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2022 | OriginalPaper | Buchkapitel

4. Theoretische Annahmen zu den durch Leer- und Unbestimmtheitsstellen evozierten Rezeptionsprozessen

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Zusammenfassung

Das vierte Kapitel geht der Frage nach, wie sich Leer und Unbestimmtheitsstellen auf den Rezeptionsprozess auswirken. Dazu werden innerhalb unterschiedlicher Fachdisziplinen vorliegende Rezeptions-, Bildverstehens- und Textverstehenstheorien in den Blick genommen.

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Fußnoten
1
Der Begriff „mental model“ wurde von Johnson-Laird (1983) etabliert und steht dem Begriff „situation model“ nahe, der von van Dijk und Kintsch (1983) eingeführt wurde.
 
2
Van Dijk und Kintsch (1983) weisen selbst darauf hin, dass es Vorläufer für die Annahme eines Situationsmodells gibt und verweisen dabei auf einen Aufsatz von Johnson-Laird (1980) zu mentalen Modellen in der Kognitionswissenschaft.
 
3
Im Gegensatz dazu begreift Johnson-Laird das mentale Modell nicht als propositionale Struktur, sondern als referentielle Repräsentation der Ereignisse, Situationen, Personen, Räume etc., die sie repräsentieren (vgl. Richter/Schnotz 2018, S. 827).
 
4
Wie sich die Konkretisationstätigkeit der Leser*innen bzw. Betrachter*innen bei der Lektüre bzw. Bildbetrachtung Ingardens Auffassung nach gestaltet, wurde in den Abschnitten 3.​1.​1.​3, 3.​1.​1.​4 und 3.​2.​1.​2 bereits ausführlich erläutert.
 
5
„Immer dort, wo Textsegmente unvermittelt aneinanderstoßen, sitzen Leerstellen, die die erwartbare Geordnetheit des Textes unterbrechen.“ (Iser 1976, S. 302)
 
6
Letztlich kann man sich den Komplettierungsakt beim Füllen von Unbestimmtheitsstellen, anders als Iser es hier tut bzw. es Ingarden zuschreibt, ebenfalls als Wechselbeziehung zwischen Text und Leser*in vorstellen. Spinner merkt in seinen Erläuterungen zu dem Aspekt „Beim Lesen und Hören Vorstellungen bilden“ sogar an, dass diese Art der Vorstellungsbildung nur dann „einem vertiefenden Verstehen dienen“ kann, wenn es sich nicht um ein „beliebiges Fantasieren“ handelt, sondern um „ein ‚Entfalten‘ […] dessen, was im Text angelegt ist“ (Spinner 2006, S. 8). Das setzt voraus, dass der/die Leser*in die gebildeten Vorstellungen immer wieder am Text überprüft und bereit ist, die von ihm gebildeten Vorstellungen im Laufe der Lektüre aufgrund neuer Textinformationen immer wieder zu modifizieren.
 
7
In Abschnitt 3.​1.​2.​1 wurde aufgezeigt, dass dies Isers Ansicht nach auch für nicht-fiktionale bzw. expositorische Texte gilt, da diese „einen Gegenstand vorstellen oder mitteilbar machen, der eine vom Text unabhängige Existenz bes[itzt]“ (Iser 1975a, S. 231) und Unbestimmtheitsbeträge mithilfe dieses Referenzbeziehung abgebaut werden könnten.
 
8
Isers oben genannte Unterscheidung zwischen verbaler und affektiver Struktur erinnert an diejenige Löseners zwischen der „situativer Wirkung“ und „Wirkungsweise“ des literarischen Textes. Lösener zufolge kann ein literarischer Text „je nach Leserdisposition durchaus unterschiedliche Wirkungen hervorrufen; je nach Alter, Lebens- und Leseerfahrungen, Interesse, Stimmung etc. wird jeder Leser deshalb anders auf die Geschichte reagieren. Aber das bedeutet nicht, dass diese Wirkungen nur aus den situativen Gegebenheiten resultieren, sie sind auch abhängig vom Text selbst, von seiner Sinnaktivität, die sich als Wirkungsweise beschreiben lässt. Der Begriff ‚Wirkungsweise‘ bezeichnet folglich die Art und Weise, wie ein Text Wirkungen produziert. Sie ergibt sich aus dem jeweiligen Zusammenspiel der sinnmachenden Bezüge des Textes. Das können ebenso gut syntaktische, lexikalische oder phonematische Verknüpfungen sein wie narrative, motivische oder perspektivische.“ (Lösener 2010, S. 12–13) Lösener verweist darauf, dass sich sein Begriff der „Wirkungsweise“ „von Isers Konzept des Wirkungspotentials“ eines literarischen Textes insofern unterscheide, als „die Wirkungsweise sich nicht in der Aktivierung des Lesers bei der Auflösung von Unbestimmtheitsstellen erschöpfe. Es ginge weniger um Formen der Leserlenkung, als um die Modellierung von Leseerfahrungen insgesamt.“ (Ebd., S. 12) Löseners Konzept der Wirkungsweise unterscheidet sich insofern von Isers Konzept der Leerstelle, als die Wirkungsweise des Textes zwar einen Einfluss auf die situative Wirkung haben kann, diese aber nicht konditioniert. Die situative Wirkung ist bei Lösener anders als bei Iser mehr als „eine Erfüllung“ der Wirkungsweise.
 
9
Interessant ist, dass der/die sich dem impliziten Leser anverwandelnde empirische Leser*in bei Iser vermutlich einiges mit dem „feinfühlige[n], genügend künstlerische Kultur besitzenden Leser“ (Ingarden 1968, S. 332) gemeinsam hat, der Ingarden zufolge in der Lage ist, unwillkürlich richtig mit Unbestimmtheitsstellen umzugehen.
 
10
Ingarden würde die von Huber beschriebene Fotografie den „Bilder[n] mit ‚literarischem Thema‘ zuordnen, da sie einen Moment, eine Phase eines Gesamtgeschehens zeigt und dadurch über sich selbst auf dieses Gesamtgeschehen hinausweist (vgl. Abschn. 3.​2.​1.​1).
 
11
Was Huber hier in Bezug auf fotografische Werke beschreibt, lässt sich problemlos auf gemalte Bilder übertragen.
 
12
Das gilt für Leer- und Unbestimmtheitsstellen in Bildern sowie für solche in anderen ästhetischen Gegenständen wie dem literarischen Text gleichermaßen.
 
13
Das Modell wurde zu Beginn des vierten Kapitels bereits grob erläutert. Um Strasens Aufbereitung desselben nachvollziehbar zu machen, wird das dort Ausgeführte hier teilweise noch einmal wiederholt.
 
14
Strasen merkt an dieser Stelle an, dass insbesondere Studien Zwaans (1991, 1994) nicht nur empirische Hinweise darauf liefern, dass die Oberflächenstruktur bei der Textverarbeitung grundsätzlich partiell gespeichert wird, sondern auch darauf, dass dies für literarische Texte bzw. für Texte, die den Rezipient*innen als literarisch präsentiert werden, in besonderem Maße gilt (vgl. Strasen 2008, S. 30, Fußnote 19).
 
15
Der Aufbau eines Situationsmodells liefert Strasen zufolge eine plausible Erklärung für unterschiedliche Rezeptionsresultate bei der Lektüre literarischer Texte. Denn da die literarische Textwelt oft anderen Regeln folge als die tatsächliche Welt, liege es nahe, dass in die Konstruktion von Situationsmodellen zu literarischen Texten „weit weniger intersubjektiv normiert[es]“ Wissen eingehe „als etwa in diejenige zu Sachtexten“ (ebd., S. 35).
 
16
Strasen führt zur Erläuterung des Schemabegriffs folgende Definition Minskys an, in dessen Terminologie Schemata als frames bezeichnet werden: „A frame is a data-structure for representing a stereotyped situation like being in a certain kind of living room or going to a child’s birthday party.“ (Minsky 1979, S. 1–2).
 
17
Strasen geht davon aus, dass es bei der Bildung literarischer Situationsmodelle aufgrund einiger Spezifika von Literatur zu besonderen Herausforderungen kommen kann. Dazu gehöre beispielsweise, dass „die partielle Suspendierung von Echtweltwissen in fiktionalen Texten zu einer größeren Bandbreite der Hintergrundannahmen [führt], die dem Text zugrunde liegen könnten“, und dass „[d]ie formale Gestalt der Oberflächenstruktur […] in literarischen Texten häufig in weit höherem Maße bedeutungstragend [ist] als in anderen Formen von Kommunikation“ (ebd., S. 119). Um ein Modell literarischer Rezeption zu entwickeln, müsse daher nicht nur geklärt werden, welche Mechanismen bei der Bildung von Situationsmodellen in der Kommunikation generell wirksam werden, sondern auch geprüft werden, welche Besonderheiten der Kontextualisierung bei der Rezeption von Literatur es den Rezipient*innen ermöglichen, spezifische Probleme bei der Bildung literarischer Situationsmodelle – zu denen insbesondere auch das Ausfüllen bzw. die Normalisierung von Leer- und Unbestimmtheitsstellen gehört – zu überwinden (vgl. ebd., S. 127).
 
18
„A fact is manifest to an individual at a given time if and only if he is capable at that time of representing it mentally and accepting its representation as true or probably true. A cognitive environment of an individual is a set of facts that are manifest to him.“ (Sperber/Wilson 1995 [1986], S. 39, zitiert nach Strasen 2008, S. 161, Hervorh. i. O.)
 
19
Für die Existenz eines solchen Kontrollsystems spricht auch die in Abschnitt 4.3 erläuterte These Weidenmanns, der Tendenz zur minimalen Verarbeitungsintensität bei der Bildbetrachtung würde ein „Bedürfnis nach Stimulation und Abwechslung“ (Weidenmann 1988, S. 93) entgegenwirken.
 
20
Dass die Literatur zu einer solchen Überprüfung beitragen kann, verleiht ihr Strasens Ansicht nach eine zentrale Bedeutung innerhalb kultureller Gemeinschaften: „Ohne die Anpassung ihrer kulturellen Modelle an verschiedene soziale und materiale Bedingungen könnten sie [Diskursgemeinschaften, KR] die Aufgabe, erfolgreiches Handeln in komplexen kognitiven Umwelten zu ermöglichen und die Basis für die Kommunikation über relevante Sachverhalte zu schaffen, nicht erfüllen.“ (Strasen 2008, S. 344) Die Literatur – und das müsste für alle anderen ästhetischen Gegenstände gleichermaßen gelten – biete dafür aufgrund ihrer Entpragmatisierung einen idealen Raum.
 
Metadaten
Titel
Theoretische Annahmen zu den durch Leer- und Unbestimmtheitsstellen evozierten Rezeptionsprozessen
verfasst von
Katharina Rist
Copyright-Jahr
2022
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-39611-4_4