Je nach Raumdefinition können die Beteiligten in der Dienstleistungsinteraktion der Geltung von Anstands- und Höflichkeitsregeln einen unterschiedlichen Stellenwert beimessen (Voswinkel und Korzekwa
2005, S. 298). Aus differenten Raumdefinitionen können Konflikte in der Interaktionsarbeit resultieren.
Goffman nimmt Raum als „konditionierendes Medium“ (Frehse
2016, S. 13) in den Blick, welches das Verhalten von Menschen in sozialen Interaktionen beeinflussen kann. So können sozial konstituierte räumliche Strukturen und Arrangements Interaktionsarbeit restringieren oder erleichtern: „Mit anderen Worten: Raum prägt unser Verhalten und drückt ihm seinen Stempel auf. Räume helfen zu entscheiden, in welcher Situation wir uns befinden. Sie strukturieren vor, welche Erwartungen wir haben können, sie strukturieren Interaktionsabläufe, machen einige wahrscheinlich, andere unwahrscheinlich“ (Schroer
2006, S. 176). So ist es Beschäftigten in Altenpflegeeinrichtungen oft kaum möglich, Abstand von emotional besonders belastenden Arbeitssituationen zu gewinnen, wenn es dort u. a. an Rückzugsräumen mangelt (Zenz und Becke
2020).
Die sozial hervorgebrachte Veränderung räumlicher Strukturen kann sich direkt auf Interaktionsordnungen der Dienstleistungsarbeit auswirken. Deutlich wurde dies während der Coronapandemie, die einer Refiguration von Räumen Vorschub leistete, die durch zwei spannungsreiche Raumlogiken geprägt ist (vgl. Löw und Knoblauch
2020): Die politischen Maßnahmen zur Eindämmung des COVID-19-Infektionsriskos orientieren sich an der räumlichen
Logik territorialer Schließung, wie sie in Maßnahmen des ,social distancing‘, der Quarantäne infizierter Personen oder des Lockdowns volkswirtschaftlicher Bereiche zum Ausdruck kommt. Diese Logik erstreckt sich auch auf Betriebe und private Haushalte. Die
Netzwerklogik als zweite räumliche Logik ist durch „the densification of digital networking processes and a massive opening up of communication channels fulfilling new functions in the crisis“ (Löw und Knoblauch
2020, S. 222) charakterisiert. Sie manifestiert sich in der Ausweitung digitaler Arbeitszusammenhänge aufgrund der krisenbedingten Verlagerung von Arbeit ins Homeoffice von Beschäftigten. Mit Blick auf Dienstleistungsinteraktionen bedeutet dies, dass physisch kopräsente Interaktionsarbeit – soweit dies möglich erscheint – zum Zwecke des Infektionsschutzes durch mediatisierte Interaktionsarbeit substituiert wird.
2.5 Dauer, Intensität und Beziehungsqualität der Interaktionsarbeit
Ob und inwiefern sich zwischen Dienstleistenden und Dienstleistungsnehmenden in der Interaktionsarbeit eine vertrauensvolle Beziehung herausbilden kann oder es bei einem flüchtigen Kontakt bleibt, hängt u. a. vom Grad der Standardisierung der Dienstleistung und ihrer Erstellung ab. Dienstleistungsprozesse lassen sich in unterschiedlichem Ausmaß standardisieren. Grenzen der Standardisierung liegen in den spezifischen Aufgabenanforderungen interaktiver Dienstleistungsarbeit. Je komplexer und kundenspezifischer die Tätigkeitsanforderungen sind, desto weniger ist es möglich, Dienstleistungsprozesse zu standardisieren (vgl. Mills und Margulies
1980). Der Grad der Standardisierung reflektiert allerdings auch das jeweilige Verständnis der Kund:innenorientierung von Dienstleistungsorganisationen (vgl. Voswinkel und Korzekwa
2005). Unternehmen, die beabsichtigen, ihre Dienstleistungsprozesse möglichst effizient zu gestalten, indem sie diese regelorientiert standardisieren und routinisieren, begrenzen die Autonomie- und Interaktionsspielräume von Beschäftigten im Umgang mit Dienstleistungsnehmenden (vgl. Mills und Margulies
1980, S. 261).
Ein systematisierender Zugang zur sozialen Qualität interaktiver Dienstleistungsarbeit geht auf Barbara Gutek (
1999) zurück, die Begegnungen, Pseudobeziehungen und soziale Beziehungen zwischen Dienstleistenden und Dienstleistungsnehmenden unterscheidet. Die ersten beiden Formate kennzeichnet ein relativ hohes Maß an standardisierter und routinisierter Dienstleistungsarbeit. Bei Dienstleistungsbegegnungen (encounters) handelt es sich um flüchtige Begegnungen zwischen Fremden, die nicht davon ausgehen, auch zukünftig miteinander zu interagieren (Gutek
1999, S. 605). Ein Beispiel hierfür sind Begegnungen zwischen Kassierer:innen und Kund:innen in Supermärkten.
Encounters basieren auf der prinzipiellen Austauschbarkeit der Dienstleistenden, da die standardisierte Dienstleistung in gleicher Qualität von anderen (geschulten) Beschäftigten erbracht werden kann. Das zweite Format, die
Pseudobeziehungen, zielt darauf ab, eine Beziehung zwischen Kund:innen und der Dienstleistungsorganisation aufzubauen. Die angestrebte Vertrautheit und Identifikation der Kund:innen ist hier auf die Organisation, ihre Marken, Regeln und Verfahren gerichtet. Kundenbezogene Informationen werden so aufbereitet und verarbeitet, dass sie potenziell allen Dienstleistenden der Organisation zur Verfügung stehen. Pseudobeziehungen schließen eine wiederholte Dienstleistungsinteraktion zwischen Kund:innen und konkreten Beschäftigten weitgehend aus (Gutek
1999, S. 606). Unternehmen, die Pseudobeziehungen zu Kund:innen favorisieren, verfolgen oft eine bürokratische Kundenorientierung, die auf eine starke Routinisierung und Standardisierung der Interaktionsarbeit setzt, und bei der Beschwerden und Sonderwünsche von Kund:innen durch Funktionsstellen bearbeitet werden (vgl. Voswinkel und Korzekwa
2005; Gutek
1999).
Hingegen ist der dritte Typus, die
Dienstleistungsbeziehung, durch häufigere Interaktionskontakte, direktes Feedback und einen relativ kontinuierlichen Austausch zwischen Kund:innen und Dienstleistenden geprägt, der eine wechselseitige Identifikation, den Aufbau gemeinsam geteilten Wissens – z. B. um Kund:innen und ihre Belange auf der einen Seite und um die Arbeitsbedingungen der Dienstleistenden auf der anderen Seite – und sozialen Vertrauens ermöglicht (Gutek
1999, S. 609 f.). An die Stelle der Fremdheit der flüchtigen Begegnung treten konkrete interpersonale Interaktionsbeziehungen auf der Basis von Bekanntschaft (Goffman
2001, S. 91 f.) Beide Seiten orientieren sich an einer Fortsetzung der Dienstleistungsbeziehung. Komplexe aufgabenbezogene Problemlösungs- und Beratungsprozesse oder soziale Dienstleistungen, insbesondere für vulnerable bzw. gesundheitlich beeinträchtigte Zielgruppen, begünstigen eine längere Kontinuität und auch Intensität der Dienstleistungsbeziehung (vgl. Mills und Margulies
1980).
Der Typus der Dienstleistungsbeziehung ist zumindest um eine Variante zu ergänzen, die eher durch gelegentliche Kooperationsanlässe strukturiert ist, aber gleichwohl durch ein hohes Maß an zeitlicher Dauerhaftigkeit geprägt sein kann, wie Dienstleistungsbeziehungen zwischen Versicherungsmakler:innen und ihren langjährigen Kund:innen. Solche wiederkehrenden, diskontinuierlichen Begegnungen ermöglichen über längere Zeit eine Vertrauensentwicklung zwischen den Beteiligten. Sie setzen voraus, dass die Beratungsqualität den Erwartungen der Dienstleistungsnehmenden wiederholt entspricht.
Dienstleistungsbeziehungen können durch soziale Asymmetrie bzw. Machtungleichgewichte zwischen den Beteiligten geprägt sein. Böhle (
2006, S. 330 ff.) bezeichnet solche Dienstleistungsbeziehungen als Dispositionsbeziehungen, die unterschiedliche Erscheinungsformen und Quellen sozialer Über- und Unterordnung aufweisen können. So kann – wie im Falle der Versicherungsmakler:innen – die übergeordnete Position der Dienstleistenden begründet sein durch Expert:innenwissen, auf das Klient:innen angewiesen sind, um ein Problem zu lösen. Eine weitere Quelle für hierarchisch geprägte Dienstleistungsbeziehungen bildet die soziale Angewiesenheit von Personen auf sozialstaatliche Hilfen und Unterstützung, z. B. im Rahmen der Sozialhilfe und der Vermittlungsarbeit für Arbeitslose durch Mitarbeitende der Arbeitsagentur. Hier liegt das Dispositions- und Direktionsrecht über die Erbringung der Dienstleistung bei den Dienstleistenden.
Eine dritte Quelle asymmetrischer Dienstleistungsbeziehungen besteht in der psycho-physischen Vulnerabilität von Menschen. Im Verlaufe ihres Lebens können Menschen in Situationen geraten, in denen sie mehr oder weniger stark auf gesundheitsbezogene Hilfen, Unterstützung und Behandlung angewiesen sind. Dies gilt vor allem für Lebensphasen zu Beginn und am Ende des Lebenswegs, die durch ein hohes Maß an existenzieller Angewiesenheit auf lebensnotwendige Sorgetätigkeiten durch (professionelle) Dienstleistende geprägt sind (Senghaas-Knobloch und Kumbruck
2008, S. 15 ff.), etwa in der Palliativpflege. In asymmetrischen Dispositionsbeziehungen orientiert sich die Interaktionsarbeit der Dienstleistenden oft daran, deren hierarchischen bzw. asymmetrischen Charakter zurückzunehmen oder abzuschwächen, um die Kooperationsbereitschaft der Dienstleistungsnehmenden zu gewinnen oder zu erhalten (Böhle et al.
2015a, S. 42 f.). Die Art und Weise, wie dies geschieht, kann nach den Quellen sozialer Asymmetrie und spezifischen Kontexten der Dienstleistungsbeziehungen variieren.
Davon zu unterscheiden sind Dispositionsbeziehungen, in denen Dienstleistende den Dienstleistungsnehmenden untergeordnet sind, z. B. im Falle von Haushaltshilfen. Hierbei werden Dienstleistende durch Dienstleistungsnehmende kontrolliert. Zudem wird von ihnen erwartet, den Anweisungen der Empfänger:innen Folge zu leisten. Der Zugriff auf die Arbeitskraft der Dienstleistenden ist in der Dispositionsbeziehung begrenzt auf die vertraglich vereinbarte Dienstleistungserbringung und damit auf ein bestimmtes Dienstleistungsergebnis.
2.6 Kernmerkmale der Dienstleistungsinteraktion
Kern et al. (
2021) haben in ihrer Studie zur Analyse des Zusammenhangs zwischen Emotionsarbeit und dem Wohlbefinden von Dienstleistenden vier Typen oder Kernmerkmale der Dienstleistungsinteraktion (in Bezug auf die Emotionsregulation von Dienstleistenden) identifiziert (Kern et al.
2021, S. 4 ff.): die Komplexität der Dienstleistungsinteraktion, ihre kundenspezifische Gestaltung, die Nicht-Ersetzbarkeit der Dienstleistenden und die Identifikation mit Kund:innen. Diese Kernmerkmale implizieren mit Blick auf Begegnungen, Pseudobeziehungen und Dienstleistungsbeziehungen unterschiedliche Ausprägungen. Unter den drei Idealtypen der Beziehungsqualität interaktiver Dienstleistungsarbeit bildet die Dienstleistungsbeziehung jenen Typus, der die höchsten sozio-emotionalen Anforderungen an die Interaktionsarbeit der Beschäftigten stellt.
Das Kernmerkmal der Interaktionskomplexität bezeichnet „the extent to which the solution of customer demands requires complex information and decision processes“ (Kern et. al.
2021, S. 4). Die Interaktionskomplexität unterscheidet sich in ihrer Ausprägung nach Berufsgruppen. Beschäftigte aus Berufsgruppen mit hoher Interaktionskomplexität verfügen über relativ große arbeitsbezogene Dispositionsspielräume zur Gestaltung der Interaktionsbeziehungen mit Kund:innen. Ihre Interaktionsarbeit erfordert ein hohes Maß an professioneller Kompetenz, da das Erkennen, Definieren und Strukturieren von Kund:innennproblemen sowie die Entwicklung angemessener Lösungsstrategien Interaktionsarbeit mit Kund:innen erfordert. Bei Berufsgruppen, deren Dienstleistungsinteraktion durch eine geringe Interaktionskomplexität geprägt ist, werden oft nur einfach strukturierte Informationen mit Kund:innen ausgetauscht, sodass die Arbeitsinteraktion eher oberflächlich bleibt. Mit Blick auf die drei Typen der Beziehungsqualität ist die Interaktionskomplexität bei flüchtigen Dienstleistungsbegegnungen gering ausgeprägt, während sie ihre höchste Ausprägung in Dienstleistungsbeziehungen erfährt.
Die kundenspezifische Gestaltung der Dienstleistungsinteraktion (customization of service interactions) bezieht sich auf das Ausmaß, in dem es erforderlich ist, die Dienstleistungsarbeit kundenindividuell anzupassen. Bei einem hohen Grad an kundenspezifischer Dienstleistungsinteraktion wird von Beschäftigten erwartet, ein breiteres Spektrum an Arbeitsemotionen – inklusive negativer Gefühle – in der Interaktionsarbeit auszudrücken (Kern et al.
2021). Beschäftigte, deren Interaktionsarbeit kaum kundenspezifisch ausgerichtet ist, orientieren sich eher an standardisierten Vorgaben und Skripten im Umgang mit Kund:innen, wobei primär der Ausdruck positiver Emotionen erwünscht wird. Dies ist bei Begegnungen und Pseudobeziehungen eher der Fall als bei Dienstleistungsbeziehungen, deren Entwicklung durch Bedarfe der kundenspezifischen Gestaltung der Dienstleistungsinteraktion gefördert wird.
Der dritte Typus von Dienstleistungsinteraktionen erstreckt sich auf die Nicht-Ersetzbarkeit von Dienstleistenden (Non-substitutability of servic providers). Diese bezeichnet „to what extent a service encounter is bound to a certain employee“ (Kern et. al.
2021, S. 4). Wenn Beschäftigte über relevante kundenspezifische Hintergrundinformationen, eine Kenntnis der Historie des Kund:innenproblems verfügen bzw. es für die Erbringung der Dienstleistung erforderlich ist, eine vertrauensbasierte und langfriste Interaktionsbeziehung zu Kund:innen aufzubauen, sind spezifische dienstleistende Personen erfolgskritisch für die Dienstleistungsinteraktion. Dieses Hintergrund- oder Orientierungswissen um Dienstleistungsnehmende ist bei flüchtigen Dienstleistungsbegegnungen kaum bedeutsam. Im Rahmen von Pseudobeziehungen erhält es Relevanz im Sinne generalisierter und objektivierbarer Informationen über spezifische Gruppen von Dienstleistungsnehmenden (z. B. ältere und jüngere, männliche und weibliche Kund:innen), die erhoben, analysiert und verwendet werden, um Dienstleistungsnehmende an eine konkrete Dienstleistungsorganisation zu binden. Überall dort, wo die Gestaltung von Dienstleistungsinteraktionen ein spezifisches Hintergrund- und Orientierungswissen über Dienstleistungsnehmende, deren konkrete Bedarfe und Bedürfnisse und eventuell auch ihrer näheren Lebensumstände voraussetzt, geraten Dienstleistungsbegegnungen und Pseudobeziehungen an ihre Grenzen. Hier wird der Aufbau von an Langfristigkeit und auf Vertrauensentwicklung orientierten Dienstleistungsbeziehungen angestrebt. Sie sind zumindest an die wechselseitige Bekanntschaft und den fortgesetzten interpersonalen Austausch zwischen Dienstleistenden und Dienstleistungsnehmenden gebunden. Die Person des Dienstleistenden ist hierbei oft ein kritischer Erfolgsfaktor für die erlebte Dienstleistungsqualität der Dienstleistungsnehmenden. Sie zu ersetzen, würde bedeuten, die Dienstleistungsbeziehung in Frage zu stellen und birgt das Risiko einer Abwanderung der Dienstleistungsnehmenden.
Das Kernmerkmal der Identifikation mit Kund:innen wird definiert als „the extend to which service employees are required to take a customer’s perspective and identify with customer needs“ (Kern et. al.
2021). Die Möglichkeit zur Identifikation mit Kund:innen eröffnet sich bei Dienstleistungsbeziehungen im höheren Maße als bei flüchtigen Dienstleistungsbegegnungen und Pseudobeziehungen.
2.7 Vorgaben interaktiver Dienstleistungsarbeit und Interaktionsspielraum
Dienstleistende sind in ihrem Arbeitshandeln oft damit konfrontiert, Vorgaben, d. h. explizite bzw. implizite Regeln und Normen, zur Interaktionsarbeit zu beachten. Hierbei kann es sich um generalisierte, d. h. kulturell geprägte soziale Verhaltenserwartungen handeln, an denen sich Dienstleistende in der Interaktionsarbeit orientieren (vgl. Goffman
2001), wie das Einhalten von Konventionen der Höflichkeit und des Respekts. Vorgaben können sich überdies in berufsethischen Normen und Vorstellungen oder in impliziten wie expliziten Verhaltenserwartungen von Dienstleistungsorganisationen zur Regulierung der Interaktionsarbeit von Beschäftigten widerspiegeln. Organisatorische Verhaltenserwartungen bzw. Regeln richten sich oft auf die Emotionsarbeit, d. h. die Emotionsregulation und Gefühlsdarstellung, sowie auf die Gefühlsarbeit (vgl. Hochschild
1979; Strauss et al.
1980). Überdies beziehen sich normative Verhaltenserwartungen auch auf die betrieblich erwartete Kund:innenorientierung der Mitarbeitenden. Hierbei wird „das soziale Leistungsergebnis durch die Orientierung am Gebrauchswert des Kunden definiert“ (Voswinkel und Korzekwa
2005, S. 31). Organisationen können Verhaltensstandards der Interaktionsarbeit Nachdruck verleihen, wenn sie ihre Verletzung oder Nichtbeachtung durch Beschäftigte mit Sanktionen belegen (vgl. Strauss et al.
1980). Auch Dienstleistungsnehmende können die Interaktionsarbeit von Dienstleistenden sanktionieren, wenn diese aus Sicht der Erstgenannten nicht normativen sozialen Erwartungen an Freundlichkeit, Respekt und Höflichkeit entspricht. Dies ist z. B. der Fall wenn Kund:innen in der Gastronomie Servicekräften Trinkgeld vorenthalten, da sie sich nicht respektvoll behandelt fühlten.
Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal von Interaktionsordnungen der Dienstleistungsarbeit besteht in den (betrieblich gewährten) Freiheitsgraden der Dienstleistenden zur Ausübung von Interaktionsarbeit. Sie verweisen auf eine bisher kaum beachtete wie empirisch untersuchte Dimension arbeitsbezogener Dispositions- und Entscheidungsspielräume: den Interaktionsspielraum. Dieser wird nach Dormann et al. (
2002, S. 203) verstanden als „eine spezielle Art der Kontrolle darauf, wie sehr eine Person die soziale Interaktion, die der Emotionsarbeit zugrunde liegt, beeinflussen kann“. Hier wird das Konzept des Interaktionsspielraums fokussiert auf die Regulation von Emotionsarbeit. Es lässt sich meines Erachtens aber auch weiter fassen im Sinne des Kontroll- und Entscheidungsspielraums dienstleistender Personen, die Interaktionsarbeit selbsttätig zu gestalten. Der Interaktionsspielraum umfasst demnach die Freiheitsgrade der Dienstleistenden zur Gestaltung von Interaktionsarbeit – und zwar in Bezug auf:
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die zeitliche Dimension: Dauer sowie Beginn und Ende der Dienstleistungsinteraktion
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die Möglichkeit eines situativ angemessenen Umgangs mit betrieblichen Verhaltenserwartungen an die Interaktionsarbeit, ohne Sanktionen befürchten zu müssen; dies impliziert Chancen zur Selbststeuerung der Gefühlsdarstellung (Nerdinger
2012, S. 14–16)
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Möglichkeiten, soziale Unterstützung – durch Führungskräfte oder Kolleg:innen – zu mobilisieren, um hohe Anforderungen an Interaktionsarbeit besser bewältigen zu können,
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Freiheitsgrade, die Zusammenarbeit mit spezifischen Dienstleistungsnehmenden unter bestimmten Bedingungen nicht eingehen bzw. fortsetzen zu müssen (z. B. bei der Diskriminierung von Dienstleistenden).
2.8 Grenzregulation bei interaktiver Dienstleistungsarbeit
In der Gestaltungsperspektive umweltoffener sozio-technischer Arbeitssysteme bezeichnet Grenzregulation „die Möglichkeit, die Prozesse im Arbeitssystem mit den Anforderungen aus der Systemumwelt abzustimmen“ (Schüpbach
2007, S. 38). Aufgaben der Grenzregulation beinhalten, die Organisation nach außen zu repräsentieren, Vernetzungen mit der Systemumwelt im Sinne der Organisation bzw. ihrer Primäraufgabe vorzunehmen und Probleme an der Schnittstelle zwischen Organisation und Umwelt zu klären (vgl. Grote et al.
2004). Eine Besonderheit interaktiver Dienstleistungsarbeit besteht darin, dass Beschäftigte mit Anforderungen an die Grenzregulation konfrontiert sind, da sie als Repräsentant:innen einer Dienstleistungsorganisation mit Kund:innen, Klient:innen oder Patient:innen interagieren, die in der sozialen Organisationsumwelt verortet sind.
Formen dezentraler Grenzregulation geraten oft an Grenzen, wenn Spannungen oder Konflikte zwischen Dienstleistenden und Dienstleistungsnehmenden so eskalieren, dass die Kooperationsbasis gefährdet ist bzw. sie hohe sozio-emotionale Arbeitsbelastungen induzieren. In Interaktionsordnungen der Dienstleistungsarbeit nehmen dann häufig Führungskräfte die Aufgabe der Grenzregulation wahr (vgl. Becke et al.
2015). Die Grenzregulation stellt hierbei besonders hohe Anforderungen an ihre triadische Kompetenz als Fähigkeit, „die in diesen Beziehungsdreiecken auftretenden Widersprüche und Konflikte auszuhalten und zu balancieren, ohne in eine Richtung zu vereinfachen oder den Kontakt nach einer Seite hin abreißen zu lassen“ (Tietel
2006, S. 328). Die Grenzregulation durch Führungskräfte hat oft den Charakter einer sozialen Unterstützungsressource für Beschäftigte (vgl. Becke et al.
2015).
2.9 Eingriffstiefe von Technik in interaktive Dienstleistungsarbeit
Dienstleistungsorganisationen sind aus betriebsökonomischen Gründen daran interessiert, Dienstleistungsarbeit zu rationalisieren, etwa durch Strategien der Standardisierung und Technisierung (vgl. Baethge
2011, S. 452). Ihre Technisierung mittels digitaler Technikanwendungen kann eine unterschiedliche Interventionstiefe in Dienstleistungsinteraktionen aufweisen (vgl. Hielscher
2020; Baethge
2011). Die Dienstleistungs- und die Arbeitsqualität werden insbesondere durch Technikanwendungen geprägt, die unmittelbar den Prozess der Dienstleistungsinteraktion beeinflussen. Technikanwendungen finden bei Beschäftigten eine positive Resonanz, wenn sie eine merkliche Entlastung im Arbeitsalltag ermöglichen (z. B. Dokumentationsaufgaben reduzieren helfen) und den Kern ihres Arbeitshandelns, also Ansprüche an eine gute Arbeits- und Dienstleistungsqualität und Arbeitsautonomie, nicht beeinträchtigen (vgl. Hielscher
2020, S. 43). Allerdings können digitale Technikanwendungen dazu beitragen, den Arbeitsprozess in zeitlicher und leistungsbezogener Hinsicht zu überwachen sowie die Reihenfolge und Ausführung von Arbeitsaufgaben vorzugeben. Neue Anforderungen an Vermittlungsarbeit entstehen, wenn digitale Techniken unmittelbar in Dienstleistungsinteraktionen einzubinden sind: Nun gilt es für Beschäftigte, in der Interaktionsarbeit mit den Dienstleistungsnehmenden die Technikanwendung zu begründen und zu erläutern, um Vorbehalte und Irritationen im Sinne kooperativer Aufgabenbearbeitung abzubauen bzw. zu vermeiden (vgl. Hielscher et al.
2015, S. 144 ff.; Hielscher
2020, S. 41).