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27.08.2013 | Vertriebskanäle | Interview | Online-Artikel

Interview: "Die wahren Category Killer sind digitale Händler"

verfasst von: Eva-Susanne Krah

9:30 Min. Lesedauer

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Der "E-Pace"-Faktor bestimmt mit über den Erfolg im Online-Vertrieb, sagt E-Commerce-Experte Professor Gerrit Heinemann. Im Interview mit Springer für Professionals erklärt er, worauf es für Unternehmen ankommt, damit digitale Geschäftsmodelle erfolgreich sind.

Springer für Professionals: Herr Professor Heinemann, Unternehmen mit digitalen Geschäftsmodellen müssen sich auf die veränderten Kundenanforderungen und auf schnelle Rhythmen im Online-Handel ausrichten. Warum ist dabei der „E-Pace“-Faktor, also das richtige Timing so wichtig, und was bedeutet es für den Vertrieb?

Gerrit Heinemann: Kunden erwarten Schnelligkeit, Zeitzuverlässigkeit und situationsgerechte Angebote. "Same Day Delivery" wurde letztes Jahr bereits als Standard gesetzt. Auch zuverlässige Zeitfensterbelieferungen für Kunden, die nicht „auf gut Glück“ zu Hause auf die Anlieferung der Produkte warten wollen, werden von den Kunden in Zukunft erwartet. Hinzu kommt der Kundenwunsch nach ständig neuen Angeboten und damit gesteigerter Kollektionsfrequenz. Der Begriff „Fast Fashion“ bringt diese Entwicklung in der Modebranche treffend auf den Punkt: Immer schneller werden neue Kollektionen entwickelt und geliefert. Das bedeutet für den Vertrieb, über innovative Geschäftsmodelle entsprechende Angebote bereitzustellen.

E-Pace bedeutet aber weit mehr als nur Schnelligkeit. Es geht auch um Zeitersparnis beim Einkauf durch Empfehlungen oder „tailormade“-Vorauswahlen, wie zum Beispiel beim "Curated Shoppping". Oder auch um kontextsensitive und situationsgerechte Angebote, die durch eine Lokalisierung des Kunden und seiner spezifischen Kaufsituation möglich und bereits in Location Based-Serviceangeboten erfolgreich umgesetzt werden.

In Ihrem aktuellen Buch „Digitalisierung des Handels mit ePace“ wird die These angeführt, dass es nach Ansicht von Experten (im Unterschied zum klassischen Vertriebsgeschäft) im Internet keinen „First Mover“-Vorteil gibt. Welche Aspekte zählen für Unternehmen mit digitalen Geschäftsmodellen alternativ?

Dieser Aspekt müsste etwas differenziert werden. Für dieselben und bereits erfolgreich getesteten innovativen Geschäftsmodelle in einem Markt – und das sind in der Regel die USA – gibt es durchaus in anderen Märkten immer noch „First-Mover“-Vorteile. Auch hier geht es um Schnelligkeit. "Ramp Ups" – also beschleunigte Auslandsexpansionen wie sie z. B. Unternehmen wie Zalando, Glossybox oder Rocket Internet verfolgen – zielen exakt darauf ab. Als Copycats – also von erfolgreichen US-Pionieren wie z. B. Zappos – abgeschaute und nachgeahmte Geschäftsmodelle handelt es sich dabei zwar um typische Follower, die aber in noch nicht besetzten Märkten zu „First-Movern" werden. Die von Zalando besetzten Auslandsmärkte dürften dabei nicht mehr interessant für den eigentlichen Pionier und ursprünglichen First-Mover, Zappos sein.  

Bei welchen strategischen Aspekten kommt der „E-Pace“-Faktor besonders zum Tragen, beispielsweise bei der Markteinführung von Produkten, im Kampagnenmanagement oder bei der Erschließung neuer Kundenzielgruppen?

Der E-Pace-Faktor ist nicht auf eine bestimmte Funktion oder eine spezifische Zielgruppe zu begrenzen, sondern betrifft die gesamte Supply-Chain und alle Märkte. Er führt sogar in ganzen Industrien zu disruptiven Strukturveränderungen, wie zum Beispiel derzeit im Verlagswesen. Die von Amazon getriebene Vertikalisierung, die sowohl Verlage als auch Buchhändler in ihren Grundfesten erschüttert, ist ein typisches Beispiel für eine derartige disruptive Marktveränderung. Oder das in unserem Buch beschriebene Fallbeispiel Reuter, bei dem selbst die als extrem verkrustet geltende SHK-Branche, in der die dreistufige Distribution schon als für die Ewigkeit in Stein gemeißelt zu sein schien, nicht vor derartigen „E-Pace-Umbrüchen“ gefeit ist.

Welche wesentlichen Kriterien müssen Unternehmen insbesondere im E-Commerce-Vertrieb heute gegenüber ihren Kunden erfüllen, um langfristig erfolgreich zu sein?

Da verweise ich gerne auf die in der – übrigens bei Springer im September diesen Jahres erscheinenden – 5. Auflage meines Buches „Der neue Online-Handel“ beschriebenen acht S-Erfolgsfaktoren: Danach ist zunächst die einzigartige Anziehungskraft des E-Shops unabdingbar. Dazu können "Killer"-Angebote oder auch attraktive Community`s, also Killer-Features, beitragen. Neben der Gründung einer eigenen Community rückt zunehmend auch die Nutzung externer Internet-Gemeinschaften zur Kundenakquisition in den Fokus. Hat der Online-Händler den Kunden auf seine Website gelockt, müssen diesem exzellente Selbstbedienungs-, Service- und Suchlösungen angeboten werden.

Internet-Käufer erwarten individualisierte Angebote und eine gezielte, personalisierte „Rundumbehandlung“. Dabei geht „Schnelligkeit vor Perfektion“. Der Online-Händler muss die schnellstmögliche Abwicklung im Internet-Kanal sicherstellen. Die Gefahren und eine gewisse Sensibilisierung auf Kundenseite in Hinblick auf die „Tücken des Einkaufs“ im Internet stellen allerdings in der Abwicklung höchste Anforderungen an die Abwicklungssicherheit. Dies betrifft die Bezahlsicherheit und -flexibilität, den Datenschutz sowie die Rechts- und AGB-Sicherheit. Die Ergänzung des Internet-Kanals um unterstützende, reale Absatz- und Kommunikationskanäle können dem Kunden dabei zusätzliche Sicherheit und einen Mehrwert bieten. Hinzu kommt, dass er auch zunehmend nach Channel-Hopping-Möglichkeiten verlangt. Bei der Umsetzung derartiger Multi-Channel-Lösungen kann auch die Auslagerung von Unternehmensaufgaben an Fulfillment-Dienstleister helfen.

Welche Folgen haben die digitalen Geschäftsmodelle von Handelsunternehmen für die innere Organisation der eigenen Vertriebs- und Geschäftsprozesse?

Die innere Organisation und auch die eigenen innerbetrieblichen Prozess sind absolut erfolgskritisch, denn ohne zeitoptimierte Prozesse und eine entsprechende Systemunterstützung sind derartige Geschäftsmodelle nicht umsetzbar. Hinzu kommt die Notwendigkeit einer nahtlosen Automatisierung, ohne die es mittlerweile zu Wettbewerbsnachteilen kommt.

Erfolgreiche E-Commerce-Geschäftsmodelle wie das von Amazon zeigen, dass automatisierte Abläufe nicht nur schneller, sondern auch besser funktionieren. Das geht aber nicht ohne hohe Systeminvestitionen und eine "totale Kundenzentrierung", also konsequente Ausrichtung auf den Kunden, die nicht den bisherigen und tradierten Denkmustern folgen darf.

Im Zusammenhang mit dem digitalen Kundenmanagement von Unternehmen ist häufig vom „Kundenmehrwert“ und von „Wertschöpfung“ die Rede, die Unternehmen anstreben müssen, um erfolgreich zu sein. Welche Chancen bieten sich Unternehmen hier, wenn sie es richtig machen?

Der Kundenmehrwert ergibt sich aus zwei Neuerungen: Zum einen reduziert sich die Anzahl der Wertschöpfungsstufen. Diese sogenannte Disintermediation ermöglicht ein Absenken der Preise und führt so zu einer steigenden Preisleistung. Kunden müssen nicht mehr für vermeintliche, aber nicht erbrachte und auch nicht gewünschte „Leistungen“ zusätzlich bezahlen.

Echte Beratung wird ja häufig sowieso schon nicht mehr erbracht oder nur unzureichend erfüllt. Sie ist aber im stationären Handel immer noch Kostentreiber. Zum anderen erhöht sich der Kundenmehrwert durch Ausweitung der Angebote bzw. Auswahl, die steigende Informationstransparenz sowie eine erhöhte Bearbeitungsgeschwindigkeit. Die Belieferung innerhalb von wenigen Stunden nach Auftragsabgabe ist in arbeitsteiligen Organisationsformen so nicht möglich. Sortimente mit mehreren Millionen verschiedenen Artikeln sind im stationären Handel so nicht abbildbar. Die „wahren Catagory Killer“ sind heute digitale Händler.  

Stichwort Pricing: Sie führen im Buch mit Blick auf E-Geschäftsmodelle an, dass sich für Online-Händler gegenüber dem klassischen Vertrieb ganz neue Möglichkeiten ergeben, um ihre Preissetzung dynamisch zu gestalten, indem sie ihre Preise schnell und häufig ändern. Welche Aspekte sind hierbei zu beachten, und welche Herausforderungen ergeben sich für Unternehmen im Vergleich zum stationären Vertrieb?

Das zunehmend im Online-Handel praktizierte dynamische Pricing funktioniert „vollautomatisiert“ am besten über zugrunde gelegte Algorithmen und Suchmaschinen. Das funktioniert derart schnell und umfassend, dass der stationäre Vertrieb schon alleine damit überfordert ist, „informatorisch“ zu folgen. Unternehmen, die ein derartiges Pricing händisch betreiben oder besser versuchen – und davon gibt erstaunlicherweise noch einige – beschäftigen dafür viele Mitarbeiter, die nicht annähernd auf die Performanz einer entsprechenden Preismaschine kommen. Insofern werden Unternehmen, die nicht entsprechend aufrüsten und „nur“ beim stationären Vertrieb und herkömmlichen Mustern bleiben möchten, leider über kurz oder lang auf der Strecke bleiben.    

Gerade im E-Commerce spielen Multichannel-Konzepte eine zentrale Rolle. Wie sollten E-Commerce-Händler agieren, um integrierte Multi-Channel-Leistungen richtig zu steuern und es als Kundenbindungsinstrument einzusetzen?

Multi-Channel-Leistungen machen für E-Commerce-Händler – also sogenannte Online-Pure-Player – überhaupt keinen Sinn, sondern sind vorrangig eine dem stationären Handel vorbehaltene Profilierungsmöglichkeit. Die aktuell diskutierte Strategie „Online-goes-Online“ wird allenfalls zu wenigen, gut erreichbaren Showrooms führen. Von ihnen dürften für Pure-Player bundesweit „repräsentativ gestreut“ vielleicht 30 Outlets auf der grünen Wiese ausreichen. Warum? Weil bei dieser Zahl erfahrungsgemäß maximal eine Stunde Fahrzeit ausreicht, um eines dieser Outlets zu erreichen. Dabei steht aber nur das „Touch&Feel“ im Vordergrund, nicht aber das „Multi-Channeling", bei dem es primär um den Verkauf in den Filialen geht.  

Welche speziellen Anforderungen kommen auf die Unternehmen durch Mobile-Commerce-Plattformen, beispielsweise über Smartphones als Endgeräte, noch zu?

Mobile-Commerce ist zwar der „verlängerte“ Arm des Online-Handels, erfordert aber eigene Zuständigkeiten und Systeme. Die bloße Weiterleitung von Websites auf mobile Formate reicht nicht aus und vernachlässigt die Besonderheit dieser mobilen Plattformen, bei denen es ja vor allem auch um die Lokalisierung des Kunden vor Ort geht. Zudem nutzen „soziale Netzwerkler“ – und davon dürfte es alleine in Deutschland mehr als 30 Millionen geben – mehrheitlich mobile Geräte für ihre Interaktionen. Diese Kombination aus sozialer Interaktion, Location Based Services sowie Mobile-Commerce ist derzeit ein großes Thema – vor allem im stationären Handel.

Was sind aus Ihrer Sicht die drei Top-Erfolgsfaktoren für Online-Projekte und welche Rolle spielen dabei Innovation und operative Exzellenz?

Innovationen und operative Exzellenz sind nicht nur ein absolutes Must für Online-Projekte, sondern überhaupt für jedes Unternehmen, egal ob online oder offline. Online-Projekte unterscheiden sich aber insbesondere von Offline-Projekten dadurch, dass Investitions- bzw. Systementscheidungen in der Regel irreversibel hzw. Schlecht nachbesserbar sind und deswegen nicht inkremental getroffen werden sollten. Ausgehend von einem in Zukunft angestrebten visionären Endzustand sind die heute dafür notwendigen Entscheidungen zurückzu- deklinieren und entsprechend optional auszulegen. Das erfordert Konzeptionsstärke, die die Bauchentscheider im Vertrieb häufig überfordert.    

Wie kann der stationäre Vertrieb noch mehr von E-Commerce profitieren und was ist dabei Benchmark für Unternehmen, die Multikanal-Strategien fahren?

Ganz klar durch eine stärkere Vernetzung der Kanäle. Zukünftig wird es immer seltener möglich, im Vertrieb von den reinen Online- und Offline-Welten zu sprechen. Beides verschmilzt zu „No-Line“-Systemen, in denen die Betriebsformen ineinander übergehen. Damit tut sich eine wesentliche Entwicklung auf, nämlich die Verschmelzung von alten und neuen Betriebsformen zu Verkaufssystemen, die veralteten Formaten zu neuem Leben verhelfen können und diese damit vom Ende des Lebenszyklusses wieder an ihren Anfang katapultieren. Das haben auch die „Dinosaurier“ unter den Betriebsformen begriffen. Zumindest in den USA, wo Nordstrom, JC Penney und jetzt auch Sears als ehemalige Warenhausbetreiber zu integrierten „No-Line“-Händlern mutieren und dabei eine Renaissance erleben.

Benchmark sind insofern die Traditionshändler aus dem englischsprachigen Raum. Auch die englischen Traditionshäuser wie Debenhams oder Jon Lewis. Leider kein einziger deutscher Händler. Diese machen derzeit eher Schlagzeilen durch Pleiten, Pech und Pannen.    

Eine ketzerische Frage zum Schluss angesichts des derzeitigen digitalen Hypes und des hohen Wettbewerbsdrucks: Würden Sie morgen trotzdem noch ein Online-Unternehmen gründen, und wenn ja, mit welcher Ausrichtung?

Die Frage ist nicht ketzerisch, aber auch nicht angebracht: Wir stehen erst am Anfang der digitalen Revolution und wer glaubt, dass bereits ein Ende des digitales Hypes absehbar ist, liegt meines Erachtens nach völlig falsch. Der große Boom kommt erst noch und wir können uns heute noch überhaupt nicht vorstellen, welche Geschäftsmodelle es in fünf oder sogar zehn Jahren geben wird. Smartphones sind gut sechs Jahre alt, echter Mobile-Commerce gut drei Jahre, Tablets ebenfalls gut drei Jahre. Wer hat deren Boom damals vorausgesehen?

Gerade in den nächsten Jahren tun sich weitaus mehr strategische Fenster und Opportunitäten für Unternehmensgründer und Pioniere auf als in den letzten Jahren. Lassen wir uns überraschen, es bleibt spannend!

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