Die Ergebnisse werden in diesem Abschnitt in Form von Fallbeispielbeschreibungen vorgestellt. Ebenen des 3-Sichten-Modells sowie daraus entnommene Kernbegriffe sind kursiv gesetzt, um den Lesenden die Zuordnung zu erleichtern.
8.5.1 Virtuelle Inbetriebnahme
Das erste Fallbeispiel befasst sich mit der Einführung der virtuellen Inbetriebnahme in Unternehmen A. Üblicherweise entfällt der größte Anteil der Qualitätssicherung für Maschinen oder Anlagen auf die konventionelle Inbetriebnahme am Ende des Produktentwicklungsprozesses (Zäh et al.
2006). Der Begriff „Inbetriebnahme“ bezeichnet die vollständige Prüfung einer Maschine oder Anlage hinsichtlich Funktionalität und fehlerfreier Abläufe. Dabei werden alle Abläufe und Funktionen geprüft, die für den späteren Betrieb der Anlage notwendig sind. Die konventionelle Inbetriebnahme ist in Unternehmen A einerseits durch eine starke Kapazitätslimitation gekennzeichnet, andererseits aber von großer Bedeutung für die Qualitätssicherung. Während eine konventionelle Inbetriebnahme erst am Ende des Produktentstehungsprozesses nach abgeschlossener Entwicklung der Teilsysteme möglich ist und Fehler daher erst spät festgestellt werden können, erlaubt die virtuelle Inbetriebnahme bereits eine Prüfung von Anlagenteilen während der Entwicklung. Dies ermöglicht es, Fehler früh zu identifizieren und direkt zu beheben, bevor das erste Teil der Maschine physisch gefertigt wurde.
Der aktuelle Status quo ist auf
Prozessebene ein sequenzieller Entwicklungsprozess. Ein Auftrag
(Entwicklungsaufgabe)wird nacheinander von verschiedenen Entwicklungsdisziplinen(z. B. Mechanik, Hydraulik, Steuerungstechnik) bearbeitet. Bis auf kleinere Anpassungen werden in der Regel fertige Zwischenprodukte an die nächste Abteilung weitergegeben. Die einzelnen Teilsysteme werden erst gegen Ende des Produktentwicklungsprozesses zusammengefügt. Innerhalb des Entwicklungsprozesses haben die Mitarbeitenden klare
Rollen und in sich abgeschlossene Aufgaben, d. h. innerhalb eines Projektes liegen klare Zuständigkeiten vor. Der
Informationsfluss ist zu bestimmten Phasen (z. B. Projektauftakt) prozessbedingt strukturiert, während der Projektbearbeitung eher bedarfsorientiert (z. B. kurzfristige Abstimmungen zwischen Abteilungen). Aufgrund der klaren Rollenzuteilung funktioniert auch spontane Informationsweitergabe in der Regel gut. Auf
Methodenebene stehen den Mitarbeitenden für Entwicklungsaktivitäten verschiedene Methoden, Kommunikationsmedien und Technologien zur Verfügung, die überwiegend nach situativer Passung ausgewählt und angewandt werden. Die Nutzung weist dabei einen engen Zusammenhang zu den Kompetenzen der Mitarbeitenden auf. Als
Kommunikationsmittel werden persönlichere Kommunikationswege (z. B. Abteilungsbesprechungen, Anrufe) bevorzugt, was durch das Arbeiten an einem zentralen Standort ermöglicht wird. Virtuelle Kommunikationsmittel (z. B. Videokonferenzen, Chats) sind einerseits durch die räumliche Nähe unüblich und andererseits entscheiden sich die Mitarbeitenden auch eher aktiv für andere, als persönlicher wahrgenommene Kommunikationswege. Ein Mitarbeiter aus dem Unternehmen beschrieb dies im Interview so:
„wir sitzen alle (…) auf einer Ebene, räumlich sehr nah beieinander, d. h. man spricht sich einfach im persönlichen Gespräch ab“. Zu dieser allgemeinen, unternehmensweiten Präferenz von persönlichen Kommunikationswegen bevorzugen zudem Mitarbeitende je nach Gegenüber und Anlass unterschiedliche
Kommunikationsmittel. Diese Tendenzen könnten ohne die Betrachtung des
Entwicklungsteams, insbesondere der
Teamkognitionen, nicht im 3-Sichten-Modell verortet werden. Die Wahl des
Kommunikationsmittels ist in diesen Fällen dadurch motiviert, wie die Mitarbeitenden mit einer anderen Person effektiv kommunizieren können, bspw. ob eine Informationsweitergabe per E-Mail oder eine Abstimmung per Anruf sinnvoller ist. Dies entspricht teambezogenen geteilten mentalen Modellen (vgl. Cannon-Bowers et al.
1993). Auf
Kompetenzebene sind bei den Mitarbeitenden insgesamt die notwendigen fachlichen Kenntnisse vorhanden, um ihre Aufgaben auszuführen. Unterschiede gibt es hauptsächlich hinsichtlich methodischer und überfachlicher Kompetenzen. Dies zeigt sich in erster Linie im unterschiedlichen Einsatz von Technologien, Methoden und Hilfsmitteln, d. h. auf
Methodenebene. Weitere Unterschiede sind im Verhalten der Mitarbeitenden in der Zusammenarbeit sichtbar, also zum Teil auf
Prozessebene z. B. inwiefern Mitarbeitende proaktiv Abstimmungen mit anderen Abteilungen anstoßen
(Informationsfluss). Ein Teil der überfachlichen Kompetenzen zielt allerdings eher auf die funktionale Interaktion im Team ab (z. B. Konflikte sachlich zu lösen). Ihre Auswirkungen werden erst durch die Inklusion des
Entwicklungsteams im Modell sichtbar.
Der Soll-Zustand sieht die Einbindung der virtuellen Inbetriebnahme vor und führt deswegen zu verschiedenen Änderungen. Um die Vorteile der virtuellen Inbetriebnahme voll auszuschöpfen, muss auf
Prozessebene eine Veränderung von sequenziellen hin zu parallelen Prozessen vorgenommen werden. Nur so ist die erforderliche Integration für die virtuelle Inbetriebnahme möglich, da alle Teilsysteme für die virtuelle Inbetriebnahme eine gewisse, abgestimmte Entwicklungsreife aufweisen müssen. Dies geht allerdings auf
Prozessebene mit einer Steigerung der Komplexität einher, zwischen einzelnen
Entwicklungsaktivitäten entstehen mehr Wechselwirkungen. Werden in einer Abteilung Änderungen am ursprünglichen Plan vorgenommen, müssen diese Änderungen schnellstmöglich an die anderen Abteilungen weitergegeben werden, damit diese direkt berücksichtigt werden können und nicht erst bei der virtuellen Inbetriebnahme auffallen. Auf
Methodenebene wird zur Umsetzung der virtuellen Inbetriebnahme einerseits ein digitales
Hilfsmittel, in diesem Fall eine Software, benötigt, die eine virtuelle Überprüfung von Funktionalitäten ermöglicht. Andererseits muss die genutzte Software mit den bereits vorhandenen Programmen kompatibel sein und über passende Schnittstellen verfügen, da aufwendige Dateikonvertierungen Zeitverzögerungen verursachen würden. Des Weiteren werden
Methoden und weitere
Hilfsmittel benötigt, die bei der Bewältigung der neuen Komplexität unterstützen, z. B.
Methoden zur strukturierten Problemlösung oder
Hilfsmittel wie Prozessvisualisierungen, Checklisten oder Übersichten zu Verantwortlichkeiten. Auf
Kompetenzebene schlagen sich komplexere Entwicklungsprozesse und neue Methoden und Technologien in neuen Anforderungen für die Mitarbeitenden nieder. Die Mitarbeitenden müssen die methodischen Kompetenzen zur Bedienung und Anwendung der neuen (digitalen)
Hilfsmittel und
Methoden entwickeln, die sie zur Umsetzung der virtuellen Inbetriebnahme benötigen (z. B. Simulationssoftware). Mitarbeitende brauchen darüber hinaus auch ein Verständnis davon, wie Änderungen, die sie vornehmen, andere Teilsysteme beeinflussen und welche Informationen sie daher an wen und bis wann weiterleiten müssen. Nur so können sie dann die richtigen Kollegen und Kolleginnen frühzeitig informieren oder aktiv die Abstimmung mit ihnen suchen. Dazu benötigen die Mitarbeitenden wiederum entsprechende soziale Kompetenzen, um die notwendigen Abstimmungen erfolgreich durchzuführen (z. B. Kommunikationskompetenz). In einem Interview beschrieb eine Führungskraft es so, dass erfolgreiche Mitarbeitende ein Problem aus verschiedenen fachlichen Perspektiven betrachtet und dann gut
„auf den Punkt gebracht“ haben. Auch hier lässt sich die Auswirkung der Kompetenzen zur erfolgreichen Kommunikation nur durch die Erweiterung um das
Entwicklungsteam im 3-Sichten-Modell einordnen. Geteilte mentale Modelle zur Aufgabe, zur Ausrüstung, zur Teaminteraktion und zu den Teammitgliedern (vgl. Cannon-Bowers et al.
1993) könnten hier zur effizienten, erfolgreichen Abstimmung beitragen. Ein fiktives Beispiel zur Veranschaulichung: Mitarbeiter X muss eine Änderung an der Form der Maschine vornehmen, die auch den Innenraum der Maschine betreffen. Er weiß, dass diese Änderungen Auswirkungen auf die pneumatische Konstruktion und die geplanten elektrischen Bauteile (z. B. Kabellängen, Sensorplatzierungen) haben könnte. Deswegen gibt er diese Information direkt telefonisch seinen beiden Kollegen Y (Pneumatik) und Z (Elektrik) weiter, weil er weiß, dass sie dann sofort ihre eigenen Bauteile überprüfen und anpassen können. Im Anschluss schreibt X noch eine E-Mail an seine Kollegen und legt diese auch zusammen mit den übrigen Produktdaten ab, damit die Änderungen später nachvollziehbar sind.
Als realistischen Umfang für ein zeitlich begrenztes Pilotprojekt wurde die virtuelle Inbetriebnahme eines Bauteils als
Entwicklungsaufgabe festgelegt. Das ausgewählte Bauteil war Teil eines Weiterentwicklungsprojektes, um die Effizienz und Funktionalität der Maschine zu optimieren. Diese
Entwicklungsaufgabe war daher nicht mit einem konkreten Kundenauftrag oder einer Deadline verbunden. Es wurden wie im Unternehmen üblich klare
Rollen und Zuständigkeiten für das Pilotprojekt definiert, sodass die Mitarbeitenden möglichst optimale Voraussetzungen hatten, um mit dem neuen
Prozess und den neuen
Methoden und
Hilfsmittel zurechtzukommen (s. auch Ruel et al.
2007). Des Weiteren wurde entschieden, die beteiligten Mitarbeitenden von anderen Aufgaben so weit zu entlasten, dass sie ausreichend Zeit hatten, das Pilotprojekt zu bearbeiten. Zudem wurden die Mitarbeitenden ermutigt, die Aufgabe zusammen zu bearbeiten, um so die Abstimmung zu vereinfachen und gegenseitige Unterstützung der Teammitglieder zu ermöglichen. Durch die gemeinsame Bearbeitung war es möglich, neue Aufgabeninterdependenzen direkt zu erkennen und so potenziell auch ein gemeinsames mentales Modell der virtuellen Inbetriebnahme zu entwickeln (s. Mathieu et al.
2000).
Während der Vorbereitung des Pilotprojektes ergaben sich zwei besondere Herausforderungen in Bezug auf die Software für die virtuelle Inbetriebnahme: Einerseits konnte aufgrund einer fehlenden Entwicklungslizenz keine Schnittstelle zwischen der Simulationssoftware und der in Unternehmen A verwendeten CAD-Software aufgebaut werden
(Methodenebene). Deswegen war eine Behelfslösung nötig, die für die beteiligten Mitarbeitenden mit erheblich höherem Aufwand verbunden war. Andererseits war für die Bedienung der Simulationssoftware Programmieren notwendig, während die meisten Mitarbeitenden eher die Bedienung über Buttons gewöhnt waren
(Kompetenzebene). Auch dies war wieder mit höherem Aufwand für die beteiligten Mitarbeitenden verbunden (ausführlicher dazu Paulsen et al.
2020).
Zur Umsetzung des Pilotprojekts arbeiteten die Mitarbeitenden kontinuierlich an der virtuellen Inbetriebnahme des Bauteils, häufig auch als
Entwicklungsteam gemeinsam in einem Raum. In der Begleitbefragung zeigte sich, dass der negative Affekt über die gesamte Zeit des Pilotprojektes eher konstant niedrig ausgeprägt blieb, während der positive Affekt über die Zeit stärkere Variationen zeigte, aber insgesamt auf mittlerem bis niedrigem Niveau lag. Die Variationen zeigten keinen systematischen Zusammenhang in der virtuellen Inbetriebnahme (z. B. deren Start oder zwischen Wochen der Bearbeitung und Nicht-Bearbeitung). Dies passt zu Forschungsbefunden, dass positive und negative Teamstimmung unterschiedliche Merkmale sind (z. B. Paulsen et al.
2016). Der niedrige negative Affekt lässt vermuten, dass die Mitarbeitenden trotz des höheren Aufwandes keine ablehnende Haltung gegenüber der virtuellen Inbetriebnahme entwickelt haben. Ein Scheitern der virtuellen Inbetriebnahme aufgrund Ablehnung der Mitarbeitenden erscheint nach diesem Stand unwahrscheinlich (s. Bondarouk und Sikkel
2007). Aufgabeninterdependenz zeigte einen annähernd spiegelbildlichen Verlauf zu positivem Affekt, d. h. sinkender positiver Affekt trat zeitgleich mit steigender Aufgabeninterdependenz auf und umgekehrt. Wahrgenommene Leistung wies einen ähnlichen Verlauf wie positiver Affekt auf, lag allerdings eher auf hohem Niveau. Diese Ähnlichkeiten in den Verlaufsmustern zeigen einen möglichen Zusammenhang zwischen positivem Affekt, Aufgabeninterdependenz und Teamleistung auf, wie er in der Forschung schon für Affekt und Interdependenz (Bartel und Saavedra
2000) bzw. Affekt und Leistung (z. B. Knight und Eisenkraft
2015) gefunden wurde. Insgesamt konnte auf Basis der Stimmungs- und Leistungsbewertungen kein Interventionsbedarf festgestellt werden. Bezüglich der Kommunikation machten Informationsaustausch und Koordination zwar vergleichsweise hohe Anteile der Kommunikationsanlässe aus, zeigten aber keine Verbindung mit Reduzierungen im positiven Affekt oder der wahrgenommenen Leistung. Rückfragen und Konfliktmanagement bleiben konstant auf einem niedrigen Niveau (weniger als 10 % der Kommunikationsanlässe in einer Woche). Die abteilungsübergreifende Kommunikation war zwar intensiver als die abteilungsinterne Kommunikation, trat aber insgesamt seltener auf als die abteilungsinterne Kommunikation. Das Team konnte die virtuelle Inbetriebnahme des Bauteils trotz des höheren Aufwandes erfolgreich abschließen und bewertete das Konzept der virtuellen Inbetriebnahme insgesamt positiv.
Insgesamt zeigt sich, dass umfangreiche Änderungen auf
Prozess-, Methoden- und
Kompetenzebene notwendig sind, um das Digitalisierungsvorhaben der virtuellen Inbetriebnahme umzusetzen. Allerdings sind die notwendigen Änderungen, wenn sie umfassend und einschließlich der Konsequenzen und Auswirkungen auf andere Bereiche analysiert werden, für Unternehmen A umsetzbar. Mithilfe des 3-Sichten-Modells konnten Erfolgsfaktoren wie die sehr gute Rollenklärung sichtbar gemacht werden, die dann explizit für die Planung der Pilotprojekte berücksichtigt werden konnten. Durch die Erweiterung um die Teamperspektive konnten einerseits die Interaktion der Mitarbeitenden abgebildet werden, z. B. indem geteilte mentale Modell zur Erklärung der situationsspezifischen Auswahl von
Kommunikationsmitteln je nach Gesprächsbeteiligten und Ziel herangezogen werden können. Da diese Merkmale nun im Modell sichtbar gemacht werden, können sie auch in der Gestaltung adressiert werden, bspw. mit speziell gestalteten Interventionen (s. Ellwart et al.
2015).
Teamemotion kann aufgrund der Verbindung mit Aufgabeninterdependenz und Leistung einerseits und der guten Erfassbarkeit andererseits als frühzeitiger Indikator für Interventionsbedarf genutzt werden, bspw. über ein sog. Stimmungsbarometer (s. auch Kauffeld und Güntner
2018). Durch den Zusammenhang von Teamstimmung bzgl. neuer Technologien und deren erfolgreicher Implementierung (s. Bondarouk und Sikkel
2007) kann die Beobachtung der Stimmung bei Digitalisierungsvorhaben besonders bedeutsam sein.
8.5.2 Standortübergreifende Produktentwicklung
Das zweite Fallbeispiel betrifft die standortübergreifende Produktentwicklung in Unternehmen B, zwischen dem Hauptstandort des Unternehmens in Deutschland und dem zu diesem Zeitpunkt im Aufbau befindlichen Standort in Indien. Während der indische Standort aufgebaut wurde, übernahmen die Mitarbeitenden in Deutschland die Bearbeitung von Kundenaufträgen für den indischen Markt. Dies führte zu einer höheren Auslastung der Mitarbeitenden am deutschen Standort, die die Kapazitäten für Neuentwicklungen stark reduzierte. Mit der Etablierung einer eigenen Entwicklungsabteilung am indischen Standort sollten indische Mitarbeitende durch die standortübergreifender Zusammenarbeit zur Bearbeitung der Aufträge von lokalen Kunden befähigt und gleichzeitig Mitarbeitende am deutschen Standort entlastet werden. Durch die gleichmäßigere Auslastung der Konstruktionsabteilungen wurde zudem eine schnellere Bearbeitung von Aufträgen erwartet.
Die Ausgangssituation in Unternehmen B ist gekennzeichnet durch geringe Zusammenarbeit zwischen den beiden Standorten. Frühere Versuche, in der Produktentwicklung standortübergreifend zusammenzuarbeiten, wurden dabei meist nach kurzer Zeit eingestellt, da sie insgesamt zu einer Verlängerung der Auftragsbearbeitung geführt haben. Bei der Betrachtung der
Prozessebene wurde festgestellt, dass diese Verzögerungen systematisch in der Phase der Konstruktion auftraten. Im Gegensatz zur lokalen Produktentwicklung kamen bei der standortübergreifenden Zusammenarbeit vermehrte Bearbeitungsschleifen bei der Anfertigung der digitalen3-D-Konstruktionsmodelle vor. Als Resultat erstellten die Mitarbeitenden am Hauptstandort meist die Konstruktion selbst, sodass die erhoffte Arbeitsentlastung häufig nicht gegeben war. Eine Ursache für die Verzögerungen in der Auftragsbearbeitung konnten auf
Methodenebene aufgedeckt werden. Zum einen verfügten beide Standorte über unterschiedliche Versionen der Konstruktionssoftware, sodass Datenaustausch grundsätzlich nur eingeschränkt möglich war. Zum anderen standen E-Mails als einzige Möglichkeit zum sicheren Datenaustausch zur Verfügung, wobei aber aufgrund der Dateigrößen keine Konstruktionsdateien ausgetauscht werden konnten. Stattdessen wurden PDF-Dateien der Konstruktionen per Mail ausgetauscht, Änderungsbedarf konnten nur per Hand und als Kommentar auf ausgedruckten Dokumenten vermerkt werden. Nach Abschluss der Konstruktion mussten zudem die Parameter des digitalen Modells in die Konstruktionssoftware eingepflegt werden, wodurch weiterer Zusatzaufwand für die Mitarbeitenden entstand. Eine Person fasste die Situation so zusammen:
„Das geht dann so weit, dass (…) wenn die das machen und ich muss das alles nachpflegen, dann kann ich es auch gleich alleine machen“. Ein weiterer Problembereich konnte auf
Kompetenzebene identifiziert werden. Die Mitarbeitenden an beiden Standorten verfügten zwar über die notwendigen fachlichen und methodischen Kompetenzen für die Konstruktion von Produkten mittels CAD-Software, allerdings fehlte den Mitarbeitenden in Indien unternehmensspezifische Expertise zu Produkten und Prozessen. Am Hauptstandort haben sich Konventionen und Standards in Bezug auf bestimmte Produkte (z. B. zu bevorzugtem Material oder Abmessungsverhältnissen) etabliert, die neuen Mitarbeitenden im Zuge der Einarbeitung vermittelt wurden. Der neu etablierten Konstruktionsabteilung in Indien stand dieses Wissen nicht zur Verfügung, da die Mitarbeitenden in Indien nicht die gleiche Einarbeitung erhielten und vorhandene
Hilfsmittel (wie z. B. Checklisten oder Leitfäden) nur in deutscher Sprache verfasst waren. Die Mitarbeitenden an den beiden Standorten verfügten also über unterschiedliche mentale Modelle, wie eine Entwicklungsaufgabe zu bearbeiten war und welche Informationen an den anderen Standort weitergegeben werden mussten. Zu dieser Differenz im Wissensstand kamen Herausforderungen in der Kommunikation, die sich negativ auf den Wissensaustausch auswirkten. Dabei verunsicherten die Kommunikation in einer Fremdsprache sowie die wahrgenommenen kulturellen Unterschiede die Mitarbeitenden, sodass Informationsaustausch in erster Linie nur zu Weitergabe von Aufgaben und Änderungsbedarf stattfand. Die Projektteams waren dabei mit den typischen Herausforderungen interkultureller virtueller Teams konfrontiert (dazu ausführlicher Schulze und Krumm
2017): Durch den Zeitunterschied stand nur ein relativ kurzes Zeitfenster für direkte, synchrone Kommunikation über digitale Medien zur Verfügung, die anfällig für kulturelle und sprachliche Missverständnisse ist. In einem Interview beschrieb eine Person, dass es schwer zu erkennen wäre, ob die Kollegen am anderen Standort bei einer Besprechung wirklich keine Fragen mehr hätten oder diese aus Höflichkeitsgründen nur nicht äußern würden. Wenn es dann anschließend zu Abweichungen käme, würde man dann aus Unsicherheit dazu übergehen, in der folgenden Zusammenarbeit grundsätzlich alles ganz genau zu kontrollieren. Durch solche Erlebnisse entwickelte sich das notwendige Vertrauen zwischen den Teammitgliedern noch langsamer, als dies ohnehin schon bei fehlenden Möglichkeiten zur face-to-face-Interaktion der Fall ist (s. Handke und Kauffeld
2019). Insgesamt stellt die geplante Zusammenarbeit aufgrund der hohen Komplexität, der Einschränkung durch virtuelle Kommunikationsmittel und durch Neuartigkeit des Vorhabens noch fehlende Ressourcen besondere Anforderungen an Arbeitsgestaltung (s. Handke et al.
2020). Für die Erreichung des Soll-Zustands und die Umsetzung des Pilotprojekts wurde daher umfangreicher Vorbereitungsbedarf erwartet.
Der angestrebte Soll-Zustand sieht vor, dass Gesamtprodukte standortübergreifend entwickelt werden können. Über die Entwicklungsaufgabe werden genaue Rahmenbedingungen wie Deadlines und Spezifikationen des Ergebnisses (Produkt, Abgabeformat, Zusatzdateien usw.) vorgegeben. Die Zusammenarbeit soll nach einem einheitlichen Prozess erfolgen, der auch Rollen und Informationsfluss regelt. Mittels stabiler, sicherer Datenverbindung sowie kompatibler Technologie sollen Konstruktionsdateien direkt ausgetauscht und bearbeitet werden. Des Weiteren sollen allen Mitarbeitenden deutsch- und englischsprachige Hilfsmittel wie Leitfäden, Konstruktionskataloge oder Checklisten zur Verfügung stehen. Zudem soll es immer wieder Möglichkeiten für Mitarbeitende aus Indien geben, von deutschen Mitarbeitenden eingearbeitet zu werden und damit alle nötigen Kompetenzen zu entwickeln. Dabei soll auch der informelle Austausch zwischen den Mitarbeitenden gefördert werden, um so Vertrauen auf- und Hemmungen abzubauen.
Zur Erreichung dieses Soll-Zustands ist eine schrittweise Ausweitung vorgesehen. Zu Beginn werden kleinere Bauteile standortverteilt konstruiert. Der Umfang wird schrittweise hochskaliert, sobald eine festgelegte Anzahl an standortübergreifender
Entwicklungssaufgaben erfolgreich bearbeitet wurde. Dazu wurden bisher die notwendigen technischen Voraussetzungen geschaffen (u. a. Datenverbindung, kompatible Software). Zusätzlich ist die Nutzung eines digitalen
Hilfsmittels (Powl-Tool) zur Prozessvisualisierung (für Details s. Baschin et al.
2019) vorgesehen. Ein Mitarbeiter aus Indien war zudem bereits am Hauptstandort und bearbeitete dort zusammen mit deutschen Kollegen und Kolleginnen typische Aufgaben. Einerseits führte dies schnell zum erwünschten
Kompetenzerwerb bzgl. unternehmensspezifischer Besonderheiten, andererseits entwickelte sich auch der erhoffte informelle Austausch. Die Mitarbeitenden kommunizierten bereitwilliger und informeller auf Englisch. Über den Verlauf der Zusammenarbeit wird für die beteiligten Mitarbeitenden ein weiterer
Kompetenzzuwachs in Bereichen wie interkulturelle Zusammenarbeit, Vertrauensaufbau in virtuellen Teams und Selbstmanagement (z. B. strukturiertes Arbeiten und Dokumentieren) erwartet.
Zusammenfassend lässt sich für dieses Fallbeispiel festhalten, dass ganzheitlichere Ansätze zur Problemanalyse eine genauere Auflösung von komplexen Systemen bieten können. Es zeigt sich, dass das 3-Sichten-Modell nicht nur zur Analyse von Ist- und Soll-Zustand geeignet ist, sondern ebenfalls zur Analyse vergangener (erfolgreicher oder gescheiterter) Veränderungen genutzt werden kann. Kann auf solche Informationen zurückgegriffen werden, können diese verwendet werden, um relevante Barrieren für das geplante Vorhaben zu identifizieren. Eine genauere Aufstellung von Hindernissen und Herausforderungen erlaubt wiederum eine spezifischere Planung, wie diese erfolgreich bewältigt werden könnten. So konnte das Problem der unterschiedlichen mentalen Modelle bezüglich der Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben durch die gemeinsame Einarbeitung gelöst werden (s. auch Ellwart et al.
2015; Mathieu et al.
2000). Zudem förderte die face-to-face-Zusammenarbeit zu Beginn den Beziehungs- und Vertrauensaufbau, der die weitere, dann virtuelle Zusammenarbeit erleichtern kann (Kauffeld et al.
2016).