Der Fachkräftemangel bleibt ein Hemmschuh für die Wirtschaft. Das Talentmanagement neu auszurichten, könnte dem entgegenwirken. Kristina Bierer und Marcel Rütten wissen, wie Firmen Future Talents finden und binden.
Die Beispiele häufen sich, das Unternehmen nach Praktikanten via Stellenanzeigen suchen. Hat sich für Praktikanten der Arbeitsmarkt vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt gewandelt?
Marcel Rütten: Die Zeiten, in denen Praktikanten chronisch unterbezahlt, ausgebeutet und überfordert wurden, sind vorbei. Unternehmen begegnen Praktikanten heute eher auf Augenhöhe und sehen diese Zielgruppe als vollwertige Mitglieder ihrer Teams. Bedingt durch den demographischen Wandel sind Arbeitgeber außerdem mehr denn je einem Konkurrenzdruck um die besten Talente ausgesetzt. Sie müssen frühzeitig auf sich aufmerksam machen und eine Differenzierung zu ihren Wettbewerbern schaffen.
Frau Bierer, Sie führen seit 2010 die Studie "Future Talents Report" durch. Was sind die zentralen Ergebnisse der aktuellsten Ausgabe, die für Unternehmen relevant sind?
Kristina Bierer: Der Future Talents Report 2021 ist von der Corona-Pandemie geprägt, die auch bei Praktika zu Veränderungen geführt hat, aber nicht zwangsläufig zu Verschlechterungen. Vor Corona durften Praktikanten und Werkstudierende kaum im Homeoffice arbeiten. Mit der Pandemie haben Arbeitgeber auch ihre Future Talents nach Hause geschickt und größtenteils mobiles Arbeiten eingeführt. Auch wenn die Future Talents sagen, dass ihre Erwartungen an das Praktikum nicht erfüllt wurden, heißt das nicht, dass sie weniger, sondern trotzdem genau so zufrieden sind mit ihrer Arbeitserfahrung. Arbeitgeber und Future Talents scheinen sich der Herausforderung erfolgreich gestellt zu haben.
Wie profitieren Unternehmen durch gezielte Praktikantenprogramme?
Kristina Bierer: Praktika haben einen direkten Einfluss auf die Nachwuchskräfteentwicklung, denn Arbeitgeber können diese kennenlernen, weiterentwickeln und an das Unternehmen binden – optimalerweise durch gezieltes Talent Relationship Management. Außerdem werden theoretische Konzepte und aktuelle Forschungsergebnisse aus der akademischen Ausbildung auch im Sinne der Unternehmen mit der Praxis in Verbindung gebracht..
Marcel Rütten: Praktikanten bringen sich unmittelbar in das operative Geschäft ein. Sie tragen durch ihre Anregungen sowie ihr aktuelles Wissen zur Innovationskraft einer Organisation bei. Unternehmen erzielen auf verschiedene Art und Weise eine Conversion ihrer Praktikantenprogramme. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf Praktikanten wirken und sie prägen. Als Ergebnis bewerben sie sich später erneut bei ihrem Praktikumsgeber, da sie ihre Hospitanz als bereichernd empfunden haben. Auch wenn das nicht der Fall sein sollte, sind zufriedene Praktikanten exzellente Markenbotschafter. Sie haben enormes Potenzial, die Arbeitgebermarke positiv wie negativ zu beeinflussen. Ihre Zufriedenheit kann sich mittel- bis langfristig auf das operative Geschäft auswirken, wenn sie in einer künftigen Funktion zum Auftraggeber werden und eine Zusammenarbeit zustande kommt.
Und wie sollten Praktikantenprogramme gestaltet werden, um die richtigen Talente zu finden und langfristig zu binden?
Kristina Bierer: Der Erfolgsfaktor dafür heißt Lernen. Future Talents machen ein Praktikum, um praktische Erfahrungen zu sammeln, aber auch um sich mit ihrem Lebenslauf profilieren zu können. Für ein Unternehmen entscheiden sie sich vor allem, wenn ihnen im Bewerbungsprozess glaubhaft vermittelt wurde, dass sie im Praktikum etwas lernen können und die theoretischen Inhalte aus dem Studium in der Praxis anwenden können. Aber auch das Hineinschnuppern in ein Berufsbild oder eine Branche spielt eine große Rolle. Regelmäßiges Feedback, abwechslungsreiche Aufgaben und eine steile Lernkurve führen zu einer hohen Zufriedenheit der Future Talents. Persönliche und fachliche Weiterentwicklung ist also entscheidend.
Welche rechtlichen Rahmenbedingungen müssen Unternehmen beachten, wenn sie Praktikantenprogramme starten wollen?
Marcel Rütten: Wer Future Talents in seinem Unternehmen beschäftigen möchte, sollte sich mit Praktikumsverträgen, Sozialversicherungspflicht, Urlaubs- oder Vergütungsansprüche sowie dem rechtlichen Status von Praktikanten vertraut machen. Dieser ist maßgeblich für die weitere Ausgestaltung. Bei der Definition des rechtlichen Status von Praktikanten kommt es darauf an, ob das Praktikum freiwillig ist oder nicht. Alle Studierende, die ein Pflichtpraktikum absolvieren, behalten ihren Status als eben solche. Das bedeutet, dass sie keine Arbeitnehmern oder Beschäftigte im betriebsverfassungsrechtlichen Sinne sind. Manche Regelungen aus dem Betriebsverfassungsgesetz oder dem Personalvertretungsgesetz können dennoch für sie gelten. Unter Umständen kommt das Berufsbildungsgesetz zur Geltung. Freiwillige Praktika begründen grundsätzlich ein privatrechtliches Vertragsverhältnis, dass durch einen Praktikumsvertrag geregelt wird.