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Open Access 2020 | OriginalPaper | Buchkapitel

3. Theoretische Grundlagen: Beitrag der soziologischen Systemtheorie

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Zusammenfassung

Vor dem Hintergrund des Fehlens von genuin organisationssoziologisch angeleiteten Studien zu vormodernen Fällen der Organisationsbildung begründe ich im Folgenden die Wahl eines systemtheoretischen Zugangs. Die Ausgangsvermutung dieser Arbeit ist, dass sich mit der Gründung des RKG am Ende des 15. Jahrhunderts die Strukturbedingungen der höchsten Rechtsprechung von der Interaktion unter Anwesenden auf formale Organisation umstellten.
Hinweise
Die Originalversion dieses Kapitels wurde revidiert. Ein Erratum ist verfügbar unter https://​doi.​org/​10.​1007/​978-3-658-32872-6_​8
Vor dem Hintergrund des Fehlens von genuin organisationssoziologisch angeleiteten Studien zu vormodernen Fällen der Organisationsbildung begründe ich im Folgenden die Wahl eines systemtheoretischen Zugangs. Die Ausgangsvermutung dieser Arbeit ist, dass sich mit der Gründung des RKG am Ende des 15. Jahrhunderts die Strukturbedingungen der höchsten Rechtsprechung von der Interaktion unter Anwesenden auf formale Organisation umstellten. Bei dieser Systemumstellung, so meine These, hat sich eine Erwartungsordnung ausgebildet, die sich von der Rechtskommunikation in der vormodernen Gesellschaft unterschied. Die Rechtsprechung am RKG war dabei nicht mehr primär durch gesellschaftlich institutionalisierte Werte und ständische Autoritätspersonen als vielmehr durch formale und informale (Teil-)Strukturen einer organisierten Mitgliedsrolle vorgezeichnet. Will man mithilfe der Vielzahl an Studien der RKG-Forschung genauer die gesellschaftlichen Bedingungen in den Blick nehmen, unter denen die oberste Rechtsprechung am RKG stattfand, setzt dies die Wahl eines theoretischen Zugangs voraus, der es erlaubt, das Verhältnis von organisatorischer und gesellschaftlicher Differenzierung weniger komplementär als in seiner historischen Brüchigkeit zu bestimmen.
Mein Vorschlag in dieser Arbeit ist, dass die soziologische Systemtheorie – als eine genaue und allgemeine Theorie – ein differenziertes Begriffs- und Beobachtungsinstrumentarium zur Untersuchung der Rechtsprechungsstrukturen am RKG liefert.1 Der Vorzug dieser theoretischen Ausrichtung kann für eine historisch-soziologische Organisationsforschung darin gesehen werden, dass sie Organisationen einerseits in sozialtheoretischer Hinsicht eindeutig gegenüber anderen Ordnungsformen (z. B. Netzwerken, Bewegungen, Gruppen oder Institutionen) sowie andererseits gesellschaftstheoretisch im Verhältnis zur Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme zu spezifizieren erlaubt.
Ein gesellschaftstheoretisch konsistentes Instrumentarium ist – mit Luhmann gedacht – insbesondere deshalb erforderlich, um die Beobachtungen aus den RKG-Forschungen weder im Hinblick auf beliebige System- und Strukturverhältnisse zu (über-)generalisieren noch in Bezug auf eine einzelne Analysereferenz absolut zu setzen (vgl. Luhmann 1972c, 246). Will man also aus historisch-empirischer Perspektive die Bedingungen organisierter Rechtsprechung erschließen, so gilt es, mit einer Pluralität von Systemverhältnissen und einer Gradualität von Strukturausprägungen zu rechnen. Im Vergleich zu heuristischen Zugängen spitzen sich damit bei einer gesellschaftstheoretisch angeleiteten und historisch interessierten Organisationsforschung die Unterscheidungsleistungen noch einmal zu (siehe auch Schwarting 2019).2 Luhmann selbst notiert dazu: „Kompliziert wird die Analyse dadurch, daß man nicht nur einzelne Funktionen etwa für religiöse Weltdeutung, für kollektive politische Entscheidung, für rechtliche Konfliktlösung, für wirtschaftliche Produktion, für Versorgung und Erziehung des Nachwuchses usw., zu unterscheiden hat, sondern innerhalb dieser Funktionsbereiche auch noch Ausdifferenzierungsebenen, nämlich: situationsweise, rollenmäßig, systemmäßig“ (Luhmann 1976, 291).
Bei der Einführung der theoretischen Beobachtungsmittel, die für die Spezifizierung der System- und Strukturveränderungen am RKG als instruktiv erscheinen, gehe ich in drei Schritten vor. In einem ersten Schritt sollen mit Blick auf die problematisierten Unschärfen in der soziologischen Organisationsforschung die Begriffe System und Struktur abgegrenzt werden. Zentral für das Verständnis sozialer Systeme ist, dass sich diese auf Basis von situationsübergreifenden Verhaltenserwartungen ausdifferenzieren (Abschn. 3.1). Die Bestimmung der Persistenz und Varianz von Verhaltenserwartungen gibt dabei Aufschluss über die Ausdifferenzierung von Organisationen gegenüber ihrer gesellschaftlichen Umwelt. In einem zweiten Schritt führe ich in zentrale organisationssoziologische Konzepte ein. Dazu zählt ein allgemeiner Organisationsbegriff, der die Akzeptanz bestimmter mitgliedschaftsfähiger Verhaltenserwartungen als konstitutiv ansieht und das Zusammenwirken von formalen Entscheidungsprämissen und informalen Praktiken in ihrer jeweiligen Gradualität nachzuzeichnen vermag (Abschn. 3.2).
Neben der theoretischen Bestimmung eines dezidierten Organisationsbegriffs verlangt die Beantwortung der Frage nach der Umstellung der Rechtsprechungsbedingungen von Interaktion auf Organisation drittens nach gesellschaftstheoretischen Vorannahmen (Kap. 3.). Gleichwohl das Verhältnis von Organisationsbildung und gesellschaftlicher Differenzierung in der soziologischen Systemtheorie weitgehend unklar geblieben ist, versuche ich, ausgewählte Aussagen und Unterscheidungen Luhmanns für die Untersuchung der Organisationsgenese des RKG fruchtbar zu machen. Um den tautologischen Globalzusammenhang von Organisationsbildung und gesellschaftlicher Differenzierung für historisch-empirische Forschungen aufzuschließen, gilt es zunächst, die gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen der Ausdifferenzierung von Organisationen zu vergegenwärtigen. Bei dem Argument, dass Organisationsbildung Beiträge verschiedener Funktionssysteme wie Geld, Recht und Erziehung voraussetzt (Abschn. 3.3.1), stellt sich umgekehrt die Frage, welche Beiträge Organisationen für die Gesellschaft bzw. deren Teilsysteme erbringen (Abschn. 3.3.2). Mit Blick auf die These, dass es sich beim RKG um eine organisierte Rechtsprechung handelt, die in einer vormodernen, stratifizierten Gesellschaft stattfand, unterscheide ich sodann zwischen Personen, Rollen, Programmen und Werten als vier sachlich generalisierten Erwartungszusammenhängen. Durch die Abgrenzung verschiedener Abstraktionsgrade von Verhaltenserwartungen können Ausdifferenzierungsprozesse auf der Ebene der Gesellschaft und Organisation zugerechnet werden (Abschn. 3.3.3). Schließlich greife ich auf die eingangs erwähnte und bisher ungenutzte Unterscheidung von originärer und abgeleiteter Organisationsbildung zurück (Abschn. 3.3.4). Diese erlaubt es, das Verhältnis von Organisation und Gesellschaft anhand der Frage zu konkretisieren, auf welchen situationsübergreifenden Problemkontext mit der Einrichtung einer Organisation reagiert wurde.

3.1 Unterscheidung von System und Struktur

Die Frage nach der Systemumstellung und den Strukturbesonderheiten einer organisierten Rechtsprechung am RKG berührt den Zusammenhang von Organisation, Recht und Gesellschaft. Entsprechend bedarf es theoretisch-begrifflicher Beobachtungsmittel, die sich für die Erschließung von Ausdifferenzierungsprozessen auf verschiedenen Systembildungsebenen und der Gradualität ihrer Strukturformen sensibel zeigen. Ähnlich wie die Differenzierung von Form und Inhalt innerhalb der klassischen Soziologie lässt sich bei Luhmann die Unterscheidung von System und Struktur verstehen, die Teil der Theorie sozialer Systeme (1984) bzw. seiner Theorie der modernen Gesellschaft (1997) ist. Die Entfaltung eines gesellschaftstheoretisch abgesicherten Strukturbegriffs lässt sich auf die angesprochene Prämisse zurückführen, dass alle Ausdifferenzierungs- bzw. Systembildungsprozesse – sei es auf der Ebene von Interaktion, Organisation oder Gesellschaft – durch Erwartungen bedingt sind.
Für die historisch-empirische Rekonstruktion der Rechtsprechung am RKG hat ein gesellschaftstheoretisch abgeleitetes System- und Strukturverständnis den Vorzug, dass es erlaubt, die Rechtskommunikation vor der Gründung des Gerichts bzw. während seiner Existenz (siehe Kap. 5) wie auch das Spektrum an formalen und informalen Organisationsstrukturen am RKG mit einheitlichen Begriffsmitteln vergleichend zu bestimmen (siehe Kap. 6).
Historische Ereignisse lassen sich nicht in ihrer puren Gegebenheit und Verkettung verstehen, sondern erst in ihrer Selektivität und Kontingenz. Die Relation der faktischen und möglichen Verhaltensanschlüsse richtet sich dabei nach den jeweiligen Strukturen eines Systems. Der Strukturbegriff wird hier im Sinne von Erwartungen3 verwendet, die den Rahmen für die im System zugelassenen Verhaltensanschlüsse angeben. Durch die Spezifikation von Strukturen differenziert sich ein System zugleich von seiner Umwelt. Welche Umwelt ein System entwirft, hängt dabei wiederum von seiner jeweiligen Systemstruktur ab. Denn diese stellt nicht nur die Grundlage für die selektive Informationsverarbeitung dar, sondern auch für das Invarianthalten von Systemgrenzen (vgl. Luhmann 1966a, 91 f., 1984, 172, 383 ff., 1999a, 54 ff., 270).
Systemgrenzen spiegeln in diesem Sinne Erwartungsgrenzen wider, die Einschränkungen des kommunikativ Möglichen vornehmen, denn Personen, die handeln, erwarten bestimmte Reaktionen und Folgen auf diese Reaktionen. Als Beispiel: Schon eine Begrüßung unter Bekannten und ihre Erwiderung bedeuten eine Einschränkung des Möglichkeitsspielraums. Ein Gesprächsabbruch nach der Begrüßung würde ohne eine Erklärung als unerwartet qualifiziert werden. Tritt ein Ereignis nicht in einem Zusammenhang aufeinander verweisender Erwartungen auf, so wird es entsprechend nicht dem jeweiligen System (z.B. im obigen Fall einer Face-to-Face-Interaktion) zugerechnet, sondern seiner Umwelt (z.B. einer anderen Interaktion). Die Leistung von Systembildung besteht dabei darin, soziale Komplexität und die Veränderlichkeit der Umwelt auf ein Ausmaß zu reduzieren, das soziale Kommunikation anschlussfähig hält. In der Übernahme bestimmter Erwartungen und einer damit verbundenen systemeigenen, vereinfachten Perspektive besteht umgekehrt formuliert das Risiko des Systemerhalts. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass sich Systemprobleme in einer Gesellschaft letztlich auf Probleme der Erwartungsstabilisierung zurückführen lassen (vgl. Luhmann 1966a, 65, 91 f.; 1972a, 31 ff., 80 ff.; 1984, 172, 397).
Mit der Einsicht, dass die Bildung sozialer Systeme sich auf der Ebene von Verhaltenserwartungen vollzieht, ist verbunden, dass soziale Kommunikation – je nach Beobachterperspektive – mehreren Systemen zugleich zugerechnet werden kann (vgl. Luhmann 1999a, 59 f., siehe auch 1972a, 308 ff.; 2014, 43 ff.). Dies bedeutet beispielsweise, dass ein kommunikatives Ereignis nicht von einem sozialen System exklusiv als Element verwendet bzw. erzeugt wird. Inwiefern ein Ereignis als systeminterne Information Relevanz gewinnt, ist von den jeweiligen Strukturverhältnissen abhängig. Zahlungen, Rechts- oder Wahrheitsfragen erfahren für Organisationen lediglich auf der Ebene bestimmter Aufgaben und Regeln (Programme) Resonanz.
Bevor ich die gesellschaftstheoretischen Unterscheidungen vorstelle, die für die empirische Erschließung des Zusammenhangs von Organisationsbildung und gesellschaftlicher Differenzierung instruktiv erscheinen (Abschn. 3.3), führe ich zunächst in das Verständnis formaler Organisation ein, das Luhmann in zwei Werken (1999a, 2006) und mehreren Aufsätzen (1966a, 1972c, 1978a, 2018) ausgearbeitet hat.

3.2 Funktionen und Folgen formal organisierter Sozialsysteme

Nachfolgend werden die zentralen Annahmen eines systemtheoretischen, allgemeinen Organisationsbegriffs dargelegt. Dabei soll gezeigt werden, dass die theoretische Unterscheidung von formalen und informalen Verhaltenserwartungen als Teilstrukturen desselben Sozialsystems erlaubt, bei der historisch-empirischen Untersuchung des RKG, nicht nur nach den Funktionen einer formalen Strukturtypik zu fragen. Vielmehr geraten darüber hinaus auch die latenten (dysfunktionalen) Folgeprobleme einer Formalstruktur in den Blick, wie beispielsweise interne Widersprüche und Rollenkonflikte. Mit den Folgeproblemen der Formalstruktur sind wiederum Fragen danach möglich, welche informalen (brauchbaren wie ‚illegalen‘) Beiträge sich zur Stabilisierung formaler Erwartungen entwickeln.
Durch die systeminterne Differenzierung von Teilsystemen, die jeweils voraussetzen und ausnutzen, dass in anderen Teilsystemen vorher, gleichzeitig oder nachher komplementäre oder konfligierende Leistungen erbracht werden, ergibt sich die vermutlich wichtigste Errungenschaft organisierter Sozialsysteme. Diese besteht darin, dass Organisationen im Gegensatz zu einfachen Interaktionen eine dauerhafte Kooperation mit Nichtanwesenden und Unbekannten ermöglichen.

3.2.1 Formale Verhaltenserwartungen

Organisationen sind als eigener Systemtyp dadurch charakterisiert, dass sie ihre Grenzen durch die Übernahme einer Mitgliedsrolle definieren. Die Mitgliedschaft ergibt sich dabei nicht aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht; sie ist kein gesellschaftlich erworbener Status (vgl. Luhmann 1997, 829). Vielmehr bezeichnet Mitgliedschaft eine temporäre Rolle, das heißt ein Bündel von Fremd- und Selbsterwartungen, an denen soziale Kommunikationen ausgerichtet sind. Sie betrifft damit nicht mehr – und dies ist historisch relevant – die ganze Person, sondern bestimmte Verhaltensausschnitte. Diese Partialinklusion basiert auf der Differenzierung von Person und Rolle einerseits und der Trennung von eigenen anderen Rollen andererseits. Als Beispiel: „Väter, Erstgeborene und Mittelstürmer haben in der Organisation keine besonderen Rechte“ (Luhmann 1999a, 65).
Der zentrale Mechanismus des Mitgliedschaftsprinzips besteht konkret darin, persönliche Motive mit personenunabhängigen Erwartungen in Übereinstimmung zu bringen. Die Mitgliedschaftserwartungen spiegeln dabei diejenigen Strukturanteile in Organisationen wider, denen nicht erkennbar widersprochen werden kann, ohne dass die Mitgliedschaft selbst riskiert wird. Solange die Mitgliedschaft attraktiver ist als die Nichtmitgliedschaft, erhält sie Erwartungssicherheit unabhängig von der inneren Zustimmung.4 Man zeigt „Konformismus im offenen Handeln und persönliche Distanz zum eigenen Verhalten, künstliche Indifferenz und Freundlichkeit, Maskierung der eigentlichen Meinung zur Schonung fortlaufender Kontakte, Verzicht auf das, was einem das liebste wäre, zugunsten akzeptabler Lösungen, und dies alles um so ausgeprägter, je vorteilhafter die Mitgliedschaft im allgemeinen ist“ (Luhmann 1999a, 95).
Die Motivation zur Mitgliedschaft beruht damit auf ihrer generalisierten „Kapitalisierung“ (Luhmann 1999a, 94 f.). Mithilfe der Autoritätsunterwerfung gegen Geld wird es möglich, bestimmte Verhaltensweisen trotz persönlich abweichender Motive relativ dauerhaft zu reproduzieren. Während einfache Erwartungen aufgegeben oder geändert werden, wenn das Erwartete nicht eintritt, wird an einer generalisierten Verhaltenserwartung auch bei enttäuschten Erwartungen festgehalten. Das erkaufte Bekenntnis zu den formalen Erwartungen einer Organisation, denen man sich mit der Entscheidung zur Mitgliedschaft verpflichtet hat, wirkt in dieser Weise systembildend (vgl. Luhmann 1975a, 13; 1999a, 42, 68 f., 89 f.): „Die Soldaten marschieren, die Schreiber protokollieren, die Minister regieren – ob es ihnen in der Situation nun gefällt oder nicht“ (Luhmann 1975a, 12).
Der Freiwilligkeit einer Mitgliedschaft sind unter den Bedingungen von Geldwirtschaft mithin relativ hohe Grenzen gesetzt – wenn diese bei prekären wohlfahrtsstaatlichen Ausprägungen nicht gar zur bloßen Fiktion wird. Historisch gelesen stellt die Mitgliedsrolle damit eine Tarnbezeichnung für das Arbeitsvertragsverhältnis dar.5 Ihre kollektive Bindungswirkung gewinnen formale Erwartungen mit anderen Worten aus einer generalisierten (situationsübergreifenden) Selbstverpflichtung, nach der sich das Verhalten innerhalb der Mitgliedsrolle selektiv gegenüber alternativen Erwartungen abhebt (vgl. Luhmann 1972a, 40; 1972c, 257, siehe auch 1999a, 69 ff.).
Mit dem Systembildungsprinzip einer erwartungsbasierten Mitgliedsrolle sind zwei Formen der Mobilisierung von Entscheidungen verbunden. Diese für Organisationen spezifische Doppelkontingenz betrifft (a) die Entscheidung über die Mitgliedschaft und (b) Entscheidungen über die formalen Strukturmerkmale innerhalb der Mitgliedsrolle – der sogenannten Entscheidungsprämissen.
(a) Dadurch, dass die Übernahme einer Mitgliedsrolle an die Erfüllung bestimmter generalisierter Erwartungen geknüpft wird, kann der Ein- und Austritt als Entscheidung6 unterstellt werden. Für Dritte bindende Entscheidungszumutungen gibt es zwar auch in Familien oder Freundschaftsgruppen. Diese finden gleichwohl unter anderen Bedingungen statt. In Organisationen konstituieren sich Entscheidungen wechselseitig in einem Verweisungshorizont anderer Entscheidungen, sodass mehr Verhaltensweisen als Entscheidung zugerechnet werden, als es einem elementaren Interaktionsverlauf entsprechen würde. Entscheidungen treten in Organisationen insbesondere dadurch hervor, dass sie an sachlogischen Gesichtspunkten bzw. Funktionsbezügen orientiert sind (vgl. Luhmann 1999, 20 ff., 54 ff.; 177; 1978a, 18 ff.; siehe auch Nassehi 2005, 187).
Das erwähnte Verständnis über die Disponierbarkeit einer Mitgliedsrolle ist für die historisch-empirische Fundierung einer organisierten Rechtsprechung am RKG zentral: Man kann Mitglied sein oder nicht, eintreten und austreten. Aber wenn man sich für eine Mitgliedschaft entscheidet, wird das Verhalten als Mitglied an bestimmte Bedingungen in Form rollenspezifischer Erwartungen geknüpft. Die Verhaltenserwartungen, die in einer Organisation gelten, werden mit anderen Worten benutzt, um die Bedingungen für den Erwerb und Verlust der Mitgliedschaft zu markieren. Aufgrund ihrer Expliziertheit lässt sich das Bekenntnis für eine Mitgliedschaft etwa anhand von Eiden und Verträgen beobachten. Sie müssen aber nicht ausschließlich schriftlich fixiert sein, sondern können ebenso mündlich stabilisiert werden (vgl. Luhmann 1999a, 137 ff.).
(b) Außerdem sind die organisatorischen Entscheidungen über die Ausprägung eben jener Mitgliedsrolle kontingent. In der (unterstellbaren) Entscheidbarkeit über die Mitgliedschaft und den jeweiligen Organisationsstrukturen zeigt sich die Variabilität, nach der sich Organisationen einerseits von anderen Organisationen unterscheiden und andererseits auch historisch von gesellschaftlichen Formen der Ordnungsbildung abgrenzen. Bedeutend ist, dass mit der oben genannten Pauschalunterwerfung unter eine Systemautorität zugleich die Bereitschaft erkauft wird, auch bei umgedeuteten oder geänderten Organisationszwecken Mitglied zu bleiben. Die entscheidende Voraussetzung für strukturelle Anpassungen ist, dass ihre Mitglieder mit dem Eintritt gewisse Variationen der Formalstruktur bereits akzeptiert haben. Der Mitgliedschaftsvertrag kommt damit einer Art Blankoscheck gleich. Mit der Unterschrift oder dem Eid erklären Mitglieder, sich innerhalb einer gewissen „Indifferenzzone“ gegenüber bislang noch unspezifischen Fremderwartungen „indifferent“ zu verhalten (vgl. Barnard 1938, 167 ff.). Organisationen können auf diese Weise auch mit der Folgebereitschaft bei neu entschiedenen, veränderten Strukturen (Zwecken, Programmen und Kommunikationswegen) seitens wechselnder Mitglieder rechnen (vgl. Luhmann 1999a, 39 ff., 99 ff., 137 ff.; 2006, 17, 114).
Mit der Anpassung der formalen Strukturen einer Organisation sind sogenannte Entscheidungsprämissen benannt, d. h. solche Entscheidungen, deren Resultate unhinterfragt als Prämisse für eine Vielzahl weiterer Entscheidungen dienen – sei es qua Erinnerung oder qua Antizipation. Wie oben ausgeführt, geben Strukturen einen Rahmen zur Auswahl der im System möglichen Kommunikationsanschlüsse an. Sie bezeichnen mit anderen Worten situationsübergreifende Vorgaben und Voraussetzungen für Verhaltensanschlüsse, ohne diese zu determinieren. Zwar kann jede Einzelentscheidung auch durch ihren rekursiven Vollzug auf bestimmte Themen einen Strukturwert gewinnen und Pfadabhängigkeiten entwickeln. Im Vergleich dazu werden formale Strukturentscheidungen in Organisationen jedoch explizit markiert. Sie unterliegen höheren Anforderungen an sachliche Widerspruchsfreiheit und Konsistenz. In dieser Disposition über die Formalstruktur liegt mithin die Entscheidungsautonomie von Organisationen.7 Orte oder Anlässe autonomen Entscheidens über Formalisierungskompetenzen und ihre Verteilung sind insbesondere Gremien, Sitzungen, Versammlungen oder Konferenzen. Strukturentscheidungen in Organisationen schließen dabei Nebenfolgen jenseits des Entscheidens über die Folgen nicht aus (vgl. Luhmann 1971, 188 ff.; 2006, 222 ff.).8
Die durch Entscheidung änderbaren Strukturanteile in Organisationen lassen sich anhand von drei Typen von Entscheidungsprämissen unterscheiden: In sozialer Hinsicht kann erstens das Personal einer Organisation als Entscheidungsprämisse verstanden werden. Mit Personal sind die „Persönlichkeitsmerkmale“ und damit die biografisch durch Sozialisation und Ausbildung bedingten kognitiven Fähigkeiten einer Person gemeint; „sie können nicht weiter dekomponiert werden“ (Luhmann 2006, 287). Man kann zwar Fähigkeiten, Präferenzen, Umweltkontakte, Alter, Geschlecht, Kooperationswilligkeit, Arbeitstempo usw. als Erwartungsbündel bestimmter Personen unterscheiden. Aber diese Erwartungen sind an eine Person kompakt gebunden und lassen sich kaum isoliert voneinander verändern (vgl. Luhmann 1971, 195–210, 2006, 287 ff.).
Zweitens strukturiert jede Organisation in sachlicher Hinsicht einen Teil von Entscheidungen nach einer gewissen Programmatik bzw. Regelhaftigkeit. Mit derartigen Programmen werden die „Bedingungen der Richtigkeit“ (Luhmann 1984, 278) des Entscheidungsverhaltens in Organisationen bezeichnet. Sie spezifizieren ein Verhalten, das von mehr als einer Person routinemäßig geregelt werden soll. Mit der Festsetzung bestimmter Regeln werden somit entpersonalisierte bzw. „abgeleitete nichthierarchische Autoritäten (Luhmann 1971, 70, Herv. i.O., siehe auch 113 ff.; 1966b, 36 ff., 52 ff.) verteilt, die von direkten Weisungen und Motivationsproblemen in der Interaktion entlastet sind (siehe auch March/Simon 1958, 164 ff.; Feldman/March 1981).
Luhmann unterscheidet dabei zwei Programmtypen: In Form von „Konditionalprogrammen“ können vorab definierte Informationen als Anlässe und Auslöser für ein bestimmtes Verhalten in einem Wenn-dann-Schema fixiert werden. Durch die Einschreibung von Verhaltenserwartungen in konditional programmierte Regeln kann potenziell „jede Information autoritätsfähig gemacht werden“ (Luhmann 1999a, 99). Dagegen definieren „Zweckprogramme Ziele, zu deren Erreichung bestimmte Mittel innerhalb der jeweiligen Mitgliedschaftsgrenzen zu wählen sind. Zwar ist die Mittelwahl flexibel und offen, aber Zwecke müssen – das unterscheidet sie von abstrakten Werten (siehe Abschn. 3.3.3) – mit einem klaren Zeitindex ausgestattet sein, um operativ handlungsanleitend zu sein (vgl. Tacke/Drepper 2018, 64).
Im Vergleich der zwei Programmtypen lässt sich erkennen, dass Konditionalprogramme der Tendenz nach eindeutiger formuliert sind. Die durch sie geregelten Entscheidungen erscheinen entweder als richtig oder falsch. Die Grenzen einer solchen Programmierfreiheit bestehen lediglich in der Unterwerfungsbereitschaft der Mitglieder. Die Programmebene verliert dagegen an Relevanz für die Strukturierung von Verhaltenserwartungen, wenn diese keine Richtigkeitsfeststellungen erlauben – etwa, wenn nicht die ‚richtigen‘ Werte oder eine ‚richtige‘ Verknüpfung von Auslöse- und Folgebedingungen identifiziert werden kann (vgl. Luhmann 1971, 188 f.; 1972a, 227 ff.).
Neben Personal und Programmen unterscheidet Luhmann in zeitlicher Hinsicht „hierarchische Kommunikationswege“ als eine dritte Art von Entscheidungsprämissen. Angesprochen sind damit kommunikative Schwellen, d. h. „Einschränkungen der Möglichkeiten eines jeden, mit jedem jederzeit über alles zu reden (…)“ (Luhmann 1972c, 279). Diese Begrenzungen zeigen sich empirisch beispielsweise in Form von Dienstwegen, Berichtspflichten oder Kompetenzverteilungen (vgl. Luhmann 1971, 181 ff.; 1972c, 278 ff.).
Als Struktur eines Sozialsystems erfüllen formale Hierarchien dabei eine doppelte Funktion: Erstens ist Hierarchie ein Prinzip der internen Subsystembildung, das angibt, welche Mitgliedsrollen als Adressen von Strukturentscheidungen dienen. Die interne Ausbildung von Zuständigkeiten und Abteilungen bedingt, dass die Entscheidungsprämissen in den Abläufen, die sie strukturieren, nicht zugleich abgeändert werden können, sondern erst zu anderer Zeit und durch andere Stellen. Die Trennung von Einzelentscheidungen und formalen Strukturentscheidungen trägt dabei zu einer Entlastung von Aufmerksamkeit, von Erlebnisverarbeitungen und Verantwortlichkeiten bei. Mitarbeiter in ausführenden Funktionen brauchen nur noch zu prüfen, ob ihre Entscheidungen mit den formalen Vorgaben der Organisation übereinstimmen. Sie sind dabei von der Verantwortung befreit, zugleich die Folgen mitzukontrollieren und zu prüfen, warum bestimmte Regeln festgelegt wurden und welche Gründe gegen sie sprechen bzw. welche Alternativen opportuner erscheinen. Demgegenüber können Führungspositionen ihre Aufmerksamkeit auf die Anpassung von Organisationsstrukturen lenken und zugleich davon ausgehen, dass Entscheidungen entsprechend der formalen Vorgaben getroffen werden (vgl. Luhmann 2006, 316 ff.; 1972a; 231 ff.).
Zweitens dienen Hierarchien der Strukturierung von Kommunikationswegen nach außen, in der sich die oben genannte Zweckorientierung einer Organisation widerspiegelt. Spitzenpositionen sind dabei als (Grenz-)Stellen der „Systemvertretung“ (Luhmann 1999a, 221) verpflichtet. Sie erleichtern dadurch die Attribution von Entscheidungen auf Entscheider. Hierarchie bündelt in diesem Sinne Macht und Verantwortlichkeit an bestimmten Stellen – insbesondere für rechtliche Kommunikation. Die vertikale Differenzierung in Hierarchien garantiert dabei eine formale Entscheidbarkeit von Konflikten. Damit verbunden geben Hierarchien auch die Möglichkeit für Aufstiege an. Werden formale Hierarchien abgebaut, sind Karrierechancen eingeschränkt und es werden Konflikte um informale Ränge wahrscheinlicher (vgl. Luhmann 2014, 12 f.; 1997, 834 f.; 1999a, 82 ff.; Zuckerman 2010, 291 ff.).
Empirisch bedeutsam ist in dieser Hinsicht, dass sich in den verschiedenen Hierarchieebenen höchst unterschiedliche Erwartungen über die Organisation ausbilden können. Während beispielsweise der Vertrieb eine hohe Qualität und Absatzzahlen verfolgt, obliegt es der Rechtsabteilung, die verschiedenen Vertragsregelungen zu kontrollieren. Die Widersprüchlichkeit der einzelnen lokalen Rationalitäten lässt sich allerdings nur schwer nach außen präsentieren (vgl. Cyert/March 1963; Tacke 2001d). An die Stelle mehrdeutiger Organisationsbeschreibungen tritt eine kompakte Außendarstellung9 in Form idealisierter Selbstbeschreibungen, mit der eine Einheit der Organisation suggeriert wird. Sobald die sachliche und personale Trennung von Zuständigkeiten und Kompetenzen jedoch genauerer Betrachtung unterliegt, zerfällt das Bild in ein Mosaik – in einen „hydra-headed organism, with each mouth telling a different story about its past or future actions“ (Zuckerman 2010, 301; siehe auch Coleman 1974, 14 ff.). Die Organisation erscheint dann nach außen als ein Akteur mit gespaltener Persönlichkeit.10 Forschungspraktisch herausfordernd ist diese Einheitsfiktion, weil es einen Unterschied macht, ob man z. B. eine Aussage der konkreten Person, einer bestimmten Stelle oder der Organisation als Ganzer zurechnet (vgl. Luhmann 1999a, 108 ff.; 1972a, 62 f.; 1972b, 51 f.; Kette 2011, 4 ff.; Schwarting 2015, 8ff.).
Zugleich wird an den unterschiedlichen Verteilungen der Entscheidungsprämissen auch sichtbar, dass nicht alle formalen Vorgaben für alle Stelleninhaber die gleiche Relevanz haben. Je nach Umweltlage kann das Gewicht auf die einen oder die anderen Strukturvorgaben verlagert werden, ohne dass bei der Kombination der Entscheidungsprämissen ein Typ ganz entbehrt werden könnte. Denn in ihrer Strukturierungsfunktion sind die verschiedenen Entscheidungsprämissen nur begrenzt miteinander austauschbar: Wenn eine Aufgabe, wie beispielsweise die Entwicklung einer neuen Technologie oder die Erschließung neuer Kunden, nicht im Einzelnen genauer programmiert werden kann, steigen die Unsicherheiten und Entscheidungslasten für das Personal. Wenn ein Mitglied umgekehrt nicht über alle erforderlichen Fähigkeiten für die Ausführung einer bestimmten (neuen) Aufgabe verfügt, kann es versetzt, die hierarchische Aufsicht verstärkt oder die formale Aufgabenprogrammatik kleinteiliger formuliert werden. Es sind beispielsweise Organisationen denkbar, die so eindeutig programmiert sind, dass es keinen Unterschied macht, welches Personal die Programme ausführt und ob die hierarchischen Kommunikationswege offenbleiben. Es gibt umgekehrt Organisationen, die nur schwer eindeutig programmierbar sind, sodass Personalentscheidungen als Ausgleich möglich erscheinen (vgl. Luhmann 1971, 188 ff.; 1972c, 278 f.; 1999a, 54 ff., 141 ff.; 2006, 226 ff.). Dies ist beispielsweise in (semi-)professionellen Organisationen wahrscheinlich (Etzioni 1969; Hall 1968; siehe auch Klatetzi 2005, 2012; Klatetzki/Tacke 2005), in denen die Face-to-Face-Interaktion eine besondere Rolle spielt.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich ein organisiertes Sozialsystem formal differenziert, wenn über die drei genannten Strukturrichtungen verbindlich disponiert wurde. Während Programme als Richtigkeitsregeln des Entscheidens verstanden werden können und Kommunikationswege formale Entscheidungskompetenzen verteilen, verweist das Personal auf die nicht weiter dekomponierbaren Entscheidungsleistungen in einer Organisation. Die Mitgliedsrolle lässt sich damit als eine Stelle (Position) begreifen, in der sich Aufgaben bzw. Regeln kombinieren lassen – und dies je nach den Anforderungen an die Fähigkeiten und Leistungen von Personen und Kommunikationswegen.11 Diese drei im Stellenprinzip verknüpften Prämissen markieren genau die Strukturanteile in Organisationen, die potenziell zu bestimmten Anlässen durch Entscheidung variabel sind, aber im Organisationsalltag als invariant gelten (vgl. Luhmann 1971, 224 f.; 1999a, 141 ff.; 2006, 226 ff.). Die mit Strukturanpassungen verbundenen Selbstthematisierungen in Organisationen sind dabei keine Zweckprobleme, die durch die richtigen Mittel beseitigt werden könnten. Vielmehr umfassen sie Identitätsfragen, die ein Spiegel der systemrelativen Relationierung von Strukturen sind, mit der Organisationen versuchen, ihre Umwelt intern abzubilden (vgl. Luhmann 1975b, 89 ff.).
Die Festigkeit der Formalstruktur beruht dabei weder auf der inneren Anerkennung seitens der Mitglieder noch auf einer vollständigen Konsistenz. Sie basiert darauf, dass eine Grenze institutionalisiert ist, bis zu der Konflikte faktisch toleriert und Mitglieder ausgetauscht werden können. Die Austauschbarkeit von Verhaltenserwartungen zeigt zudem, dass in Organisationen die als Mitgliedschaftsbedingung relevanten Verhaltenserwartungen nicht mehr die ganze Person betreffen. Die Geltung formaler Verhaltenserwartungen in einer konkreten Situation ist empirisch jedoch keine Selbstverständlichkeit und bedarf insbesondere im Konfliktfall des Verweises auf eben jene formale Erwartungsordnung. Die Dominanz der formalen Ordnung wirkt deshalb qua Formalitätsvorbehalt. Welche Erwartungen im System normative Kraft gewinnen, ist dabei immer auch eine Machtfrage: „Man kann die Bedeutung der formalisierten Erwartungen daher nicht an der Häufigkeit ihres sichtbaren Gebrauchs, nicht an der Zahl der entsprechenden Interaktionen ablesen“ (Luhmann 1999a, 275 f.). Im Allgemeinen genügt jedoch die Unterstellung, dass die formale Struktur eindeutig geltend ist, sie muss – ja darf sogar – für die Selbstbindung im Rahmen der Mitgliedschaft gleichwohl nicht ständig Thema sein (vgl. Luhmann 1999a, 45 ff., 239 ff., 305; 1984, 426 ff.).12

3.2.2 Informale Verhaltenserwartungen

Eine Stärke der systemtheoretischen Organisationsperspektive zeigt sich zudem darin, dass sie auch informale Verhaltenserwartungen systematisch in den Blick zu nehmen erlaubt. Die formalisierten Erwartungen und Entscheidungen nehmen in Organisationen zwar eine herausgehobene Stellung ein. Das Verhalten innerhalb der Mitgliedsrolle erschöpft sich indes nicht in der Anerkennung formaler Erwartungen. Die Grenzen einer formalen Ordnung vergegenwärtigen sich insbesondere darin, dass es zu ihrer Erhaltung einer Fülle von Verhaltensleistungen bedarf, die nicht als formale Erwartungen formuliert werden können, weil sie beispielsweise weder auf einen sachlichen Bezug spezialisiert sind noch als exklusive Aufgabe zugeteilt werden können. Dazu gehört auch, dass sich das Verhalten der Organisationsmitglieder weder vollständig im Detail noch im Voraus spezifizieren lässt. Formalisierte Erwartungen bezeichnen deswegen, wie oben erwähnt, immer nur Tendenzerwartungen. Sie können noch so präzise und ausführlich fixiert werden, ihre faktische Ausgestaltung im Handeln ist nicht ohne gewisse Spielräume möglich. Letzlich würde sich eine Organisation, in der die Mitglieder lediglich nach Vorschrift handeln, nicht ausreichend auf widersprüchliche Anforderungen einer sich verändernden Umwelt einstellen können (siehe auch Eisenhardt 1989). Jede Organisation führt zum Ausgleich formal-rigider Verhaltensweisen damit zwangsläufig auch einen Bedarf an informalen Strukturbildungen mit sich, die mit der formal entschiedenen Ordnung brechen können, von dieser jedoch nicht gänzlich unabhängig sind (vgl. Luhmann 1999a, 28, 295 ff.).
Relevant ist dabei, dass informale personenbezogene Verhaltensformen nur in Kombination mit der formalen Mitgliedsrolle übernommen werden können. Ihre Ausbildung leitet sich von den erlebten Erfahrungen, Widersprüchen und Enttäuschungen innerhalb der Mitgliedsrolle ab (vgl. Luhmann 1999a, 221 ff., 331 ff.). Informale Verhaltensweisen zeigen sich beispielsweise in den partikularistischen Normen des Dankes, der Kollegialität, des Leistungstausches oder der höflich-taktvollen Beachtung von Prestige, aber auch in Form von Mobbing (vgl. Luhmann 1999a, 30, 283 ff.). Sie können aus pragmatischen Zwecksetzungen resultieren, aber auch aus der Eigendynamik von „Routinen“ (Feldman/Pentland 2003) entstehen. „So handelt informal, wer sich am Austausch von Neuigkeiten beteiligt und so dazu beiträgt, daß alle Beteiligten sicher sind zu wissen, was um sie herum vorgeht“ (Luhmann 1999a, 49). Informal ist auch der Status, den ein Mitglied erlangt, wenn es als Ratgeber, Vermittler oder Helfer Achtung gewinnt bzw. verliert, z. B. wenn in Verhandlungen gegenüber dem Vorgesetzten Entscheidungen zugunsten der Mitarbeiter erwirkt werden. Informale Rollenerwartungen werden ebenso bei der Nutzung „kurzer Dienstwege“ deutlich oder wenn Mitglieder ihre persönlichen Einstellungen über Entscheidungen teilen, die sie in formalen Situationen nicht ausdrücken können.
Wie oben erläutert, beruhen Organisationen nach außen wie intern auf dem Prinzip der Rollentrennung (vgl. Luhmann 1999a, 46, 64). Im Unterschied zu formalen Erwartungen werden informale Erwartungen also nicht direkt an die Mitgliedsrolle, sondern an konkrete Personen adressiert. Sie sind damit oberhalb der Erwartungsbildung von Personen angesiedelt. Dadurch wird ebenso verständlich, dass sich informale Strukturen auf der Ebene personaler Kontakte nicht vollständig formalisieren bzw. kontrollieren lassen (vgl. Tacke 2015a, 74). So kann bereits das bloße Zitieren von Vorschriften und die Forderung ihrer Befolgung zum Problem werden, wenn dabei Persönlichkeitsbedürfnisse missachtet werden. Wird dagegen eine Situation von vornherein als informal definiert, hat das den Vorteil, dass „in einem losen Jargon über Formalien gesprochen werden kann, und daß trotzdem das Vertrauen erhalten bleibt, daß alle Beteiligten sich in formalen Situationen korrekt verhalten werden“ (Luhmann 1999a, 49). So können die Mitglieder während der formalen Aufgabenerledigung thematisch in der Interaktion davon abweichen (z. B. über die Erlebnisse nach dem gestrigen Feierabend kommunizieren), ohne dass durch solche Seitenthemen die Grenzen der formalen Teilstruktur der Organisation verändert werden.
Als Bestandteil der Mitgliedsrolle müssen auch informale Rollen ins Verhältnis zur formalen Mitgliedschaft gebracht werden. Dadurch, dass Eintritt und Austrittsentscheidungen „einen einmaligen Akt hoher Bewußtheit“ (Luhmann 1999a, 40) darstellen, lernen Mitglieder, die dienstlichen Situationen und Verhaltenserwartungen von anderen eigenen Rollen zu trennen. Dazu stehen andere Möglichkeiten zur Verfügung als bei formalen Rollen. Weil informale Erwartungen personenbezogen sind, können sie anders als formale Rollenerwartungen ohne Konsequenzen für die Mitgliedschaft abgelehnt werden. Da informales Verhalten auch mit formalen Vorgaben (einschließlich rechtlicher Bindungen) konfligieren kann, eignet sich ihre Thematisierung allerdings nur eingeschränkt gegenüber Dritten. Ihre Kenntnis kann sich lediglich auf eine arkane Verbreitung stützen, sodass Abweichungen auch nur durch informales Verhalten sanktioniert werden können. Informale Praktiken sind dabei nicht qua formaler expliziter Entscheidung änderbar, sondern wandeln sich vielmehr fließend, latent und langsam (vgl. Luhmann 1999a, 30, 48).
Aufrechterhalten wird die Gültigkeit der formalen Ordnung bei informalen Verhaltensabweichungen beispielsweise durch Praktiken des Schützens und Verbergens. Informale Verhaltenserwartungen laufen hier weniger auf widerspruchsfreie Übereinstimmung als auf geordnete Wechsel zwischen formalen Situationen und Rollen hinaus – beispielsweise durch das Einrichten von Kommunikationsschranken. Die Techniken der Harmonisierung und Isolierung von formalen und informalen Erwartungen sind umso ausgeprägter, je detaillierter die formalen Vorschriften werden – wie beispielsweise in Großorganisationen beim Verkehr außerhalb des engsten Mitarbeiterkreises (vgl. Luhmann 1999a, 42, 48 f.).
Am deutlichsten herausgefordert sind bei der Aushandlung formaler und informaler Situationsdefinitionen die Stellen an den Randbezirken von Organisationen – sei es an den Außengrenzen oder im Rahmen der internen Differenzierung in Abteilungen. Besonders strapaziert werden die damit angesprochenen „Grenzstellen“ (Luhmann 1999a, 220 ff.; siehe auch Aldrich/Herker 1977, 217–230; Tacke 1997, 21 ff.) deshalb, weil sie aufgrund ihrer exponierten Zwischenposition divergierenden gesellschaftlichen Erwartungen ausgesetzt sind. Bezeichnet sind damit Personalstellen, die über standardisierte Medien (z. B. an der Tür, am Telefon, Computer, Schalter) für die Organisation mit speziellen Umwelten in Kontakt stehen. Zu ihrer formalen Rolle gehört es einerseits, die Organisation einheitlich nach außen zu repräsentieren. Durch diese idealisierte „Darstellung des Systems für Nichtmitglieder“ halten sie den „Frieden an den Grenzen“ (Luhmann 1999a, 223) aufrecht und wehren andererseits überzogene organisationsfremde Ansprüche von „Störern“ und „Querulanten“ ab. Sofern sie aus den Ansprüchen der verschiedenen Umweltkontakte brauchbare Möglichkeiten für formale Strukturveränderungen ableiten, dienen sie nach innen dabei als „Antennen zur Warnung des Systems“ (Luhmann 1999a, 224).
Die Ausbildung von Grenzstellen ist insgesamt Ausdruck dafür, dass es beim Unterlaufen formaler Erwartungen zugunsten personenbezogener Ansprüche zur Unvermeidbarkeit „brauchbarer Illegalität“ (Luhmann 1999a, 304 ff.) kommt. Bei dieser besonderen Form informalen Verhaltens werden Strukturprobleme im Sinne der formalen Erwartungsordnung bearbeitet; die Mittel dazu konfligieren allerdings mit den offiziellen Möglichkeiten. Benannt sind damit beispielsweise Situationen, in denen offizielle Vereinbarungen missachtet, Absprachen mit dem Vorgesetzten umgangen oder Konflikte mit Kollegen ausgesessen werden. Sofern mit bestimmten Leistungen – wie Geld, Stellen oder Gelegenheiten – dabei weniger organisatorische Systemprobleme adressiert werden als Vorteile für eine bestimmte Person oder Gruppe verbunden sind, lassen sich die informalen Verhaltensweisen aus Perspektive der Organisation als dysfunktional bzw. unbrauchbar identifizieren.
In der Regel achten Organisationen darauf, dass sie in ihren formalen Abläufen geltendes Recht einhalten – nicht zuletzt deshalb, damit sich ihre Mitglieder nicht steuer- oder arbeitsrechtlich strafbar machen. Durch die Festlegung auf eine bestimmte Rechtsform mit entsprechenden Informations- und Haftungspflichten sind die formalen Verhaltensspielräume weitgehend abgesteckt. Die Frage, inwiefern informale Erwartungen mit der Formalstruktur im Widerspruch stehen, ist empirisch nicht eindeutig zu entscheiden, und dies nicht zuletzt, weil es neben eng programmierten Regeln mit klaren Kriterien und Verantwortlichkeiten auch abstrakte Anweisungen gibt, die relativ frei interpretierbar sind (siehe auch Weick 1995b). Gerade bei der Ausrichtung an neuen Zwecken – z. B. bei der Suche nach kostensparenderen Absatzwegen oder einer nachhaltigeren Produktentwicklung – ist zu vermuten, dass Mitglieder „Strecken problematischer Legalität durchwandern“ (Luhmann 1999a, 304). Beim Aufdecken illegalen Verhaltens haftet in der Regel die Person und nicht das Mitglied bzw. die Organisation. Je nach öffentlichem Druck, rechtlichem Ausmaß und Ressourcen wird Personal entlassen bzw. neu eingestellt, das Qualitätsmanagement und die Kontrollaufsicht verstärkt oder es werden die Aufgaben spezifiziert – insbesondere die Regeln zur Regelbeachtung –, die seitens der Mitglieder informal wiederum eine Art „resistance through compliance“ (Ybema/Hovers 2017) befördern können.
Zusammengefasst liegt der theoretische Ertrag von Luhmanns funktional-struktureller Organisationstheorie darin, dass „sie den Ansatzpunkt für eine soziologische Untersuchung bietet, die auch latente Rollen, Funktionen und Sinnbezüge, also das, was nicht thematisch bewußt vor Augen steht, in ihr Interesse einbezieht“ (Luhmann 1999a, 28). Der Blick auf Organisationen und ihre Strukturen wird dabei um ein Verständnis von Informalität ergänzt, die nicht einfach als unbrauchbar oder als pathologische Abweichung von einer Formalstruktur begriffen wird. Zentral ist dabei, dass die Formalstruktur durch dieses Abweichungsverhalten nicht ihre Geltung verliert. Selbst wenn informalen Verhaltenserwartungen in einer Situation der Vorzug gegeben wird, läuft der Rückzug auf die Formalstruktur vielmehr als potenzielle Möglichkeit bzw. „Negativorientierung“ (Luhmann 1999a, 43) mit. Aber erst auf der Ebene des unmittelbaren Kontakts entscheidet sich empirisch, welche organisatorisch formalisierten Erwartungen beachtet und mit einem entsprechenden Verhalten honoriert werden; die Formalstruktur setzt dafür, wie oben angesprochen, nur die Bedingungen (vgl. Luhmann 1972c, 275; 2009, 17). Und dabei gilt: „Je deutlicher feststeht, welche Erwartungen Mitgliedschaftsbedingung sind, desto klarer kann man sich vor Augen führen, was nicht erwartet werden kann bzw. welche Erwartungen ohne Risiko für die Mitgliedschaft unerfüllt bleiben können“ (Luhmann 1999a, 43).
Mit den hier vorgestellten Prämissen bietet Luhmanns soziologische Organisationstheorie ein reichhaltiges Beobachtungsinstrumentarium für die historisch-empirische Spezifizierung der Strukturverhältnisse einer organisierten Rechtsprechung am RKG. Denn basiert die Ausbildung von Organisationen auf dem Prinzip der Rollentrennung und Rollenkombination, bei der sinngebundene Verhaltenserwartungen invariant gehalten werden, so lassen sich aus Erwartungskonflikten Hinweise auf Ausdifferenzierungsmomente und Strukturumstellungen ableiten. Normbrüche können dabei in zweierlei Hinsicht als Indizien genutzt werden: Einerseits für die Differenzierung von Organisationen gegenüber ihren gesellschaftlichen Umwelten sowie andererseits für eine Trennung von formalen und informalen Strukturen innerhalb von Organisationen. Die empirischen Quellen lassen sich dann daraufhin untersuchen, inwiefern sie Beschreibungen enthalten, in denen bestimmten kollektiv gesetzten Erwartungen Vorrang gegenüber personengebundenen und gesellschaftlichen (hier ständischen) Erwartungen gewährt wurde. Um dabei historisch genauer erschließen zu können, inwiefern sich die Rechtsprechung am RKG von den Bedingungen der Interaktion auf ein formal organisiertes Rechtsverfahren umstellte, gilt es neben den organisationsbezogenen Begriffsmitteln ergänzende gesellschaftstheoretische Annahmen einzuführen. Dabei sind solche Prämissen zentral, die helfen, die Entstehung von Organisationen – und damit die Abgrenzung von gesellschaftlich institutionalisierten Erwartungen – empirisch trennscharf zu unterscheiden und damit historisch genauer zu verstehen.

3.3 Organisationsbildung und gesellschaftliche Differenzierung

Das bis hierhin vorgestellte Verständnis von Organisationen als Sozialsystemen – mit einer formalen Struktur in Form von Entscheidungsprämissen (Abschn. 3.2.1) und ihrer ergänzungsbedürftigen Teilstruktur in Form informaler Erwartungen (Abschn. 3.2.2) – stellt zwar zentrale Beobachtungsinstrumente für die empirische Fundierung der Strukturbesonderheiten einer organisierten Rechtsprechung des RKG bereit. Jedoch gibt dieser Zugang noch nicht ausreichend Anleitung für die Beantwortung der Frage, wie sich das RKG als Organisation in einer stratifizierten Gesellschaft gesellschaftlich ausdifferenzierte. Um die Organisationsförmigkeit des RKG und seine Strukturbesonderheiten empirisch aufzuschließen, gilt es, über einen allgemeinen, systemtheoretischen Organisationsbegriff hinaus ein genaueres Verständnis des Verhältnisses von Organisation und Gesellschaft zu entwickeln.
Mein Ausgangsargument war, dass der komplementäre Bedingungszusammenhang von Organisationsbildung und gesellschaftlicher Differenzierung in der Soziologie weitgehend abstrakt und tautologisch formuliert ist. In gesellschaftstheoretischer Hinsicht bedarf die Untersuchung der Organisation des RKG deshalb weiterer Grundüberlegungen. Außerhalb der erläuterten Komplementaritätsprämisse finden sich in der soziologischen Systemtheorie nur vereinzelte Notizen zu den gesellschaftsstrukturellen Ausgangslagen von Organisationsbildungen in stratifizierten Gesellschaften. Mangels Vorlagen sind diese Argumente gleichwohl fruchtbar zu machen, um die Umstellung der obersten Rechtsprechung im Alten Reich von den Bedingungen der Interaktion auf formale Organisation erfassen zu können.
In einem ersten Schritt frage ich dazu nach den gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen, die eine historische Ausdifferenzierung von Organisationen ermöglicht haben könnten (Abschn. 3.3.1). Umgekehrt lässt sich mit diesem Interesse, so der Vorschlag, anhand systemtheoretischer Mittel konkretisieren, welche „besonderen Leistungen“ (Luhmann 2014, 11, Herv. i.O.) Organisationen für ihre jeweilige Gesellschaft und deren Teilsysteme – also für Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft, Erziehung, Kunst, Massenmedien usw. – bereitstellen (Abschn. 3.3.2). Drittens greife ich auf zwei Konzepte zurück, die gerade für historische Zugänge zentral erscheinen, allerdings bislang nicht systematisch für empirische Studien verwendet wurden. Für die Untersuchung der These, dass es sich beim RKG um den Fall einer Organisationsbildung in einer vormodernen Gesellschaft handelt, erachte ich die Unterscheidung verschiedener Abstraktionsgrade von Verhaltenserwartungen (d. h. von Personen, Rollen, Programmen und Werten) als erkenntnisleitend (Abschn. 3.3.3). Instruktiv ist die Unterscheidung dieser sachlich-generalisierten Strukturbildungen deshalb, weil damit Hinweise über den Grad sozialer als auch gesellschaftlicher Differenzierung gewonnen werden können (Abschn. 3.3.3). Schließlich soll die Gründung von Organisationen selbst empirisch fassbarer gemacht werden. Zur weiteren gesellschaftstheoretischen Anleitung der Beantwortung der Frage nach dem Organisationscharakter des RKG greife ich dazu auf die einleitend vorgestellte Unterscheidung von originärer und abgeleiteter Organisationsbildung zurück (Abschn. 3.3.4). Mit diesem gesellschaftstheoretisch erweiterten Zugang geht die hier vorgelegte Arbeit über rein organisationsbezogene Untersuchungen hinaus.

3.3.1 Gesellschaftliche Strukturvoraussetzungen von Organisationen

Im Wesentlichen lassen sich drei gesellschaftsstrukturelle Bedingungen angeben, die Organisationsbildung historisch ermöglicht wie auch eingeschränkt haben. Die erste historische Bedingung für die Ausdifferenzierung von Organisationen ist insbesondere von Max Weber mit der Monetarisierung der Wirtschaft als Voraussetzung von Bürokratisierung beschrieben worden. Erst auf der Basis von Geldwirtschaft können jegliche Tauschgeschäfte wie Gütererwerb und Verkauf ebenso wie (Nicht-)Arbeit „als Entscheidung – wenn nicht erlebnismäßig vollzogen, so doch zugerechnet und behandelt werden“ (Luhmann 1978a, 42). Dazu zählt insbesondere, dass Organisationen unterstellen, „ihre Umwelt entscheide marktgerecht“ (ebd.). Historisch betrachtet beförderten zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert weniger die lokale Produktion als der Außenhandel die Entwicklung wirtschaftlicher Organisationsbildung – insbesondere große Handelskompagnien und Aktiengesellschaften. Neben der Kreditwirtschaft spielte der monarchistische ‚Staat‘ eine Rolle, indem dieser privilegierte Zugänge zu ausländischen Märkten verteilte und als Gegenleistung für die damit verbundenen Handelsmonopole hohe Steuerabgaben erhielt (vgl. Braudel 1982, 440 ff.).
Eine zweite Bedingung liegt in der Verrechtlichung der täglichen Lebensführung. Zentral ist für die Organisationen des Rechtssystems und der Wohlfahrtsbürokratie, dass diese nur tätig werden, „wenn sie davon ausgehen können, daß ihre Klienten entscheiden“ (Luhmann 1978a, 43) – zumal gerade Gerichte darauf angewiesen sind, dass sie aktiv von ihrem Publikum qua freiwilliger Entscheidungen aufgesucht werden (vgl. Luhmann 1972a, 31, 257). Mit diesem Initiativgebot ist nicht zuletzt die verrechtlichte Möglichkeit vorausgesetzt, sich zur kollektiven Interessenvertretung zu vereinigen.
Eine dritte gesellschaftsstrukturelle Begünstigung für Organisationsbildung ist in der Trennung von Familie und Haushalt, dem Einsetzen von Schul- und Berufserziehung sowie dem Zugang zu Arbeitsmärkten zu sehen. Die damit verbundene soziale Mobilität beruht darauf, dass der berufliche Lebensentwurf des Einzelnen nicht mehr qua Herkunft, Schicht oder Zwang vorgezeichnet ist. Auf der Grundlage der Freistellung aus ständischen Bindungen können Individuen nicht nur eine personenbezogene Position in der Sozialstruktur einnehmen, sondern spezielle zeitlich, sachlich und sozial begrenzte Rollen wahrnehmen. Das Einlassen auf eine Mitgliedsrolle wird dabei unabhängig von persönlichen Einstellungen zu einem Organisationszweck und auf der Basis von Arbeit gegen Geld mobilisierbar. Erst wenn es geregelte Austrittsmöglichkeiten gibt, können Organisationszwecke den individuellen Einstellungen übergeordnet werden (vgl. Luhmann 1978a, 42 f.; 1999a, 45, 94 ff.; 1997, 827 ff.).
Diese drei gesellschaftlichen Strukturvoraussetzungen (Geld, Recht und Erziehung) von Organisationsbildung bedingen sich gegenseitig, indem sie füreinander Ermöglichungs- und Einschränkungsstrukturen vorgeben. Wie Tacke/Drepper (2018, 95) hervorheben, sind diese zugleich „mehr oder weniger regelmäßig vorkommende Formen von Abhängigkeiten“, mit denen Organisationen als Umweltbedingungen umgehen müssen. Die drei gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen markieren in diesem Sinne typische Organisationsprobleme: die der Geld-, Rechts- und Personenabhängigkeit.
Rechtlich begründete Einschränkungen zeigen sich vor allem im Falle staatlich abgeleiteter Formen der Organisation in der Bindung an Souveräne als relevante Autoritäten (vgl. Tacke/Drepper 2018, 98 f.). Für die staatliche Verwaltung ist aufgrund ihrer rechtlichen Existenzdeckung ein hohes Maß an finanzieller Erwartungssicherheit institutionalisiert. Unternehmen werden demgegenüber gesellschaftlich nicht alimentiert. Mit ihrer Abhängigkeit vom Wirtschaftssystem ist eine relativ hohe Erwartungsunsicherheit hinsichtlich ihrer Refinanzierung verbunden (vgl. insbesondere Kette 2012, 2017). Darüber hinaus ist bedeutsam, dass Organisationen von den über Personen hergestellten informalen Strukturen abhängig sind, ohne die Personalität ihrer Mitglieder vollständig kontrollieren zu können: „Angesprochen ist damit nicht nur die Schwierigkeit der effektiven Übersetzung allgemeiner Mitgliedschaftserwartungen in konkrete Arbeitsrollen“ (Tacke/Drepper 2018, 102), sondern auch, dass Personen als Identifikationspunkte für die Zurechnung von Abweichungen („menschliches Versagen“) genutzt werden (vgl. ebd., 103 f.).
Zusammengefasst wird in dieser gesellschaftsbezogenen Perspektive die abstrakte Tendenz deutlich, dass funktionale Differenzierung durch soziale Mobilität wahrscheinlicher wird und innerhalb dieses Prozesses Organisationsbildungen ermöglicht werden. Wenn soziale Mobilität nicht nur Ressource, sondern auch Ausdruck von Organisationsbildung ist – die wiederum als gesellschaftsstrukturelle Bedingung auf ein funktionales Rechts-, Wirtschafts- und Erziehungssystem angewiesen ist – stellt sich die Frage, wie genau dann Mitglieder entstehen? Welche Verhaltenserwartungen wurden als mitgliedschaftsfähig erachtet und lassen sich in einer personenunabhängigen Rolle bündeln? Wie wurden aus patrimonialen Dienstverhältnissen in familiären Korporationen kündbare Arbeitsverhältnisse?

3.3.2 Gesellschaftliche Leistungen von Organisationen

Ungeklärt bleibt also, inwiefern Organisationsbildung nicht nur Resultat, sondern zugleich auch Bedingung für funktionale Differenzierung und soziale Mobilität ist. Mit dem Argument, dass die Genese von Organisationen auf Leistungen verschiedener Funktionssysteme wie Geld, Recht und Erziehung angewiesen ist, stellt sich zum Verständnis eines komplementären Bedingungsverhältnisses von funktionaler Differenzierung und Organisationsbildung weiterführend die Frage, welchen Beitrag Organisationen umgekehrt für die Gesellschaft leisten.
Dazu lassen sich aus der soziologischen Systemtheorie insbesondere besondere Leistungen anführen, die Organisationen für die Gesellschaft erbringen. Diese sind für eine historisch-soziologische Organisationsforschung deshalb relevant, weil sie Organisationsbildungen empirisch gegenüber ihrer gesellschaftlichen Umwelt sichtbar machen. Dazu zählt erstens, dass Organisationen mit ihren Entscheidungsprogrammen (siehe Abschn. 3.2.1) zur funktionalen Spezifikation gesellschaftlicher Kommunikation beitragen. Zweitens setzen Organisationen diejenigen Verfahrensstrukturen fallförmig in Gang, die im Verfahren als (rechtlich) legitimiert vorausgesetzt werden können. Drittens ermöglichen Organisationen in ähnlicher Weise wie Personen – aber im Unterschied zu funktionsspezifischer Kommunikation oder Protestbewegungen – eine Adressierbarkeit von Entscheidungen.13 Diese Leistungen werden im Folgenden noch weiter erläutert. Dazu sollen zunächst die Formen funktionaler und stratifikatorischer Differenzierung voneinander abgegrenzt werden.
Wesentlich für die Strukturbildung stratifizierter Gesellschaften ist die Frage, für welche Schicht welche Erwartungen gelten. Die schichtspezifische Strukturbildung wirkt dabei „multifunktional“. Damit ist gemeint, dass der Rang einer Person und die Zugehörigkeit zu einer Schicht gleichzeitig die Inklusion bzw. Exklusion in andere Funktionszusammenhänge bedingt – wer beispielsweise dem Adel angehörte, hatte nicht nur einen privilegierten Zugang zu Erziehung und Recht, sondern auch die monetären Mittel dazu (vgl. Luhmann 1987, 105 f.; 1997, 678–707). Funktionale Differenzierung bezeichnet demgegenüber die primäre Ausdifferenzierung einer Gesellschaft in ungleiche Teilsysteme – beispielsweise die Politik, die Wissenschaft, die Wirtschaft, das Recht oder die Religion –, die sich durch einen Funktionsbezug vom Gesamtsystem unterscheiden. Jedes dieser Funktionssysteme löst sich dabei von gesamtgesellschaftlichen Bedingungen und externen Strukturvorgaben, indem es sich nach Maßgabe seiner systemeigenen Operationsweise auf eine bestimmte gesellschaftliche Funktion hin spezialisiert. Mit einer exklusiven gesellschaftlichen Funktion ist dabei eine „historische Etablierung von Problemstellungen“ gemeint, „die gesellschaftlich für alternativlos gehalten werden“ (Kette/Tacke 2015, 236). Mittels einer Leitunterscheidung versorgt ein Funktionssystem dabei die übrigen Funktionssysteme in jeweils spezifisch-selektiver Weise mit Leistungen, die diese selbst nicht erbringen können. Die verschiedenen funktionsbezogenen Leitunterscheidungen bestehen dabei nebeneinander, obwohl sie sich gegenseitig ausschließen. Angesichts der jeweils exklusiven Funktion lässt sich weder eine Einheit auf der Ebene der Gesellschaft angeben noch kann einem der Funktionssysteme ein Primat zugeschrieben werden.
Auch wenn eine funktional differenzierte Gesellschaftsumwelt für historische Organisationen nicht fraglos als primäre Differenzierungsform vorausgesetzt werden kann, so ist einzurechnen, dass sich auch gesellschaftliche Kommunikation in stratifizierten Kontexten in Teilen an funktionalen Gesichtspunkten orientieren kann. Mit dem Umbau von Stratifikation auf funktionale Differenzierung sind auch Schichtung und Ungleichheiten keineswegs beseitigt. Der Wechsel der Differenzierungsform hat jedoch zur Folge, dass sich die Schichtzugehörigkeit nur noch durch Einfluss auf die Reichweite individueller Kontakte und Karrieren reproduziert, aber nicht mehr bereichsübergreifend legitimiert werden kann. Die Differenz der Schichten wird zunehmend als kontingent erfahren und zum Gegenstand von Kritik (vgl. Luhmann 1997, 743 ff.; 2006, 391 ff.; Kieserling 2001, 184 f.).
Im Unterschied zu stratifizierten Gesellschaften, erzeugen funktional differenzierte Gesellschaften einen relativ hohen Entscheidungsbedarf. Diese gesellschaftliche Nachfrage nach Entscheidungen hat ihren Grund darin, dass sich die funktionalen Teilsysteme selbst nur über ihre jeweiligen Leitdifferenzen wie Recht/Unrecht, Wahrheit/Nichtwahrheit oder Macht/Ohnmacht konstituieren. Sie operieren in diesem Sinne unverbunden und autonom, sodass sie für einander intransparent und kommunikativ getrennt erscheinen (vgl. Luhmann 1997, 841 ff.; 2004, 84 ff.). Angesichts der „Unmöglichkeit, die Funktionssysteme selbst zu organisieren“ (Luhmann 1997, 843), wird ein gesteigerter Bedarf an entscheidbaren Kriterien zur Orientierung der gesellschaftlichen Kommunikation in systeminterne Informationen erzeugt. Das heißt, es existiert ein Programmierungserfordernis, um über die richtige oder falsche Verwendung der gesellschaftlichen Leitunterscheidung entscheiden zu können. Dieser Bedarf wird durch Organisationen gedeckt, die (re-)spezifizieren, was beispielsweise als Wahrheit und Nichtwahrheit gilt, oder festlegen, was Recht und was Unrecht ist (vgl. Luhmann 1997, 748 ff., 834 f.).
Eine Versorgung mit entscheidbaren Strukturen bzw. Entscheidungsprämissen leisten Organisationen nicht nur für gesellschaftliche Funktionssysteme, sondern – so meine ergänzende These – auch für Verfahrenssysteme (vgl. Schwarting 2017b). Verfahren sind kurzfristig eingerichtete Interaktionssysteme mit der besonderen Funktion, bindende Entscheidungen zu erarbeiten (vgl. Luhmann 1983, 3, 41, 180). Die Legitimation von Verfahrensentscheidungen beruht dabei nicht auf faktischem Konsens, dem Inhalt einer Entscheidung oder der Anerkennung einer personalen Autorität. Sie basiert vielmehr auf der Akzeptanz verbindlicher Verfahrensstrukturen im Verfahren selbst. Indem die Anfertigung von Verfahrensentscheidungen an gesetzten, vorentschiedenen Verfahrensstrukturen (einschließlich verfahrenseigener Rollen) orientiert ist, werden Verhaltensalternativen der Teilnehmer schrittweise ausgeschlossen und auf diese Weise auf eine Entscheidung zugespitzt. Diese temporäre Herauslösung aus anderen Rollen und die Mitwirkung an vielen kleinen Teilentscheidungen (z. B. beim Anfertigen von Stellungnahmen, Aussagen oder Zeugenlisten) ist Bedingung für das Aushalten der Unsicherheit des Verfahrensausgangs. Die Leistung des Verfahrens liegt dabei in der „Selbstverstrickung der Betroffenen“ (Luhmann 1983, 103) in eine offene Darstellungsgeschichte (vgl. Luhmann 1983, 57–135; siehe Abschn. 2.​1.​2).
Wie lassen sich aber die Stabilität und die Änderbarkeit von Regeln in eine soziale Form bringen? Zum Verständnis der Frage, wie Verfahren jenseits ihrer eigenen Regeln strukturiert werden, ist die Einsicht instruktiv, dass Verfahren nicht in den eigenen Verfahrensstrukturen aufgehen. Verfahren sind deshalb nicht mit Luhmanns Verständnis von Entscheidungsprogrammen zu verwechseln. Ein Verfahren ist keine kettenförmige Abfolge von Handlungen. Gerichtsverfahren beispielsweise setzen zwar rechtliche Normen voraus, aber die Geltung und Anwendung bestimmter Regelungen muss erst für den jeweiligen Fall qua Entscheidung identifiziert und aktiviert werden.
André Kieserling hat hervorgehoben, dass es sich bei Verfahren um Interaktionssysteme handelt, die sich innerhalb eines gesellschaftlichen Funktionssystems bilden und mit diesem die gesellschaftliche Funktion teilen (vgl. 2010). Auch aus dieser Richtung stellt sich die Frage, wie Verfahren gesellschaftliche Leistungen erbringen können, die über ihr räumlich und zeitlich begrenztes Ende als Interaktion hinausgehen? Zwar müssen die Urteile des einen Gerichts auch von den anderen respektiert werden, aber dies erklärt noch nicht, wie Verfahrensentscheidungen unter Anwesenden selbst für Abwesende Legitimation generieren (vgl. Kieserling 2010, 115 f., siehe auch 1999, 383; Scheffer 2010, 149 f.).
Die interaktionsübergreifende Geltung und Verbindlichkeit von Verfahrensentscheidungen ist allgemein den gesellschaftlichen Teilsystemen eines positivierten Rechts und des politischen Gewaltmonopols zuzusprechen. Eine Organisationsleistung für Verfahren liegt ergänzend darin, eine komplexe Fallarbeit zu gewährleisten, die die Bearbeitung einer hohen Anzahl unterschiedlicher Fälle in vergleichender Weise auch bei Personalwechseln absichert. Es sind Organisationen, die als übergreifende Systeme Verfahren veranstalten und fallförmig die Strukturbedingungen prononcieren, welche in der Verfahrensinteraktion als rechtlich wie organisatorisch gesetzt gelten. Mit ihrer professionellen Fallarbeit qualifizieren Organisationen also diejenigen Rechtsnormen als Verfahrensstrukturen, die für die Legitimation einer Verfahrensentscheidung im konkreten Fall Relevanz gewinnen. Organisationen leisten für Verfahren dabei eine personenübergreifende Adressierbarkeit und Kontinuität der Fallarbeit. Die Mitwirkung am Verfahren ist für Anwälte und Richter dabei eine Mitgliedschaftsbedingung, die sicherstellt, dass der Ausgang des Verfahrens für sie ohne persönliche Konsequenzen bleibt. Insgesamt vermögen Gerichte aufgrund ihrer hohen Rechtsbindung zwar nur innerhalb enger Grenzen über die eigenen Strukturen zu disponieren, gleichwohl tragen sie über Verfahrensentscheide zur Rechtsfortbildung bei und können auch selbst prozessrechtliche Prämissen setzen. Im Vergleich zum politisch gesetzten Recht erscheint dieser Anteil gering. Empirisch wird es jedoch einen Unterschied machen, bei welchem Gericht ein Fall anhängig ist – auch wenn dies nach außen nicht darstellbar ist.
Zudem statten Organisationen die Gesellschaft mit Adressen aus. Weder das Funktionssystem der Politik, der Wirtschaft oder des Rechts noch Familien oder Freundschaften können miteinander in Kontakt treten. Und während Interaktionssysteme gewöhnlich kein Systembewusstsein entwickeln und alles Verhalten der Person zuschreiben, ermöglichen Organisationen als einziger Typ eine Zurechnung auf das gesamte soziale System (vgl. Luhmann 1994a, 191; 1997, 834 ff.; 2006, 388). Unabhängig davon, welches Mitglied mit Kunden verhandelt oder eine Pressemitteilung veröffentlicht – für die Fremdwahrnehmung ist es die Organisation als Ganze, die kommunikativ in Aktion tritt. Damit können Organisationen nicht das Wissenschaftssystem oder die Massenmedien als solche einheitlich ansprechen. Weil aber im Einzelnen weitgehend bekannt ist, wer intern für welche Aufgaben zuständig ist, können beispielsweise politische Organisationen mit Wissenschaftsorganisationen über Förderprogramme oder mit Organisationen der Massenmedien über politische Planungsentscheidungen kommunizieren. Durch ihre kommunikative Zurechen- und Adressierbarkeit machen Organisationen ihre selektive Strukturbildung anhand einer Entscheidungsgeschichte14 – sozusagen als Gedächtnis – beobachtbar. Diese kann dann beispielsweise in den Akten von Organisationen erinnert werden.
Wesentlich für die Adressierbarkeit von Entscheidungen ist die organisatorische Hierarchie. In historischer Perspektive ist, wie oben angesprochen, für die moderne Gesellschaft und die funktionalen Teilsysteme konstitutiv, dass sie nicht (mehr) hierarchisch strukturiert sind, sondern vielmehr in einem ständigen Spannungsverhältnis stehen. In Organisationen übernehmen hierarchische Strukturen dagegen die Funktion der Repräsentation einer Einheit an der Spitze, gewährleisten die Entscheidbarkeit von Konflikten und verteilen Verantwortung auf unterschiedliche Stellen (vgl. Luhmann 1999a, 172 ff., 239 ff.).
Mit Blick auf die strukturellen Ermöglichungs- und Einschränkungsbedingungen organisatorischer Differenzierung wird zudem sichtbar, wie Organisationen umgekehrt ihre Selbstbeschreibung auf funktionale Gesichtspunkte und bestimmte Umweltbezüge beziehen. Funktionale Differenzierung dient dabei als relativ invariantes Beobachtungsschema für Organisationen, sodass Organisationen von der Gesellschaft einem Funktionssystemen zugerechnet und beispielsweise Unternehmen als Wirtschaftsorganisationen oder Gerichte als Rechtsorganisationen betrachtet werden. Für eine solche Identitätskonstruktion übernimmt die Organisation dann den Primat des Funktionssystems und dessen Leitunterscheidung für ihre Kommunikation (vgl. Luhmann 1997, 834, 841 ff.; 2006, 388; Tacke 2001b, 141 ff.).15 Aufgrund ihrer einheitlichen Repräsentation und Kommunikationsfähigkeit können Organisationen dabei Adresse und Autor von organisatorischer Strukturkritik werden. Gesellschaftskritik findet aus dieser Perspektive dann als Organisationskritik statt (vgl. Fuchs 1992, 1997; Kette/Tacke 2015).
Trotz der relativen Primatfestlegung auf einen gesellschaftlichen Funktionsbezug wird in Organisationen laufend auf verschiedene funktional-spezifische Sachlagen zurückgegriffen. Organisationen operieren in diesem Sinne immer auch multireferenziell. Der Begriff Multireferenzialität verweist dabei auf zweierlei Besonderheiten von Organisationen. Zum einen ist damit an den Umstand erinnert, dass Organisationen auch Leistungsbeziehungen jenseits der präferierten Funktionsreferenz unterhalten und sich dabei lokale bzw. temporäre widersprüchliche Rationalitäten einstellen können. Organisationen (siehe Tacke 2001b; Bora 2001) – wie auch Verfahren (siehe Nassehi et al. 2019) – spiegeln in ihren Entscheidungen gleichsam die Polykontexturalität der gesellschaftlichen Funktionssysteme. Zum anderen verweist der Begriff darauf, dass Organisationen ökonomische, rechtliche, religiöse, wissenschaftliche oder politische Kommunikation zum gleichzeitigen Gebrauch in unterschiedlichen Funktionssystemen aufeinander beziehen, ohne dass es damit zu einer Verschmelzung der Funktionssysteme kommt.16 Die Multireferenzialität von Organisationen wird dabei wiederum durch die horizontale Differenzierung in Abteilungen und Stellenverteilungen (zum Beispiel Forschungs-, Presse-, Ausbildungs-, Rechtseinheiten) ermöglicht. Sie zeigt sich empirisch beispielsweise daran, dass an Universitäten nicht nur gelehrt und geforscht wird, sondern dass auch Zahlungen vorgenommen werden. Organisationen sind in diesem Sinne Sozialsysteme, die darüber entscheiden können, wie sie lokale Rationalitäten systemrelativ nach Maßgabe ihrer Strukturvorgaben filtern und gewichten. Dass Organisationen dies leisten, ist Ausdruck davon, dass es sich um eigenlogische Ordnungsebenen handelt, die nicht miteinander austauschbar sind (vgl. Luhmann 1997, 841 ff.; 2006, 388 ff.; Wehrsig/Tacke 1992, 229 ff.; Tacke/Drepper 2018, 104 f.).17
Hinsichtlich des Verhältnisses von Organisation und Gesellschaft wird vor diesem Hintergrund zudem deutlich, dass die Eigenschaften der Multireferenzialität und Entscheidungsautonomie von Organisationen gewissermaßen korrelieren. Durch die Bindung an bestimmte Rechts- bzw. Politikentscheidungen (insbesondere an staatliche Geldmittel) können Universitäten, Schulen, Behörden oder Gerichte beispielsweise nur recht begrenzt über die Ausbildung von Strukturbeziehungen zu anderen Funktionskontexten disponieren. Unternehmen verfügen dagegen als „Prototypen der Multireferenz“ (Tacke/Drepper 2018, 105) über eine vergleichsweise hohe Autonomie in der Anpassung ihrer Entscheidungsprämissen an gesellschaftliche Funktionsbezüge (vgl. Luhmann 1999a, 103; Kette 2012, 2017).
Im Unterschied zu gesellschaftlicher Differenzierung hat organisatorische Differenzierung schließlich die wichtige Eigenschaft, „selbstkompensatorische Funktionen übernehmen zu können“ (Luhmann 2011, 12). Organisationssysteme können dazu, eigene Teilsysteme ausbilden, die Konflikte zwischen den übrigen Einheiten entscheiden, Außenbeziehungen zentral verwalten oder Ressourcen verteilen. Selbstkompensation über interne Zusatzdifferenzierung zeigt sich dabei in neuen Stellen und Organisationseinheiten – z. B. für Qualitätsmanagement, IT-Sicherheit oder Strategieentwicklung.
Zusammengefasst verdeutlicht der Blick auf die gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen von Organisationsbildung (der Geldwirtschaft, des Rechts und der Ausbildung) sowie ein Verständnis der gesellschaftlichen Leistungen von Organisationen (die Spezifikation von Entscheidungsprogrammen und Verfahrensstrukturen sowie die Bereitstellung von Adressen), welche Strukturelemente einer Organisation invariant oder disponibel sind. Mit den drei gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen von Organisationsbildung (Abschn. 3.3.1) sowie der hier vorgestellten dreifachen gesellschaftlichen Nachfrage nach Organisationen lässt sich die systemtheoretische Prämisse einer komplementären Ausbildung von Organisationen und gesellschaftlichen Funktionssystemen zwar konzeptionell weiter aufschlüsseln, als dies mit einem spezifisch-kategorialen Strukturbegriff von Organisation möglich erscheint, der nicht trennscharf genug zwischen gesellschaftlichen und sozialen Differenzierungsprozessen unterscheidet. Die bisherigen Überlegungen geben jedoch noch nicht ausreichend Aufschluss über die konkreten Ausgangslagen und Konstellationen, unter denen eine Organisationsbildung sich im Einzelnen vollzieht bzw. vollzogen hat. Neben Fragen zur Variabilität der Entscheidungsprämissen, zu den formal-informalen Problemdynamiken sowie zur Spezifizierung der besonderen Leistungen, die Organisationen für die Gesellschaft und umgekehrt übernehmen, werden zwei weitere Konzepte vorgestellt. Als solche gesellschaftstheoretischen Anleitungen für eine historisch interessierte Organisationsforschung verstehe ich die Differenz unterschiedlicher Abstraktionsgrade von Erwartungszusammenhängen (Abschn. 3.3.3) einerseits und die Unterscheidung von originärer und abgeleiteter Organisationsbildung (Abschn. 3.3.4) andererseits.

3.3.3 Abstraktionsgrade von Verhaltenserwartungen

Der folgende Rückgriff auf die sogenannten Abstraktionsgrade generalisierter Verhaltenserwartungen ist für das Nachzeichnen der vermuteten Organisationsbildung des RKG nicht nur deshalb instruktiv, weil damit Hinweise auf die strukturellen Schwerpunkte einzelner Sozialformen gewonnen werden können. Die Untersuchung der Verbreitung und Varianz von verschiedenen Ebenen sachlicher Erwartungsbezüge gibt auch Aufschluss über die Differenzierungsform einer Gesellschaft. Mit einem erwartungstheoretischen Zugriff ist dabei ein methodischer Vorzug gegenüber entscheidungsbasierten Zugängen verbunden, der erklärungsbedürftig ist. Entscheidungen erscheinen als Analysereferenz deshalb problematisch, weil sie sich als Einzelphänomene nur schwer erfassen lassen. Auch wenn die Existenz von Entscheidungen für die vormoderne Gesellschaft faktisch angenommen werden kann,18 besteht die Herausforderung darin, dass sich die Freiwilligkeit von Entscheidungen kaum empirisch überprüfen lässt, ohne ihrer Fiktion und Simplifizierung aufzusitzen (vgl. Luhmann 1972a, 18, 67, 80; 2006, 124): Die eindeutige Zurückführung von Einzelereignissen auf Entscheider ist angesichts der Vielzahl und Dynamik von kommunikativen Situationen sowie der Interdependenzen zwischen sozialen Kontexten kaum möglich; zumal Erwartungen, solange sie nicht kommuniziert werden, Teil des psychischen Systems bleiben. Einzelereignisse sind damit in ihrem Vollzug eher unauffällig, sie bleiben vielfach gesellschaftlich unbeobachtet und latent. Vor diesem Hintergrund muss die Attribution von Einzelentscheidungen auf Personen weitgehend unterstellt werden. Denn: „[W]er will im Operationsnetz der sozialen Kommunikation feststellen, in welchem Zustand sich der Handelnde befand, als er handelte?“ (Luhmann 2006, 124). Entsprechend ist man zwangsläufig auf soziale Zurechnungen und damit auf Konventionen angewiesen (vgl. Mills 1940; Luhmann 2004, 84 ff.; Japp 2010, 290).
Als theoriegenetische Schnittstelle zwischen Luhmanns erwartungstheoretischen Frühwerk und dem entscheidungs- bzw. beobachtungstheoretischen Spätwerk lässt sich anführen, dass generalisierte Erwartungen nicht nur kommunikative Systemgrenzen differenzieren, sondern auch Referenzpunkte für Entscheidungen darstellen. Denn im Unterschied zu einem ökonomisch-individualistischen Verständnis rationaler Zweck-Mittel-Wahl ist in Luhmanns Systemtheorie der Entscheidungsbegriff von Präferenz auf Erwartung umgebaut worden: „eine Handlung ist immer dann als Entscheidung anzusehen, wenn sie auf eine an sie gerichtete Erwartung reagiert. […]. Erst die Prognose des Verhaltens macht das Verhalten zur Entscheidung; denn erst die Prognose des Verhaltens macht es möglich, ihr nicht zu folgen“ (Luhmann 2019, 313, Herv. i. O., siehe auch 1978a, 16 ff.; 1995a, 307 ff.). Konkret gesprochen wird eine Handlung dann zur Entscheidung, wenn sie „selbst unter Erwartungsdruck gesetzt wird, wenn etwa das leere Glas am Platze des Gastes die Erwartung zum Ausdruck bringt, gefüllt zu werden“ (Luhmann 2019, 313).
Auf diesem Entscheidungsbegriff aufbauend und gestützt auf Luhmanns Rechtssoziologie schlage ich für die Beantwortung der Frage nach der Organisationsförmigkeit des RKG vor, zunächst nach Entscheidungszusammenhängen (im Plural) zu suchen, wie sie beispielsweise als (Zwischen-)Ergebnis von Verfahren sichtbar werden. Verfahren stellen, wie oben erwähnt, beim Übergang vom frühneuzeitlichen Recht stratifizierter Gesellschaften zu einem positivierten Recht funktional differenzierter Gesellschaften eine „ermöglichende Vorleistung“ (Luhmann 1972a, 218) dar. Sie werden von Luhmann denn auch als „der Mechanismus moderner Staatlichkeit“ angesehen (1983, 26). Ähnlich wie Organisationen sind autonome Entscheidungsverfahren historisch also keine Selbstverständlichkeit, sondern Ausdruck eines funktionalen Differenzierungsprozesses. Die Funktionssysteme geben nicht nur die grundlegenden Normen der Rechtsetzung vor, sondern lassen auch die Durchsetzung der politischen Verfahrensentscheidungen mittels eines staatlichen Gewaltmonopols erwarten.
An dieser Stelle ist auf die oben erwähnte doppelte Strukturierung von Verfahren durch Rechts- und Organisationserwartungen zu verweisen. Thomas Scheffer unterscheidet am Beispiel von Gerichten dazu zwischen fallbezogener und fallübergreifender Ordnung (2010, 151). Während im Verfahren Aussagen mit Aussagen verknüpft werden, erzeugen Gerichte fallübergreifende Standards: „Es soll gerade nicht von Fall zu Fall eine neue Interaktionsordnung, eine neue Rollenverteilung oder eine neue Redeweise gewählt werden. Vielmehr verspricht die – lokal gemanagte, landesweit vereinheitlichte, zentral gesteuerte – Gerichtsorganisation ‚Gleichheit vor dem Recht’, insbesondere durch einen zur Schau gestellten zeremoniellen Ablauf, durch rituelle Sprechakte und Formelsprüche, durch symbolische Markierungen von Sprecherposition[en], durch Kleidervorschriften, Respektbezeugungen etc.“ (Scheffer 2010, 151 f., Herv. R.S.; siehe auch Scheffer et al. 2009).19
Der historische Zusammenhang von Recht, Organisation und Verfahren ist allerdings unklar geblieben. Wie im Hinblick auf das Initiieren von Verfahren thematisiert (siehe Abschn. 2.​1.​2 und 3.3.2), ist auch die Ausdifferenzierung von Verfahren auf entscheidungsbasierte, positivierte Strukturvorgaben von außen angewiesen. Die mitlaufende These eines komplementären Bedingungsverhältnisses von Recht, Organisation und Verfahren erscheint für empirische Forschungen dabei ebenfalls tautologisch. Verfahren sind einerseits „Träger der Ausdifferenzierung des Rechts“ (Luhmann 1972a, 218). Als Recht gelten andererseits jedoch nur solche Entscheidungen, die den Filter eines Verfahrens durchlaufen. Verfahren setzen also wiederum selbst formale Organisationsstrukturen und politisch gesatzte allgemeine Rechtsnormen voraus. Die Frage, ob und inwiefern Verfahren (und ebenso Recht) als Promotoren oder eher als Produkt von Organisationsbildungen angesehen und untersucht werden können – und damit verbunden, ob auch „unorganisierte“ Verfahrenssysteme möglich sind –, wurde bislang nicht systematisch verfolgt. Wie können Verfahren Vorleistungen für gesellschaftliche Ausdifferenzierung sein und zugleich nur dort entstehen, wo Recht und Organisation vorausgesetzt werden?
Um auch hier gesellschaftstheoretische Zirkelschlüsse über das komplementäre Bedingungsverhältnis von Organisation und Verfahren zu umgehen, so mein Vorschlag, bietet sich als analytische Referenz der angesprochene Rückgriff auf generalisierte Verhaltenserwartungen an. Für die Beantwortung der Frage nach der Organisation der Rechtsprechung am RKG ist dabei Luhmanns Unterscheidung von vier Abstraktionsgraden sachlicher Strukturbildung zentral: Sachlich generalisierte Verhaltenserwartungen können auf eine konkrete Person, auf eine bestimmte Rolle, auf bestimmte Programme (Zwecke, Normen) oder auf bestimmte Werte bezogen sein (vgl. Luhmann 1972a, 85).20 Je nach den Schwerpunkten der Erwartungsbildung differieren dabei die Begründungen für Normbrüche und damit die Grenzen der Systembildung.
Bei einer personalen Erwartungsorientierung beziehen sich die Erwartungen auf das, was einem konkreten Menschen als Erleben und Handeln zugerechnet werden kann. Sie lassen sich nicht ohne Weiteres auf andere Menschen übertragen. Um sicher und zuverlässig erwarten zu können, muss man diesen Menschen persönlich kennen. Personenkenntnisse setzen gleichwohl eine Geschichte gemeinsamer Interaktion voraus. Die Erwartungssicherheit hängt dabei im Wesentlichen von der Verpflichtung auf eine erkennbare Selbstdarstellung und den Sanktionsmechanismen der sozialen Kontrolle ab.
Neben personaler Normidentifikation, die vor allem für Freundschaftsgruppen von Bedeutung ist, können Rollen als abstraktere Gesichtspunkte der Erwartungsverknüpfung unterschieden werden. Zwar ist eine Rolle auf das zugeschnitten, was menschlich leistbar ist; gleichzeitig sind Rollen nicht auf bestimmte Personen festgelegt. Rollen erzeugen vielmehr eine Erwartungssicherheit, die nur geringe Personenkenntnisse voraussetzt. Denn erwartet man im Verhalten die Ausführung einer Rolle, wird der Erwartungszusammenhang gegen persönliche Einzelheiten indifferenter. In manchen Rollen dominiert ein bestimmter Zweck und andere sind primär durch ein Rangverhältnis definiert. Durch die Trennung von Person und Rolle lassen sich dann Personen als konstant voraussetzen und gleichwohl wechselnde Rollen – etwa in Form einer Karriere – in den Blick nehmen.
Gesellschaftstheoretisch bedeutsam ist die Einsicht, dass sich Personen erst infolge sozialer Rollendifferenzierung individualisieren. An dieser Stelle wird in Bezug auf Organisationsbildung deutlich, dass sich nur Verhaltensweisen, die auch bei anderen Personen erwartbar sind, als Mitgliedschaftsbedingung eignen. Denn wie mit dem Verweis auf die Kapitalisierung kooperativer Arbeit und die Ausbildung von Arbeitsmärkten angesprochen, können nur Personen, die sich potenziell als austauschbar betrachten lassen, auf die Anerkennung kollektiv entschiedener Organisationsstrukturen verpflichtet werden.
Im Vergleich zu konkreten Personen und Rollen dienen Entscheidungsprogramme als abstraktere Gesichtspunkte von Verhaltenserwartungen. Wie oben skizziert (siehe Abschn. 3.2.1), fixieren Programme Bedingungen für die Richtigkeit von Entscheidungen. Die Programmebene wird relevant, wenn ein vergleichbares Verhalten rollenübergreifend erwartbar bzw. austauschbar gemacht werden soll. Beispielsweise umfasst die Entwicklung eines medizinischen oder wirtschaftlichen Produktes nicht nur eine Rollenleistung, sondern auch Entscheidungsregeln für wiederholte Ausführungen. Die Konkretisierung der Erwartungsfestlegung in Programmen kann dabei recht verschieden sein. Entsprechend variieren die organisatorischen Vorkehrungen zur Anpassung bestehender Entscheidungsregeln.
Eine noch höher abstrahierte Möglichkeit zur Strukturierung von Verhaltenserwartungen zeigt sich schließlich dann, wenn auf Richtigkeitsbedingungen für bestimmtes Handeln verzichtet wird und bestimmte Wertausrichtungen als Orientierung festgelegt werden. Werte bezeichnen dabei generalisierte Gesichtspunkte des Vorziehens von Handlungen, die beispielsweise als friedensfördernd, gerecht oder umweltschonend bewertet werden. Weil Werte wenig spezifizieren, welche Handlungen gegenüber anderen präferiert werden, führen sie zugleich ein hohes Potenzial für Widersprüchlichkeiten mit sich. Angesichts der Unbestimmtheit von Werten in Bezug auf akzeptiertes Verhalten lassen sich über Wertekommunikation mithin hohe Konsenschancen realisieren. Je nach Rollenkonstellation können andere (neue) Werte als sozial opportun erscheinen. „Schließlich kann man mit etwas Geschick wohl immer Folgen des eigenen Handelns finden, die förderungswürdigen Zwecken dienen“ (Luhmann 1966a, 77, siehe auch 1972a, 88 f.; 1997a, 818). Ein solcher Werteopportunismus gewährleistet, dass heterogene Werte in verschiedenen Situationen hochgehalten werden können (siehe auch Kieserling 2004, 212 ff.).
Die vier sachlich-generalisierten Identifikationspunkte von Erwartungen bedingen sich wechselseitig: Die Übernahme von Rollen setzt Personen voraus, die diese Rollen übernehmen. Ihre Ausführung kann jedoch nicht allein der Individualität bestimmter Personen überlassen werden. Umgekehrt müssen bei einem Wechsel der Person für eine Rolle bestimmte Erwartungen angepasst werden, sodass gewisse Anhaltspunkte für die Entscheidung über einen solchen Wechsel vorliegen. Auch die Institutionalisierung von Werten muss bei der Ausgestaltung und Interpretation von Programmen vorausgesetzt werden. Zugleich lassen sich Werte nur institutionalisieren, wenn es Programme gibt, welche die Verwirklichung der Werte unter bestimmte, handlungsanleitende Bedingungen stellen (vgl. Luhmann 1972a, 89 f.).
Nimmt man diese vier Abstraktionsebenen der sachlich generalisierten Identifikation von Verhaltenserwartungen zusammen in den Blick, wird zudem eine gesellschaftsstrukturelle Entwicklungstendenz sichtbar. Auch einfache, interaktionsbasierte Gesellschaften kommen nicht ohne wechselnde Wertpräferenzen oder Programme für richtiges Handeln aus. Die Identifikationsebenen sachlicher Verhaltensgeneralisierung verzahnen sich jedoch, sodass gesellschaftliche Änderungen das personen- und rollenbezogene Ranggefüge betreffen und entsprechend auf Widerstände treffen. Die Programme für richtiges Handeln und die Normen für Zwecke sind in einfachen Gesellschaften so eng mit den Erwartungen an eine Person verknüpft, dass es beispielsweise schwer ist, „Täter und Tat zu trennen und die Strafe als Konsequenz eines Entscheidungsprogramms allein nach der Tat zu bemessen“ (Luhmann 1972a, 90). Dagegen benötigen komplexere Gesellschaften zunehmend abstraktere Formen der Herstellung von Erwartungszusammenhängen, um mehr Möglichkeiten zulassen und legitimieren zu können (vgl. ebd., 90f.).
Gesellschaftsstrukturell ist für die Frage nach der Ausdifferenzierung von Organisationen in vormodernen Gesellschaften zentral, dass gerade die auf der mittleren Ebene von Rollen und Programmen generalisierten Erwartungsentwürfe eine hohe Komplexitätsverarbeitung erlauben. Entsprechend bilden diese Ebenen in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften den Schwerpunkt gesellschaftlicher Strukturbildung. Durch eine hohe Anzahl verschiedenartiger Rollen und Programme wird soziale Mobilität – und damit die Individualisierung personaler Identität – zu einer Norm an sich. Die Änderungen des Erwartungsgefüges einer Gesellschaft leiten sich dabei weder primär von persönlichen Interessen noch hierarchisch von einer bestimmten Wertestruktur ab. Vielmehr geht die strukturelle Variabilität von der Ausbildung unterschiedlicher Rollen und Programme selbst aus. Nicht allein das faktische Verhalten wird zunehmend gegenüber gesellschaftlichen Normen als variabel gedacht, sondern auch „die Normen selbst geraten unter den Druck erwünschter Änderungen“ (Luhmann 1972a, 91). So können beispielsweise neue bzw. andere Werte priorisiert werden, ohne das Rollengefüge oder die Identität einer Person zu bedrohen. Zugleich kann persönliches Verhalten gegenüber Rollenanforderungen stärker abgegrenzt werden. Die Trennung von Person und Rolle sowie von verschiedenen (eigenen anderen) Rollen ist gerade für Organisationen konstitutiv (vgl. Luhmann 1999a, 284). Denn als Mitglied gilt es zu unterscheiden, welche Erwartungen nur an bestimmte Personen informal adressiert werden können und welche aufgrund der formalen Position Vorrang haben (vgl. Luhmann 1972a, 81 ff.; 1984, 431).
Vor diesem Hintergrund bietet es sich für die Bearbeitung der Frage nach dem Verhältnis von organisatorischer und gesellschaftlicher Differenzierung in der Frühen Neuzeit an, empirisch nachzuzeichnen, um welchen Abstraktionsgrad von generalisierten Verhaltenserwartungen es sich in einzelnen Kontexten und Situationen handelte. Welche Erwartungen eine normative Drittwirkung entfalten und damit systembildend wirken, ist dabei abhängig von den konkreten Macht- und Aushandlungsprozessen.

3.3.4 Originäre und abgeleitete Organisationsbildung

Neben einer genaueren Einschätzung der Schwerpunkte und Abstraktionsgrade gesellschaftlicher Strukturbildung ist der Prozess der Organisationsgenese selbst empirisch fassbarer zu machen. Zur weiteren gesellschaftstheoretischen Anleitung der Frage nach dem Organisationscharakter des RKG greife ich auf die Unterscheidung von „originärer“ und „abgeleiteter“ Organisationsbildung (Luhmann 1978a, 40) zurück.21 Diese zwei Gründungsformen haben bisher in der empirischen Forschung so gut wie keine Beachtung gefunden. Sie erweisen sich meines Erachtens als aufschlussreich, um das Verhältnis von Organisation und Gesellschaft genauer zu erschließen.
In seinem frühen Beitrag zu „Organisation und Entscheidung“ (1978a) notiert Niklas Luhmann, dass gerade die historische Analyse zwischen einer originär organisationsträchtigen und einer abgeleiteten Organisationsbildung unterscheiden muss. Während sich in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften eine „massenhaft-spontane Autokatalyse von Organisationen“ (Luhmann 1978a, 41) durchgesetzt hat, ist eine originäre Organisationsbildung gesellschaftsstrukturell auf das Vorfinden von Entscheidungen in der Umwelt angewiesen (vgl. Luhmann 1978a, 44). „Originär entstehen Organisationen im Anschluß an situativ offensichtlichen Bedarf für Entscheidungen über kollektive Aktion […], aber auch im Anschluss an Geldwirtschaft oder unter den Bedingungen religiösen Pluralismus“ (Luhmann 1978a, 44). Als eine der ältesten Erscheinungsformen nennt Luhmann an der Stelle ergänzend die „Transformation von Gilden aus religiösen Bruderschaften in Schutz- und Disziplinierungsorganisationen mit Bezug auf politische Herrschaft“ (Luhmann 1978a, 44). Dagegen entstehen Organisationen „abgeleitet“ durch den „Bezug auf Organisationen ihrer Umwelt“ (ebd.). Dabei liefern Konflikte zwischen Organisationen die Voraussetzungen für ihre Bearbeitung und ihr Wachstum, indem sie Referate für wechselseitige Beziehungen einrichten oder gemeinsame Einrichtungen gründen, die von beiden Stellen aus betreut werden müssen“ (ebd.).22 Folgeprobleme von Organisationsbildungen sind beispielweise auch Ausschließungsphänomene. Schulen, Nachhilfeinstitute oder Beratungen können als Organisationsbildungen begriffen werden, die versuchen, auf kumulierte (wohlgemerkt organisierte) Exklusionen in Erziehung, Ausbildung und Beruf zu reagieren (vgl. Tacke 2008, 212 ff.; siehe auch Tacke/Drepper 2018, 111). Wie auch immer die gesellschaftlichen Restriktionen gegenüber Organisationen ausfallen, eine Organisation kann in funktional differenzierten Gesellschaften auf neue Probleme immer nur im Modus von Entscheidungen ansprechen und wiederum Organisationsbildungen betreiben; mit der Folge ihrer massenhaften, abgeleiteten Verbreitung (vgl. Luhmann 1978a, 46).
Die auf knapp zwei Seiten eingeführte Unterscheidung bleibt bei Luhmann kursorisch. Empirische Hinweise auf konkrete „originär organisationsträchtige Ausgangslagen“ und Entscheidungszusammenhänge sind nicht ausgearbeitet. Die wenigen systemtheoretischen Reformulierungen (siehe Drepper 2003, 198; Tacke/Drepper 2018, 112) richten den Fokus auf das Verhältnis von abgeleiteter bzw. reflexiver Organisationsbildung und funktionaler Differenzierung. Auch wenn Luhmann auf die Unterscheidung von originärer und abgeleiteter Organisationsbildung in seinem Aufsatz „nur am Rande“ (1978a, 44) hinweist, lassen sich die Aussagen noch weiter spezifizieren. Die Unterscheidung von originärer und abgeleiteter Organisationsbildung, so meine ergänzende Interpretation, gibt Aufschluss darüber, auf welchen Problemkontext die Gründung einer Organisation zugerechnet wird: auf Probleme, die bisher auf der Ebene gesellschaftlicher Interaktion bearbeitet wurden und sich in Anlehnung an gesellschaftliche „Struktur-“ (Luhmann 1972a, 278) bzw. „Ordnungsvorgaben“ (ebd. 1972c, 272) vollziehen oder auf Probleme, die sich als Folgen anderer Organisationen verstehen lassen.23 Je nach den Entstehungsbedingungen lässt sich der Modus der Organisationsbildung damit entlang der drei Ebenen sozialer Systembildung (Interaktion, Organisation und Gesellschaft) verorten (vgl. ebd. 1975a, 2014). Mit der Unterscheidung von originärer und abgeleiteter Organisationsbildung kann damit verglichen werden, inwiefern mit der Ausdifferenzierung einer Organisation primär kollektive Problemlagen auf der Ebene von Interaktion und Gesellschaft bearbeitet wurden oder aber auf Probleme reagiert wurde, die sich auf andere Organisationen in der Umwelt zurückführen lassen (siehe auch Schwarting 2017a/b).
Die Frage, welches gesellschaftliche Problem genau mit einer Organisationsbildung selbst gelöst wird, ist in der soziologischen Organisationsforschung bislang kaum systematisch untersucht worden. Unbeantwortet bleibt damit, so meine These, was es bedeutet, wenn ein Bedarf für die Lösung eines gesellschaftlichen Problems nicht mehr durch (vereinzelte) Interaktionen – sei es in Familien, Gruppen, durch Protestbewegungen oder Netzwerke – gedeckt wird, sondern durch eine Organisation mit ihren spezifischen (in-)formalen Teilstrukturen kollektiver Kooperation. Die empirisch zu fundierende Vermutung ist, dass sich gerade bei Konfliktlagen mit gesellschaftsweiten Ausmaßen originäre Organisationsbildungen beobachten lassen. Aus den Einsichten über die Genese von Organisationen können sich denn auch vielfältige Formen der Ableitung und Auflösung ergeben, deren empirisch-vergleichende Rekonstruktion produktiv für die weitere Theoriebildung sein kann. Die jeweiligen Stränge der Geschichtswissenschaft von der Antike bis zur Zeitgeschichte – insbesondere die Werke von Karl Marx, Karl Polanyi oder Fernand Braudel – haben zentrale Einsichten über die Strukturumstellungen von einer kleinbäuerlichen Totalinklusion hin zu industriellen Partialinklusionen (im Plural) geliefert. Zum Nachteil einer historisch-soziologischen Organisationsforschung, die an der genaueren Entstehung ihres Gegenstandes interessiert ist, sind diese bisher nicht systematisch zusammengeführt worden.
Für empirisch interessierte Analysen historischer Organisationen in vormodernen Gesellschaftskontexten lässt sich also festhalten: Wenn für die Umwelt einer Organisation nicht (ausreichend) angenommen werden kann, dass diese funktional differenziert war, so kann alternativ bzw. ergänzend gefragt werden, welche Schwerpunkte sich bei der Strukturierung von Verhaltenserwartungen zeigen und inwiefern bei gesellschaftlichen Problemlagen ein Bedarf für kollektive Aktion in Richtung Organisationsbildung beobachtbar war. Die weiterführende Frage ist dann: Inwiefern wurden dazu personen- oder gruppenübergreifende Lösungen bereitgestellt, und auf welche Weise wurden diese Situationsdefinitionen organisatorisch bearbeitet?
Mit diesen Einsichten sollen die theoretischen Überlegungen abgeschlossen werden. Sie legen nahe, dass die soziologische Systemtheorie in ihren gesellschaftsbezogenen Prämissen tautologische Annahmen mitführt, die sich nicht umstandslos für eine historisch-empirisch arbeitende Organisationsforschung nutzen lassen. Die problemorientierte Zusammenführung der Thesen zum Verhältnis von Organisationsbildung und gesellschaftlicher Differenzierung mit der ergänzenden Zuschneidung auf Erwartungszusammenhänge als zentrale analytische Referenz erscheint gleichwohl fruchtbar, um Fragen zur Genese von Organisationen in der „unorganisierten Gesellschaft“ der Vormoderne – und damit für den Fall des RKG – aufzuschließen.
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Fußnoten
1
Zur Abgrenzung von Theorien anhand ihrer Genauigkeit, Allgemeinheit und Einfachheit siehe Weick 1995a, 54 f. Die soziologische Systemtheorie mit ihrem universalen Anspruch (vgl. Luhmann 1984, 33) kann nach diesem Schema als allgemein und genau verstanden werden. Sie unterscheidet sich damit von „Theorien mittlerer Reichweite“ – insbesondere von ‚einfachen‘ Ansätzen und Heuristiken.
 
2
Theorien mittlerer Reichweite (vgl. Merton 1968, 39 ff.; Lepsius 1976, 131) wie der Neoinstitutionalismus oder der Kontingenzansatz erscheinen für diesen Anspruch nur begrenzt geeignet (vgl. Tacke 2008, 214; siehe auch Lindemann 2008, 108ff.). Ein auf Dualität angesetzter Zugang – wie beispielsweise die Strukturationstheorie – würde zwischen Struktur und Handlungsfähigkeit unterscheiden und bei der Untersuchung der Strukturen organisierter Rechtsprechung am RKG lediglich zwei Ausprägungen abgrenzen können – Rechtsprechung als Handlung oder als Struktur (= reproduzierte Handlung) (vgl. Giddens 1984, siehe auch Ortmann/Sydow/Windeler 2000). Ein monostruktureller Fokus auf einen ausgewählten Strukturaspekt – sei es dessen Wirkmächtigkeit und Legitimität (vgl. Meyer/Rowan 1977; DiMaggio/Powell 1983; Zucker 1987) oder dessen mikropolitische Fundierung (vgl. Crozier/Friedberg 1979), würde tendenziell Gefahr laufen, Aussagen gemäß der Logik eines mathematischen Beweises und einer „selbsterfüllenden Prophezeiung“ (vgl. Merton 1948; Thomas/Thomas 1928) zu generieren – mit der Folge, dass man in der Empirie „überall das gleiche wiederfindet“ (Luhmann 1966a, 42).
 
3
Wenn in dieser Arbeit von (Verhaltens-)Erwartungen gesprochen wird, so ist damit streng genommen eine gewisse sprachliche Vereinfachung verbunden, denn empirisch handelt es sich bei sozialer Kommunikation um wechselseitige Verhaltenserwartungen bzw. sogenannte Erwartungserwartungen. Von Strukturen als Erwartungszusammenhängen auszugehen, ergibt sich daraus, dass Erwartungen „nicht einzeln“ auftreten und „auch nicht einzeln erwartbar“ sind, sondern vielmehr situationsübergreifend „generalisiert“ gelten (Luhmann 1972a, 82 f.). Generalisierung von Erwartungen bedeutet dabei keine inhaltliche Verallgemeinerung – derart, dass Erwartungen tatsächlich (psychisch) vorliegen –, sondern dass Erwartungen durch Unterstellungen relativ invariant gegenüber einer sozialen Umwelt wirken (siehe auch ebd. 1984; 1999a, 56, 63 ff.).
 
4
„Faktischer Konsens kann, wenn man darunter gleichzeitiges und gleichsinniges Erleben versteht, unter diesen Umständen nur ein sehr seltenes Ereignis sein, und jedenfalls kann es in bezug auf konkreten, verweisungsreichen Sinn nicht einmal voll adäquates aktuelles Erleben, geschweige denn vollen Konsens geben“ (Luhmann 1972a, 67).
 
5
In der hiesigen Rechtsprechung heißt es, dass die Pflichten aus dem Arbeitsvertrag erfüllt werden, wenn der Arbeitnehmer „unter angemessener Ausschöpfung seiner persönlichen Leistungsfähigkeit“ arbeitet: „Der Arbeitnehmer muss tun, was er soll, und zwar so gut, wie er kann“, so das Bundesarbeitsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahr 2003 (BAG, Urteil vom 11.12.2003, Az. 2 AZR 667/02).
 
6
Entscheidungen sind abstrakt gesprochen Ereignisse, die sich selbst als kontingent thematisieren, d. h. immer auch anders, aber nicht beliebig ausfallen können. Luhmanns Entscheidungsverständnis grenzt sich dabei von klassischen Theorien rationalen Entscheidens ab, die vom Entscheidungsinhalt als einem Zweck-Mittel-Verhältnis ausgehen. Zwecke können Gegenstand von Entscheidungen werden, jedoch lassen sich Vorentscheidungen nicht einfach als Mittel für Einzelentscheidungen ableiten. Ebenso werden Handlungen bei Luhmann von ihrer exklusiven Zweckbindung gelöst. Sie sind nicht Teil eines Zwecks, sondern allenfalls Teile eines sozialen Systems, in dem auch Zwecke eine Teilfunktion erfüllen (vgl. Luhmann 1991, 59; 1978a, 16 ff.; 1995a, 307 ff.).
 
7
Die damit angesprochene Unterscheidung von „Entscheidungsautonomie und Entscheidungsautomation“ (Schwarting 2014) lässt sich auf den ersten Blick auch bei Max Weber als Trennung von Befehlsgewalt und Ausführung finden. Zu ihren akteurtheoretischen Erkenntnisgrenzen siehe Luhmann 1971, 90 ff.
 
8
Und auch Nichtentscheidungen bewahren nicht vor der Riskanz des Entscheidens (zur „Paradoxie des Entscheidens“ siehe Luhmann 2006, 123 ff.).
 
9
Insbesondere bei Fragen zur Außendarstellung zeigt sich eine Stärke der systemtheoretischen Organisationssoziologie. Im Unterschied zum Neoinstitutionalismus wird Formalität in der systemtheoretischen Organisationssoziologie „zweckfrei“ gedacht (Tacke 2015a, 44 ff.) und nicht auf ihre Legitimationsfunktion gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt verkürzt. Vielmehr wird die Legitimation der Formalstruktur in ihrer Funktion für die „Darstellung des Systems für Nichtmitglieder“ (Luhmann 1999a, 108 ff.) als ein Strukturaspekt unter anderen behandelt. Das gilt namentlich für diejenigen Erwartungen, die mit dem Organisationszweck verbunden sind (vgl. Luhmann 1999a, 36).
 
10
Sven Kette (2011, 4) spricht in diesem Zusammenhang vom „multiple-self-Syndrom“ und verweist auf Helmut Wiesenthals (1990) Verständnis „multipler Umwelten“ (siehe zur damit angesprochenen Multireferenzialität von Organisationen Abschn. 3.3.2).
 
11
Luhmann vermerkt, dass sich diese Strukturaspekte in historischer Perspektive schon in alten Bestimmungen des kirchlichen Amtes finden, „wenn auch in diffuser Verschmelzung […]. In diesem Sinne bedeutet munus [also Stelle, R. S.] von Anfang an ein Mehrfaches, nämlich Aufgabe (also Programm), officium (also ins Ethische gewendete personale Motivation [bzw. Personal, R.S.]) und Auftrag [also hierarchische Kommunikationswege, R.S.]“ (Luhmann 1972c, 279, Herv. i. O.).
 
12
Der Verweis auf die formale Ordnung im Konfliktfall ist einem gewissen Verschleiß ausgesetzt: Mit Blick darauf, dass jede Formalstruktur auch Interpretationsleistungen voraussetzt, kann nicht umstandslos davon ausgegangen werden, dass eine auf den Dienstweg gebrachte Entscheidung auch zugunsten des Anrufenden ausfällt. Zugleich bleibt die Inanspruchnahme formaler Erwartungen und Autoritäten nicht ohne Folgen für den Konflikt selbst – insbesondere dann, wenn die andere Seite nach informalen Lösungen sucht (vgl. Luhmann 1999a, 244 f.; siehe auch Tacke 2015a, 64 f.).
 
13
Neben der Versorgung mit Adressen und der Spezifizierung von Entscheidungsprämissen für gesellschaftliche Teilsysteme und Verfahren (Schwarting 2017b) können mit Luhmann „strukturelle Kopplung“ und „Interdependenzunterbrechung“ als zwei weitere Funktionen von Organisationen unterschieden werden (vgl. 1997, 842 ff.). Auf diese sei hier nur stichwortartig verwiesen, weil sie eine relativ hohe Pluralität von Funktionssystemen wie auch Organisationen voraussetzen, die für stratifizierte Gesellschaften nicht ohne Weiteres angenommen werden kann. Auch in theoretischer Hinsicht sind Luhmanns Ausführungen zu strukturellen Kopplungen und Interdependenzen weitgehend global und abstrakt formuliert (siehe z.B. Drepper 2003, 240 ff.; Lieckweg 2001, 267 ff.).
 
14
An dieser Stelle ist relevant, dass eine historisch interessierte und gesellschaftstheoretisch angeleitete Organisationsforschung über einen konzeptionellen „historic turn“ in der Managementforschung (z.B. Bucheli/Wadhwani 2014; Suddaby/Foster 2017) hinausgeht. Bei Letzterer stehen weniger die gesamtgesellschaftliche Problemlage und die Strukturbesonderheiten einer Organisation im Vordergrund als vielmehr die operative Ebene einer Entscheidungsgeschichte.
 
15
Dabei ist zu berücksichtigen, dass den funktionsspezifischen Primärorientierungen und Selbstbeschreibungen von Organisationen normative Grenzen gesetzt sind. Das Rechtssystem verhindert in diesem Zusammenhang, dass sich die Typologisierungen von Organisationen beliebig vermischen (vgl. Tacke 2001b, 158).
 
16
Stichweh (1992) betont, dass auch Professionen mit ihrer Spezialisierung auf einen Sachgesichtspunkt zur Verknüpfung funktionsspezifischer Kommunikation beitragen und dabei funktionale Differenzierung vorantreiben. Bei Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Profession und Gesellschaft wiederholen sich die tautologischen Erkenntnisprobleme der soziologischen Differenzierungstheorie und die damit verbundenen Herausforderungen für empirische Forschungen. Ähnlich wie beim Zusammenhang von Organisationsbildung und Gesellschaft ist auch die historisch interessierte Professionsforschung gesellschaftsbezogen und vorwiegend am Verhältnis von Professionalisierung und funktionaler Differenzierung interessiert. Neben den Arbeiten von Stichweh sei an dieser Stelle mit dem Beitrag von Schützeichel (2018, 28–33) darauf hingewiesen, dass die historische Genese einer Profession nicht allein auf die Kompetenzerweiterung einer einzelnen Berufsgruppe – ergänzend: auf die Mitgliedschaft in einer Organisation allein – reduziert werden kann. Professionalisierung vollzieht sich nicht nur „als Angelegenheit der Profession selbst“, sondern sie beruht auch auf den „Aushandlungen zwischen verschiedenen Akteursgruppen“. In dieser „Ökologie der Professionen“ werden nicht nur andere Professionsrollen relevant, sondern es wird deutlich, dass Professionen fallbezogen arbeiten und Fälle „Grenzobjekte“ darstellen, über die Professionen in Kontakt treten.
 
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Multireferenzielle Beziehungen zeigen sich empirisch in sogenannten episodenhaften Funktionsverschiebungen organisatorischer Interaktion. Der Rechtssoziologe Alfons Bora (2001, 178f.) nennt als Beispiel eine gerichtliche Verfahrensinteraktion, in welcher der Richter eine Klage abweist und der enttäuschte Kläger mit dessen Amtsentzug droht. Die Interaktion und der organisatorische Programmablauf laufen zwar weiter, der rechtliche Funktionsbezug wurde jedoch durch den Wechsel auf Machtkommunikation unterbrochen. Dabei ist wiederum einzurechnen, dass die episodenhafte Ersetzung von Systemreferenzen in einzelnen Kommunikationssequenzen oder die Verschiebung der Gewichte in Organisationen nicht als gesellschaftliche Entdifferenzierung – bzw. hier: Entdifferenzierung des Rechts – zu begreifen sind.
 
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Solange Familien als ökonomische Einheiten bzw. Haushalte funktionierten und sich maßgeblich an (Re-)Produktionserwartungen orientierten, waren Entscheidungen über Nachwuchs und Karriere unwahrscheinlich (vgl. Luhmann 1990b, 131 ff.; 1997, 932; 1984, 838; siehe Abschn. 3.2.1). Auch „ein Kreuzritter mußte sich zwischen den Risiken entscheiden, einer zu werden oder es zu lassen“ (Japp 1990, 38). Gleichwohl wurden in vormodernen Gesellschaften „solche Entscheidungslasten […] durch moralisch-religiöse Konventionen (oder direkt: Zwänge) abgemildert, so daß das Risiko des Entscheidens möglicherweise verdeckt – oder doch latent bleibt“ (Japp 1990, 38).
 
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Aufgrund dieser beiden Entscheidungsweisen von Verfahren bzw. ihrer doppelten Strukturierung lässt sich mit Scheffer (2010, 151) zudem betonen, dass aktuelle Reformversuche, Verfahren als automatisierte Entscheidungsabläufe per „Entscheidungssoftware“ abzubilden, mit eben jenen strukturellen Grenzen und inkompatiblen Eigenlogiken von Organisation und Verfahren konfrontiert sind (siehe auch Luhmann 1966b, 52ff., 67 ff.; sowie am Beispiel des sogenannten COMPAS-Scores im US-amerikanischen Strafvollzug Schwarting/Ulbricht 2019).
 
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Luhmann unterscheidet neben der sachlichen Generalisierung von Verhaltenserwartungen zwei weitere Dimensionen: In der Zeitdimension können Erwartungszusammenhänge durch Normierung enttäuschungsfest auf Dauer gestellt werden. Normierung setzt dabei nicht nur eine Differenzierung gegenüber faktischen Verhaltenserwartungen voraus, sondern auch die Verfügbarkeit kognitiv plausibler Enttäuschungsabwicklung. In der Sozialdimension sind generalisierte Verhaltenserwartungen insofern institutionalisiert, als seitens Dritter erwartbarer Konsens hinsichtlich ihrer Geltung besteht. Die Generalisierung von Verhaltenserwartungen vollzieht sich bei der Ausdifferenzierung von sozialen Systemen in alle drei Richtungen; sie sind aber nicht zugleich maximierbar. Beispielsweise muss die Ausdehnung normativer Mitgliedschaftserwartungen auch ihre Institutionalisierbarkeit sowie Programmierbarkeit mitdenken. So kann Konsens oft nur erreicht werden, wenn entweder der sachliche Bezug, die zeitliche Geltung oder die Zahl der betroffenen Personen beschränkt werden. Sachlich weit ausgreifende Rollenzusammenhänge müssen demgegenüber normativ lax erwartet werden, das heißt temporär gegenüber Ausnahmen und Abweichungen tolerant sein. Wie oben erläutert, erfolgt diese Generalisierung von Verhaltenserwartungen in Organisationen durch die Formalisierung bzw. die Konditionierung des Eintritts mittels bestimmter, durch Entscheidung änderbarer Mitgliedschaftserwartungen (siehe Luhmann 1999a, 54 ff.; 1984, 426 ff.; Tacke 2015a, 60).
 
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Im Gegensatz zur Unterscheidung von originärer und abgeleiteter Organisationsbildung beschreibt der Begriff „Anlehnung“ allgemeine Ausdifferenzierungsprozesse von Sozialsystemen. Luhmann betont beispielsweise, dass sich „für die soziologische Analyse eine Fülle von Problemen daraus“ ergibt, „daß Ordnungsvorgaben der Umwelt auf sehr verschiedene Weisen in das System übernommen werden können, und daß solche Anlehnung je nach dem Sinne des einfachen Systems, aber auch mit dem gesellschaftlichen und dem organisatorischen Kontext des Handelns variiert“ (Luhmann 1972c, 272). Der Begriff „Anlehnungskontext“ wird von Stichweh (1991) für Ausdifferenzierungsprozesse auf der Ebene der gesellschaftlichen Teilsysteme eingeführt – konkret: für Autonomiegewinne in der Interaktion von Politik und Erziehung im 16.–18. Jahrhundert (siehe auch Luhmann 1994b, 259).
 
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Die These einer abgeleiteten Organisationsbildung findet sich implizit bei Arthur Stinchcombe (1965) und James Coleman (1974) in der Form, dass korporative Akteure eine Zusammenarbeit mit anderen Korporationen bzw. juristischen Personen gegenüber natürlichen Personen bevorzugen. Diese Konstellation hat für korporative Akteure den Vorteil, dass sie nicht mehr an die Lebensdauer ihrer Mitglieder gebunden sind (siehe auch Kantorowicz 1957; Hannan/Freeman 1984, 153; zur US-amerikanischen Durchsetzung von Organisationen als „legal persons“ siehe Matys 2011).
 
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Sofern man vermutet, dass Organisationen auch in nicht primär funktional differenzierten Gesellschaften möglich sind, muss sich die Unterscheidung dabei nicht mit einer (harten) Differenz von vormodern/modern bzw. stratifizierter und funktionaler Differenzierung decken.
 
Metadaten
Titel
Theoretische Grundlagen: Beitrag der soziologischen Systemtheorie
verfasst von
Rena Schwarting
Copyright-Jahr
2020
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-32872-6_3