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2011 | Buch

Terrorismusforschung in Deutschland

herausgegeben von: Alexander Spencer, Alexander Kocks, Kai Harbrich

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Über dieses Buch

Die Terrorismusforschung gewinnt als eigenes Forschungsfeld der Politikwissenschaft zunehmend an Bedeutung. Nach dem 11. September 2001 wurden insbesondere im angelsächsischen Teil der Welt unzählige Bücher über das Thema verfasst, Konferenzen organisiert und neben Forschungsprojekten auch eine ganze Reihe von Fachzeitschriften ins Leben gerufen. Auch im deutschsprachigen Raum existiert eine zunehmende Anzahl von Beiträgen zum Thema ‚Terrorismus’, die sowohl traditionell positivistische als auch kritische, konstruktivistische und interdisziplinäre Ansätze verfolgen. Das Sonderheft „Terrorismusforschung in Deutschland“ der Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik (ZfAS) liefert in Form einer Bestandsaufnahme einen Überblick über diese unterschiedlichen Forschungsströmungen und beinhaltet nicht nur politikwissenschaftliche Beiträge, sondern auch Forschungsvorhaben anderer benachbarter Disziplinen wie zum Beispiel der Geschichtswissenschaft und dem Völkerrecht.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Die Entwicklung der deutschen Terrorismusforschung: Auf dem Weg zu einer ontologischen und epistemologischen Bestandsaufnahme

Die Entwicklung der deutschen Terrorismusforschung: Auf dem Weg zu einer ontologischen und epistemologischen Bestandsaufnahme
Zusammenfassung
Knapp zehn Jahre nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 bestimmt das Phänomen des Terrorismus weiterhin in hohem Maße die bundesdeutsche sicherheitspolitische Debatte. Gleichsam hat auch die sozialwissenschaftliche Terrorismusforschung durch dieses Datum eine tiefgreifende Zäsur erfahren: Während das Interesse an Analysen zu Ursachen, Formen und Wirkungen terroristischer Gewalt noch in den 1980er und 1990er Jahren kaum über den Kreis einer überschaubaren Gruppe von Forschern hinausging (Ranstorp 2007), so hat sich die Situation der Randständigkeit des Feldes nach dem 11. September 2001 verändert (Silke 2004; Knelangen 2008): Heute wird die Terrorismusforschung zu den am schnellsten expandierenden Forschungsfeldern gezählt (Jackson 2008; Schulze Wessel 2009). Entsprechende Forschungsarbeiten finden ihren Niederschlag in einer Vielzahl eigener Fachzeitschriften, Konferenzen, Studiengänge, Forschungszentren und Wissenschaftler (Jackson 2009). Schätzungen zufolge wird weltweit alle sechs Stunden ein Buch über das Thema „Terrorismus“ veröffentlicht (Silke 2008). Nicht umsonst hat sich in diesem Zeitraum die Zahl der wissenschaftlichen Beiträge mit Bezug zum Terrorismus gegenüber dem vorangegangenen Jahrzehnt mehr als verdreifacht (siehe Abbildung 1.). Insofern überrascht es auch kaum, dass Einige der Terrorismusforschung gar eine Zukunft als „mature research field“ (Gordon 2010, S. 439) attestieren.
Alexander Kocks, Kai Harbrich, Alexander Spencer

Perspektiven der Terrorismusforschung

Frontmatter
Stand und Perspektiven der politikwissenschaftlichen Terrorismusforschung
Zusammenfassung
Dieser Beitrag möchte eine kurze Einführung in den Stand und die Perspektiven der politikwissenschaftlichen Terrorismusforschung bieten. In der Politikwissenschaft sind vor allem drei Fragestellungen immer wieder im Mittelpunkt der Forschung zu finden: Was ist Terrorismus? Was verursacht Terrorismus? Welche Gegenmaßnahmen können gegen den Terrorismus eingesetzt werden? Der Artikel trägt die jeweils einschlägigen Forschungsergebnisse zusammen und bietet so einen Überblick über den derzeitigen Erkenntnisstand bezüglich dieser policy-relevanten Fragen. Darüber hinaus möchte der Beitrag einige der Problematiken der Terrorismusforschung aufzeigen und über neuere Entwicklungen wie der Kritischen Terrorismusforschung reflektieren. Im Ergebnis wird festgestellt, dass sowohl traditionelle als auch kritische Herangehensweisen häufig um dieselben Probleme kreisen und substanzielle Fortschritte so erschwert werden.
Christopher Daase, Alexander Spencer
Der Terrorismus und das Völkerrecht: Aktuelle Herausforderungen
Zusammenfassung
Die Terroranschläge vom 11. September 2001 haben zu einer neuen Welle der völkerrechtlichen Diskussion über die zentralen Fragen der internationalen Rechtsordnung geführt. Dieser Beitrag soll einen Überblick über Themenkreise geben, die in der Völkerrechtswissenschaft kontrovers diskutiert werden. Terrorismus ist zwar keine völkerrechtliche Rechtskategorie. Das Völkerrecht beschäftigt sich jedoch mit den Rechtsfragen, die sich im Zusammenhang mit terroristischer Gewalt stellen. Dabei werden vor allem die möglichen Auswirkungen des Terrorismus auf das völkerrechtliche Gewaltverbot untersucht. In diesem Kontext steht insbesondere die Frage zur Debatte, ob der Umfang des Selbstverteidigungsrechts, welches eine der Ausnahmen vom völkerrechtlichen Gewaltverbot darstellt, angesichts der Staatenpraxis und terroristischen Sicherheitsrisiken neu zu bestimmen ist. Eine weitere Frage ist, wie das System der gegenseitigen kollektiven Sicherheit der Vereinten Nationen, in dem der UN-Sicherheitsrat eine führende Rolle spielt, mit terroristischen Herausforderungen umgehen sollte. Die vom Sicherheitsrat ergriffenen Anti-Terror-Maßnahmen werden wegen ihrer Unvereinbarkeit mit bestimmten menschenrechtlichen Standards verstärkt kritisiert. Die Frage, wie die möglichen Konflikte zwischen den menschenrechtlichen Verpflichtungen und anti-terroristischen Kooperationspflichten von Staaten zu lösen sind, wird unterschiedlich beantwortet. Darüber hinaus wird die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts auf asymmetrische Konflikte diskutiert, in die Terroristen verwickelt sind. Das humanitäre Völkerrecht soll den vom Konflikt unmittelbar Betroffenen unter allen Umständen einen minimalen humanitären Schutz gewähren. Des Weiteren steht die Staatenpraxis in der Terrorismusbekämpfung aus menschenrechtlicher Sicht zur Debatte. Staaten müssen zwischen dem Menschenrechtsschutz und der Herstellung öffentlicher Sicherheit abwägen, sind dabei aber an die völkerrechtlich festgelegten Menschenrechtsstandards gebunden.
Mindia Vashakmadze
Rational Choice, Spieltheorie und Terrorismusforschung
Zusammenfassung
Die Annahme, Terroristen seien rationale Akteure, stößt vielerorts auf Ablehnung. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Wie können Akteure als rational bezeichnet werden, die bei der Verwirklichung ihrer Ziele den Tod unzähliger unschuldiger Menschen bewusst herbeiführen und sich mitunter selbst opfern? Dabei beruht diese Ablehnung oftmals auf einem Alltagsverständnis von Rationalität und nicht auf einer wissenschaftlich-systematischen Begriffsbestimmung – ein Missstand, dem im Artikel „Rational Choice, Spieltheorie und Terrorismusforschung“ Rechnung getragen werden soll. Im Blickpunkt steht vor allem die Frage, welche Bedeutung die Annahme terroristischer Rationalität für die Staaten und ihren Kampf gegen den Terrorismus hat. Die spieltheoretische Betrachtungsweise bietet sich in diesem Zusammenhang besonders an, da sie strategische Situationen, in denen zwei oder mehr Akteure aufeinandertreffen und ihre Handlungen aufeinander abstimmen, nicht nur zu erfassen, sondern auch zu erklären vermag. Denn nicht erst seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und dem daraufhin vom damaligen US-amerikanischen Präsidenten George W. Bush deklarierten „Global War on Terror“, ist Terrorismus ein internationales Problem, das sich unilateralen Lösungsansätzen entzieht. Dabei wird eines besonders deutlich: In Zeiten globaler Mobilität bestimmt oft das schwächste Glied der Kette die Sicherheit aller. Auf der einen Seite können Staaten mit weniger ausgeprägten Antiterrormaßnahmen so als Einfallstor für Angriffe auf gut geschützte Staaten dienen. Auf der anderen Seite besteht die Möglichkeit, dass Terroristen gezielt Anschläge in schlechter geschützten Staaten verüben, da hier die Erfolgsaussichten besser sind als bei Staaten mit höheren Sicherheitsstandards. (Erfolgreiche) Terrorismusabwehr erfordert also nicht nur international koordiniertes Vorgehen, sie bewegt sich auch im Spannungsfeld zwischen öffentlichen und privaten Gütern.
Dennis Bangert
Terrorismus und Geschichtswissenschaft
Zusammenfassung
Der Beitrag setzt sich mit dem aktuellen Stand der geschichtswissenschaftlichen Terrorismusforschung auseinander. Er basiert auf den folgenden Grundüberlegungen: Bislang spielte die Geschichtswissenschaft in der wissenschaftlichen Analyse des bundesdeutschen Terrorismus der 1970er Jahre oder des gegenwärtigen internationalen terroristischen Geschehens nur eine untergeordnete Rolle. Versuche, zeitgeschichtliche terroristische Phänomene zu historisieren, unternahmen dagegen mitunter Vertreter anderer Disziplinen, ohne dass sich bislang ein überzeugender Ansatz herausgebildet hätte, Terrorismus als spezifisches Phänomen nichtstaatlicher politischer Gewalt für die Epoche seit der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft und der entstehenden Demokratien im Europa (19. – 21. Jh.) analytisch zu fassen. Der Beitrag geht von derzeit relativ konsensfähigen Elementen einer Terrorismusdefinition aus, welche die kommunikativen Funktionen terroristischer Akte in den Mittelpunkt stellen und die verübten Gewaltakte primär als Medium zentraler politischer Botschaften interpretieren. Terrorismus als kommunikative Strategie ist in historischer Perspektive zu verbinden mit bürgerlicher Öffentlichkeit als Austragungsort politischer Debatten und dem Legitimationsdruck, dem staatliche Herrschaft seit dem 19. Jahrhundert unterliegt. Auf der Basis des gewählten definitorischen Zugangs erscheinen öffentliche Debatten über Ausprägungen des Terrorismus als Diskurs, in dem Überlegungen zur Legitimität des Regierungssystems, zu Sicherheitsvorstellungen, Konzepten politischer Partizipation und Regularien des Umgangs mit politischen Minderheiten oder Außenseitern seit dem 19. Jahrhundert „amalgamieren“. Damit geraten Formen der Generierung, Tradierung und Kanonisierung von Wissen und Deutungsmustern im Kontext terroristischen Geschehens in langer Zeitlinie in den Blick. Für einen solchen Ansatz lassen sich Schnittstellen zu zahlreichen historischen Forschungsgebieten aufzeigen: so etwa zur historischen allgemeinen Gewaltforschung, zur Forschung über Erinnerungskultur und zur historischen Genderforschung.
Sylvia Schraut

Terrorismus

Frontmatter
Unsichere Republik? Terrorismus und politischer Mord in der Weimarer Republik und der BRD
Zusammenfassung
Schon in den Anfangsjahren der Weimarer Republik waren politische Morde und deren Verhinderung ein zentrales Problem. Als 1921 der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger und knapp ein Jahr später Außenminister Walther Rathenau Attentaten zum Opfer fielen, lösten diese Morde eine kontroverse Debatte über den Umgang mit politischer Gewalt und Terrorismus aus. Wie konnte Sicherheit wiederhergestellt und gewährleistet werden? Diese Frage war umso drängender, weil mit Erzberger und Rathenau erstmals bedeutende Repräsentanten der Weimarer Demokratie getötet worden waren. Beiden Morden waren vor allem aus rechten Kreisen regelrechte Hetzkampagnen gegen die Politiker vorausgegangen. Die Zeitgenossen bezeichneten diese Morde als Terror und verstanden sie als gezielte Angriffe auf die bestehende politische Ordnung. Die Herstellung von Sicherheit wurde somit auch in den Augen der Zeitgenossen immer mehr zur Überlebensfrage der Republik. Wie wurde versucht, Terrorismus zu verhindern und Sicherheit wiederherzustellen? In einem kurzen Ausblick wird schließlich nach dem Fortleben der Weimarer Erfahrungen bis in die Bundesrepublik der 1970er-Jahre gefragt. „Weimars lange Schatten“ (Christoph Gusy) wirkten im politischen Diskurs der Bundesrepublik nach. Als seit dem Beginn der 1970er-Jahre die ökonomische Krise spürbar wurde und eine erste Welle terroristischer Gewalt aufkam, schienen die Parallelen zur Weimarer Republik unübersehbar. Inwiefern waren die Wahrnehmungs-und Bewältigungsstrategien von Terrorismus auch von der Sichtweise auf die Krise der Weimarer Republik gekennzeichnet?
Christine Hikel
Entwicklung, Verfall und Ende terroristischer Gruppierungen. Von der „Lebenslaufdynamik“ zum erklärenden Entwicklungsmodell
Zusammenfassung
Bis vor wenigen Jahren noch zählten Entwicklung, Verfall und Ende terroristischer Gruppierungen zu den größten Defiziten der führenden Terrorismusforschung, obgleich diese für Bekämpfungsmaßnahmen nutzbar gemacht werden könnten. Diese Studie widmet sich der noch immer vernachlässigten Relation zwischen der Gesamtentwicklung einer terroristischen Gruppierung und deren Endpunkt. Während die führende anglo-amerikanische Forschung sich bisher auf Letzteres konzentrierte, kann diese Korrelation, angeleitet durch die Basisdynamik des so genannten Lebenslaufmodells von A. Straßner – eines deutschen Forschers –, untersucht werden. Diese Studie entfaltet wiederum ihre volle Relevanz erst im Lichte einer us-amerikanischen Theorie zur Motivation terroristischen Verhaltens von M. Crenshaw. Auf diese Weise werden spezifische Entwicklungsdeterminanten bestimmt. Es wird argumentiert, dass man von der Ausprägung dieser Determinanten (instrumentell/zielgerichtet oder organisational/bestandsorientiert) auf vier Entwicklungsszenarien schließen kann: Eine vorherrschend instrumentelle Motivation korreliert bei hoher Unterstützung mit einem Ende durch Erfolg (1) und bei wenig Unterstützung mit einem Ende als Folge einer freiwilligen, rationalen Entscheidung (2). Eine Gruppierung mit einer vorherrschend organisationalen Motivation wird bei höchstens vereinzelter Unterstützung entweder zu keinem Ende finden (3) oder im Strukturkollaps kulminieren (4). Die Entwicklung einer Gruppierung kann bei jedem dieser Szenarien einsetzen. Die Erklärungskraft des Entwicklungsmodells wird anschließend anhand der Fallbeispiele RAF und Provisional IRA evaluiert.
Stephanie Rübenach
Der strategische Ansatz zur Analyse des transnationalen Terrorismus: Das Beispiel Al Qaeda
Zusammenfassung
Die Anschläge des 11. September 2001 haben der (sozial-) wissenschaftlichen Forschung über den Terrorismus neue Impulse verliehen. Insbesondere die Vielzahl der seither erschienenen internationalen Untersuchungen, die einen strategischen Ansatz zur Analyse des transnationalen Terrorismus verwenden, ist in Deutschland bisher aber nur unzureichend wahrgenommen worden. Der vorliegende Beitrag stellt diesen Ansatz ausführlich vor und demonstriert den mit einem strategietheoretischen Zugriff verbundenen analytischen Mehrwert anhand des Fallbeispiels der Mobilisierungsstrategie Al Qaedas. Es wird deutlich, dass auch Al Qaeda das klassische Problem terroristischer Strategien, die Lücke zwischen verfügbaren Mitteln und politischen Zielen zu schließen nicht bewältigen kann. Das Terrornetzwerk befindet sich vielmehr in einem strategischen Grunddilemma, insbesondere nach der weitgehenden Zerschlagung der etablierten Organisationsstrukturen nach 9/11: Einerseits führt der politische Zwang eines militanten, öffentlichkeitsorientierten Aktionismus angesichts fehlender Ressourcen und der Schwächen der Netzwerkorganisation bei der systematischen, langfristigen Konzentration der Kräfte kontraproduktiv zu Angriffen geographisch beschränkter Reichweite und damit zu massiven Verlusten unter den eigenen muslimischen Glaubensgenossen. Andererseits wäre eine längerfristige Planung und Zusammenfassung der verfügbaren Mittel aufgrund des damit verbundenen temporären Verzichts auf Anschläge ein ebenso kontraproduktives Signal der Schwäche gegenüber dem zu interessierenden Dritten, d.h. der zu mobilisierenden Öffentlichkeit und den Volksmassen in der arabisch-muslimischen Welt. Daraus folgt aber, dass die Anerkenntnis der klassischen strategischen Probleme des transnationalen Terrorismus und eine Abkehr von der Betonung seiner vermeintlichen Neuartigkeit einen wichtigen Beitrag zu seiner nachhaltigen Schwächung begründen könnten: Durch eine realistische Sicht der terroristischen Bedrohung und ihrer fundamentalen strategischen Mängel würde auch das Risiko unverhältnismäßiger Reaktionen auf Anschläge verringert. Al Qaeda würde damit ein zentrales Instrument zur Mobilisierung und Erweiterung seiner Basis genommen.
Ralph Rotte, Christoph Schwarz
Das Spannungsverhältnis von Dschihadismus- und Terrorismusanalyse in Wissenschaft und Sicherheitspolitik der BRD
Zusammenfassung
Das innerdeutsche Risiko dschihadistischer Terroranschläge wächst seit einiger Zeit wieder. Doch auch eine Dekade nach 9/11 verfügen deutsche Sicherheitsbehörden über keine konsistente Antiterrorstrategie. Meine Vermutung ist, dass ein Grund hierfür die mangelnde Differenzierung zwischen nahmittelöstlichem Massenislamismus und transnationalem sunnitischen Elitendschihadismus durch die Sozialwissenschaften und Sicherheitsinstitutionen Deutschlands ist. Während viele akademische Terrorismustheorien auf eine Berücksichtigung der spezifisch fundamentalistischen Motivation von Dschihadisten verzichten, bringen die Sicherheitsinstitutionen beinahe jede von Muslimen ausgehende, organisierte Gewalt mit Dschihadismus in Verbindung. Wissenschaft und Sicherheitspolitik haben insofern unterschiedliche blinde Flecken, ergänzen sich aber derzeit kaum, so dass Bedrohungsanalysen häufig zu unpräzise und allgemein ausfallen. Dschihadistische Planungen könnten davon profitieren.
Sebastian Huhnholz

Terrorismusbekämpfung

Frontmatter
Der UN Sicherheitsrat als Diktator: Globale Terrorismusbekämpfung à la Carl Schmitt
Zusammenfassung
Der Beitrag befasst sich mit der Anti-Terror-Politik des UN Sicherheitsrates, die im Kern aus drei außergewöhnlichen Sanktionsregimen besteht. Mit den Resolutionen 1267 (1999), 1373 (2001) und 1540 (2004), die auch als „quasi-Rechtsprechung“ und „Gesetzgebung“ durch den Sicherheitsrat bezeichnet werden, greift der Rat in die Grundrechte von Individuen ein und unterminiert das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten. Dieses Vorgehen ist in der Politikwissenschaft aufgrund seiner vermeintlichen Effektivität fast ausnahmslos befürwortet worden. Im Gegensatz zu dieser dominanten funktionalistischen Lesart verfolgt der Artikel jedoch einen kritischen Ansatz. Es wird dargelegt, dass die Praxis des Sicherheitsrats sich als eine Art globalisiertes Abbild von Carl Schmitts Theorie des Ausnahmezustands verstehen lässt, in dem der Rat als souveräner Diktator mittels extra-legaler Maßnahmen regiert. So zeigt der Beitrag, dass das Vorgehen des Rates dem Projekt einer rechtbasierten internationalen Ordnung zuwiderläuft und dass die Logik des globalen Ausnahmezustands Annahmen zur demokratischen Legitimität globalen Regierens infrage stellt.
Christian Kreuder-Sonnen
Die Effektivität von Counter-Terrorismus am Beispiel des Bundestrojaners: Möglichkeiten kontrafaktischer Analyse
Zusammenfassung
Die Evaluierung der Effektivität von Counter-Terrorismus (CT) ist eine methodische und theoretische Herausforderung. Traditionelle Ansätze wie Zeitreihen analysieren Ereignisse aus der Vergangenheit, können aber keine Aussagen über die Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen über einen längeren Zeitraum in der Zukunft geben. In diesem Beitrag wird argumentiert, dass kontrafaktische Analyse einen Mehrwert bei der Antizipierung von Substitutions-und Innovationseffekten bietet und damit die Konsequenzen terroristischen Verhaltens besser abbildet. Anhand des Beispiels des Bundestrojaners als CT-Instrument wird gezeigt, dass diese Maßnahme terroristisches Verhalten zwar kurzfristig behindert, terroristische Akteure längerfristig aber Mittel und Wege finden werden, um den Bundestrojaner zu umgehen. Die Überwachung terroristischer Aktivitäten wird damit erschwert und nicht erleichtert.
Franz Eder
Terrorismusbekämpfung jenseits funktionaler Problemlösung: Was beeinflusst politisches Handeln im Kampf gegen den Terrorismus?
Zusammenfassung
Zahlreiche Maßnahmen, die der Bekämpfung des Terrorismus dienen sollen, sind von fragwürdigem Nutzen. Wieso gelangen sie dennoch auf die politische Agenda? Um die Hintergründe und Grundlagen der Entscheidungen für bestimmte Maßnahmen besser verstehen und systematischer erforschen zu können, schlagen wir eine explorative Forschungsagenda vor, die auf drei unterschiedlichen Entscheidungs-und Handlungslogiken beruht: der Logik der strategischen Aushandlung, des symbolischen Handelns und des kulturbedingten Verhaltens. Daraus leiten wir drei Sichtweisen auf die Terrorismusbekämpfung ab: Terrorismusbekämpfung als Möglichkeitsraum betont, dass politische Unternehmer Gelegenheitsfenster nutzen, um ihre präferierten Politiken durchzusetzen; Terrorismusbekämpfung als Signalisierungsstrategie unterstreicht die symbolische Bedeutung politischer Entscheidungen, bei denen es vor allem auf Sichtbarkeit ankommt; Terrorismusbekämpfung als kulturelle Praxis verweist auf kulturelle und habituelle Standards, durch die bestimmte Maßnahmen als naturgegeben erscheinen, während andere von vornherein ausgeschlossen werden. Wir illustrieren das Erklärungspotenzial dieser drei Perspektiven, die wir als komplementär betrachten, anhand von Beispielen aus westlichen Demokratien.
Hendrik Hegemann, Regina Heller, Martin Kahl
Beginn eines goldenen Zeitalters der Terrorismusforschung oder macht der Letzte bitte das Licht aus?
Zusammenfassung
Obwohl die Nachfrage nach Terrorismusforschung nicht nur weiterhin boomt, sondern ihr gar eine Zukunft als „stand-alone subject entering a golden age of research“ (Shepherd 2007; Attwood 2007) attestiert wird, sieht sich das Forschungsfeld mit einigen zentralen Herausforderungen konfrontiert.
Kai Harbrich, Alexander Kocks, Alexander Spencer
Metadaten
Titel
Terrorismusforschung in Deutschland
herausgegeben von
Alexander Spencer
Alexander Kocks
Kai Harbrich
Copyright-Jahr
2011
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-93040-4
Print ISBN
978-3-531-17729-8
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-93040-4