Wer in der digitalen Welt nicht untergehen will, muss sich einige Kompetenzen aneigen. Sonst frisst die Digitalisierung ihre User, warnen Anabel Ternès und Hans-Peter Hagemes im Gespräch mit Springer Professional. Insbesondere Unternehmen sollten sich ihrer Verantwortung bewusst sein.
Springer Professional: Welche Entwicklungen sehen Sie bei der digitalen Transformation besonders kritisch?
Anabel Ternès: Das Thema Privatsphäre steht für mich ganz oben: Einerseits sammeln innovative und immer ausgeklügeltere Tools jede Menge an Informationen, die wir auch unwissentlich im Internet hinterlassen. Mit diesen Daten können Unternehmen ihre Angebote personalisieren und optimal platzieren – fast ganz automatisch. Für sie eine wunderbare Sache, allerdings muss dabei klar der Schutz der Privatsphäre gewahrt werden. Und hier sind auch Konsumenten selbst gefragt, eine stärkeres Empfinden für Eigenverantwortung zu entwickeln: Jeder Nutzer hat spätestens seit der neuen EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) die Möglichkeit, sich für den Schutz der Daten, die Unternehmen von ihm erfasst haben, einzusetzen. Es bleibt abzuwarten, wie diese Möglichkeit genutzt wird. Ich würde mir wünschen, dass an dieser Stelle von Unternehmen mehr Sorgfalt an den Tag gelegt wird. Weitere problematische Bereiche: Die vermeintliche Anonymität im Internet verleitet zu verbalen Attacken und Übergriffen, für die im analogen Leben die Hemmschwelle deutlich höher liegt. Gleichzeitig kursieren so viel Halbwissen und Fake News: Wissensaneignung und Kommunikation werden oberflächlicher, was zum Beispiel in Unüberlegtheiten gipfeln kann, wie Twitter-Nachrichten von Trump.
Hans-Peter Hagemes: Besonders kritisch sehe ich die gesellschaftspolitischen Implikationen. Wir haben es ja nicht nur mit einer technischen Revolution zu tun, sondern mit einem Phänomen, welches das Leben nahezu eines jeden Einzelnen verändern wird. Parallel dazu werden die sozialen und politischen Eckpfeiler unserer Gesellschaft in Frage gestellt. So wird bei vielen Menschen aus einer Politikverdrossenheit eine Demokratieverdrossenheit. Menschen bewegen sich häufig nur noch in Echoräumen, in denen sie ihre Ideen vielstimmig bestätigt sehen und dadurch sich häufig weiter radikalisieren, und das nicht nur in ihren oft hasserfüllten Posts in der digitalen Welt, sondern auch in der wirklichen Welt. Schon heute sind zahlreiche Deutsche der Auffassung, dass die Demokratie nicht die beste aller Staatsformen für uns ist. Und der soziale Zusammenhalt in unserer Gesellschaft wird durch Hassmails und Wutbürger sicher nicht gestärkt.
Im Umgang mit persönlichen Daten sind insbesondere Generation Y und Z lax. Wie kommt es zu diesem Umgang mit liberalen Grundrechten beziehungsweise warum haben sie einen so geringen Stellenwert?
Hans-Peter Hagemes: Die Forschung sagt uns, dass es 30 bis 40 Prozent der User total gleichgültig ist, was mit den Daten geschieht. Und das sei eine wachsende Gruppe. Darunter viele jungen Menschen. Die Jungen haben eine tolle Eigenschaft: Sie sind neugierig, möchten alles ausprobieren. Aber das tun sie eben auch im Netz. Probieren alles aus, und wenn die Älteren warnen oder wenn‘s gar verboten ist, umso lieber. Die Datenspuren, die sie dabei hinterlassen, sind ihnen egal. "Schließlich tun es die anderen doch auch“, ein Argument, das jede Mutter, jeder Vater kennt. Zudem sind gerade jungen Menschen in ihrer Sozialisation leicht beeinflussbar, etwa von Freunden, die häufig eine höhere Glaubwürdigkeit haben als Eltern oder Lehrer. Und: Die Jugend ist mit dem Netz aufgewachsen. Die Digital Natives stellen sich häufig über den Umgang mit dem Internet genauso wenig Fragen wie die Älteren beim Brötchenkauf. Total normal halt.
Wobei sehen Sie insbesondere Unternehmen in der Pflicht, wenn es um die Digitalisierung und den Datenschutz geht?
Anabel Ternès: Unternehmen sollten zu Vorbildern werden, sich die für eine erfolgreiche digitale Transformation notwendigen Kompetenzen aneignen, aber auch die wichtige Sensibilität für den Umgang mit wichtigen Daten entwickeln. Werden Analytic-Tools verwendet, was ja legitim ist, sollte das auch klar und transparent kommuniziert werden: Welche Daten werden wofür wie lange gespeichert? Unternehmen tragen angesichts der Wissensunterschiede Verantwortung für Konsumenten, denen sie nach einer umfassenden Aufklärung die Möglichkeit zur Selbstverwaltung und bei Bedarf auch zur Löschung der persönlichen Daten einräumen müssen. Allerdings habe ich den Eindruck, dass sich noch immer eine ganze Reihe der Unternehmen wegduckt. Der Digitalisierung können sie jedoch nicht entgehen.
Die DSGVO soll insbesondere den Datenmissbrauch stoppen. Doch die letzten Facebook-Skandale führen die Verordnung ad absurdum. Wie bewerten Sie Grenzen und Möglichkeiten der EU-Datenschutz-Grundverordnung?
Hans-Peter Hagemes: Die europäische Datenschutzgrundverordnung ist sicher nicht perfekt. Wichtig ist vor allem, dass sie beispielsweise das sogenannte "Recht auf Vergessen" festgeschrieben hat. Aber sie bietet in anderen Bereichen auch Rechtsunsicherheit, die demnächst sicher viele Gerichte, in letzter Instanz wohl den Europäischen Gerichtshof, beschäftigen wird. Und gerade Skandale wie die jüngsten Facebook-Datenmissbräuche werden damit nicht verhindert werden können, zumal, wenn kriminelle Energie dahinter stecken sollte. Interessant dabei: Auch Unternehmen außerhalb der Europäischen Union unterliegen ja der Verordnung, wenn sie etwa Waren oder Dienstleistungen hier anbieten oder das Verhalten von Personen in der EU beobachten. Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass internationale Unternehmen die neue EU-Regel einfach für ihr Geschäft übernehmen. Im Gegenteil: Facebook ist gerade dabei, seine internen Nutzer-Zuordnung so zu organisieren, dass rund 1,5 Milliarden Facebook-Nutzer aus Afrika oder Asien nicht die gleichen Rechte und Klagemöglichkeiten wie die EU-Bürger erhalten.
Wenn Sie einen Blick in die Glaskugeln werfen: Welcher digitale Trend wird einfach nicht zu stoppen sein – trotz vielleicht negativer Konsequenzen für Menschen, Unternehmen und Gesellschaft?
Anabel Ternès: Ganz klar: Artificial intelligence. So schön der Gedanke ist, dass Maschinen in nicht allzu ferner Zeit eigenständig Prozesse entwickeln, Entscheidungen treffen und damit komplexe Aufgaben erledigen können – wo bleibt der Mensch? Wozu werden wir dann noch benötigt? Natürlich gibt es ausgesprochen positive Effekte, wenn ich zum Beispiel an den Katastrophenschutz oder die Pflege schwerstbehinderter Menschen denke. Problematisch sehe ich jedoch das Bestreben, Computer als Führungskräfte in Unternehmen oder im militärischen Bereich einsetzen zu wollen. Letztendlich muss diese Entwicklung streng reguliert werden. Das Potenzial der Verselbständigung und des damit verbundenen Kontrollverlustes des Menschen ist bei Weitem keine Fiktion mehr. Und eine Enthumanisierung sollte weder das Ziel noch die Folge der digitalen Transformation sein.