Verluste im Stromnetz, die unweigerlich auftreten, dürfen nicht mit erneuerbarem Strom ausgeglichen werden. Netzbetreiber haben dadurch ein Problem, klimaneutral zu werden.
Daniel Breloer ist Senior Manager bei KPMG Deutschland und Spezialist für Stromnetze.
KPMG
Netzverluste treten unweigerlich auf. Allein im ersten Quartal 2021 betrugen die Netzverluste 7.416.608 MWh. Diese Strommenge entspricht letztendlich der gesamten Offshore-Windproduktion auf der deutschen Nordsee. Etwa 35 Prozent der Verluste müssen die Übertragungsnetzbetreiber tragen, den Rest die Verteilnetzbetreiber. Im Interview beschreibt Daniel Breloer, Senior Manager bei KPMG Deutschland, die derzeitige Situation der Netzbetreiber bei ihrem Bemühen, auch diese Verlustenergie nachhaltig zu gestalten.
Springer Professional: Zuerst: Gäbe es Maßnahmen, den hohen Anteil an Verlustenergie zu senken?
Daniel Breloer: Maßnahmen gibt es, beispielsweise kann Verlustenergie durch den Aufbau der Gleichstromübertagungsleitungen für die sogenannten Nord-Süd-Transporte minimiert werden. Würden die gleichen Strommengen über die Wechselspannungsleitungen transportiert, wären die Netzverluste viel höher. Allerdings eignen sich die Hochspannungs-Gleichstromübertragung nur für Punkt-zu-Punkt-Verbindungen und nicht für ein vermischtes Netz. Außerdem sind auch noch die Konverterverluste von Wechsel- auf Gleichstrom und wieder zurück mit den eingesparten Netzverlusten gegenzurechnen.
Um den Ohmschen Widerstand zu reduzieren, der maßgeblich für die Übertragungsverluste verantwortlich ist, gibt es physikalisch gesehen noch die Möglichkeit, eine möglichst hohe Betriebsspannung zu wählen, den Leitungsquerschnitt zu erhöhen oder die Leitungen so weit herunterzukühlen, dass die Leitungen supraleitend werden. Jede dieser Maßnahmen weist jedoch unerwünschte Nebeneffekte auf, sodass Einsparungen von Netzverlusten in Relation zu den Energiekosten nicht wirtschaftlich sind. Neben dem Ohmschen Widerstand sind unter anderem auch noch die spannungsabhängigen Verluste, Blindleistungskompensation und Leistungstransformation zu berücksichtigen, sodass es immer Netzverluste geben wird.
Wie könnten Netzbetreiber überhaupt grünen Strom für den Betrieb der Netze erwerben?
Netzkunden dürfen die gleiche Menge an Strom aus dem Netz entnehmen, die sie eingespeist haben. Entsprechend haben Netzbetreiber die entstandene Verlustenergie zu beschaffen. Die Kosten hierfür dürfen sie als volatile Kostenbestandteile in die Netzentgelte einfließen lassen. Die Grundsätze, wie Netzbetreiber Verlustenergie beschaffen sollen, hat die Bundesnetzagentur (BNetzA) geregelt. Insbesondere sieht das Verfahren fairen Wettbewerb und Diskriminierungsfreiheit bei der Beschaffung von Verlustenergie vor. Wenn Netzbetreiber in ihren Ausschreibungsbedingungen also exklusiv Grünstrom vorsehen, dann könnte das gegen den Grundsatz der Diskriminierungsfreiheit verstoßen und somit – im Extremfall – die Anerkennung der Kosten für die Verlustenergie als Bestandteil der Netzkosten gefährden.
Kämen hier auch Kompensationsprojekte in Frage?
Am einfachsten wäre es, den wettbewerblich und diskriminierungsfrei beschafften grauen Strom über Herkunftsnachweise in grünen Strom „umzuwandeln“. Dafür müssten Netzbetreiber Herkunftsnachweise erwerben und entwerten lassen – analog zu den Verfahren für die Stromkennzeichnung: Sofern zum Strommix des Stromlieferanten für Letztverbraucher auch direkt vermarktete erneuerbare Energie gehört, so hat er Herkunftsnachweise zu verwenden und beim Umweltbundesamt (UBA) zu entwerten.
Die entscheidende Frage hier ist allerdings, ob Netzbetreiber, die die Netzverluste kompensieren müssen, auch Letztverbraucher sind. Somit ist die Situation schon kafkaesk – auf der einen Seite dürfen die Netzbetreiber keinen Grünstrom beschaffen, auf der anderen Seite können sie grauen Strom nicht in Grünstrom umwandeln. Solange das nicht geklärt ist, bleiben eigentlich nur die sogenannten EU-ETS-Zertifikate und Voluntary Emission Rights (VER). Mithilfe dieser wird aus grauem Strom kein Grünstrom, doch helfen sie den Netzbetreibern, ihre Treibhausgasbilanz klimaneutralerer zu gestalten.
Welche rechtlichen und regulatorischen Bedingungen müssten aufgelöst werden, damit Netzbetreiber Zugang zu grünem Strom erhalten können?
Auf den ersten Blick scheint klar, dass es an den Regelungen für die Ausschreibungsbedingungen von Verlustenergie oder an den Regelungen für die Entwertung der Herkunftsnachweise liegt. Aber so einfach ist es nicht. Die bestehenden Regelungen sind schließlich aus guten Gründen eingeführt worden. Es ist sehr viel komplexer: Zum einen sehen wir generell die Tendenz, dass es für viele Unternehmen immer wichtiger wird, Klimaneutralität zu erreichen. Von daher überraschen die in jüngster Zeit getätigten Ankündigungen nicht, dass immer mehr Unternehmen auf Grünstrom umstellen wollen. Damit wird Grünstrom natürlich zu einem knappen Gut, was sich auch in den Preisen widerspiegeln wird.
Zum anderen haben sich viele Kommunen strengere Klimaziele als die auf der Bundesebene gesetzt. Die meisten Netzbetreiber sind in Deutschland mittel- oder unmittelbar in kommunaler Hand. Da besteht schon die Erwartungshaltung, dass die Netzbetreiber die kommunalen Klimaziele unterstützen. Wünschenswert wäre es, zu einem Zielbild für die Beschaffung von grüner Verlustenergie zu gelangen, welches auf der einen Seite unternehmerische Entscheidungen von Netzbetreibern zulässt, auf der anderen Seite aber auch die Interessen der Verbraucher berücksichtigt. Entsprechend sollten dann die rechtlichen und regulatorischen Bedingungen aus einem Guss angepasst werden.