Der Aufsatz behandelt den Zusammenhang von Öffentlichkeit, Transparenz und Deliberation im parlamentarischen Entscheidungsprozess. Er rekonstruiert in einem ersten Schritt die Diskussion über positive und negative Effekte von Öffentlichkeit auf Deliberation innerhalb der deliberativen Demokratietheorie. In einem zweiten Schritt stellt er diesen Überlegungen die analoge Diskussion innerhalb der Parlamentarismustheorie gegenüber. Dabei wird argumentiert, dass letzterer durch die implizite Gleichsetzung von Transparenz mit der Öffentlichkeitsfunktion von Parlamenten die Chance entgeht, von der ausdifferenzierten demokratietheoretischen Diskussion zu profitieren. In einem dritten Schritt liefert der Aufsatz mittels einer Fallstudie zu den Wirkungen von Öffentlichkeit und Nicht-Öffentlichkeit auf Deliberationsprozesse im Deutschen Bundestag Belege für die diskutierten Vermutungen der Demokratietheorie. Gleichzeitig zeigt er jene Mechanismen auf, mittels derer Öffentlichkeit in nicht-öffentliche Beratungsarenen hineinwirkt.
Anzeige
Bitte loggen Sie sich ein, um Zugang zu Ihrer Lizenz zu erhalten.
Ich danke den Herausgebern dieses Bandes sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Autorenworkshops am 12./13. Januar 2018 am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin für ihre hilfreichen Anmerkungen zu einer früheren Fassung dieses Aufsatzes.
Vgl. auch Benhabib (1996, S. 68): „I will argue that legitimacy in complex democratic societies must be thought to result from the free and unconstrained public deliberation of all about matters of common concern. Thus a public sphere of deliberation about matters of mutual concern is essential to the legitimacy of democratic institutions.“
Ein weiterer gegen die deliberative Demokratietheorie vorgebrachter Einwand betrifft die von Habermas rekonstruierten Geltungsansprüche rationaler Diskurse. Diese seien politisch irrelevant, weil „Wahrheit und Authentizität schlicht keine geeigneten Kategorien einer pluralistischen und repräsentativen Demokratie sind“ (Baumann 2014, S. 409). Diese These kann hier nicht eingehend diskutiert werden (für ein Gegenargument, das auf die kommunikativ-kritische Funktion von diskursiven Geltungsansprüchen abhebt, siehe Schäfer 2017b, S. 4–6). Verwiesen sei aber zumindest auf die sehr weitreichende Implikation dieser These, die, wenn sie zutrifft, nicht nur einfach bedeutet, dass unaufrichtige, falsche und unangemessene Aussagen politischer Akteure ständig vorkommen, sondern auch, dass dies von der demokratischen Öffentlichkeit systematisch gleichgültig hingenommen wird.
Das Nachdenken über die Einbettung deliberativer Prozesse in den Zusammenhang politischer Systeme ist in der deliberativen Demokratietheorie keineswegs neu. Die elaborierteste frühe Variante findet sich bei Habermas (1994). Allerdings hat das Nachdenken über die theoretischen Implikationen systemischen Denkens für deliberative Zielvorstellungen in den letzten Jahren deutlich an Dynamik gewonnen (s. u.).
Aus dieser Perspektive muss die deliberative Demokratie also insgesamt als ein öffentliches Unterfangen verstanden werden. Das schließt aber nicht aus, dass einzelne Arenen und Phasen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, wenn es legitime Gründe dafür gibt. Entscheidend ist, dass die jeweiligen Begründungen argumentativ angefochten werden können.
Als weitere Gefahr der Öffentlichkeit nennt Elster, dass eine anwesende Zuschauermenge durch Druck den demokratisch gewählten Repräsentanten ihren Willen aufzwingen könne (1998, S. 111). Dies setzt allerdings voraus, dass diese Gruppe von Zuschauern über einen kollektiven Willen verfügt und sie diesen – in welcher Form auch immer – artikulieren kann.
Neben diesen beiden Funktionen nennen die Autoren auch die ethische Funktion von Deliberation (Mansbridge et al. 2012, S. 11). Auch wenn diese Unterscheidung analytisch hilfreich ist, um verschiedene Aspekte von Deliberation aufzuzeigen, läuft sie dennoch Gefahr, das Konzept normativ zu desintegrieren – so als ob die unterschiedlichen Funktionen auch getrennt voneinander zu erfüllen wären. Denn die legitimatorische Kraft der Praxis der Deliberation besteht ja gerade darin, epistemische Aspekte als demokratische Funktionen zu deuten – und nicht dem demokratischen Prozess einen andersartigen korrigierenden Legitimations-Modus hinzuzufügen, der dann für die epistemische Qualität von Entscheidungen sorgt. Besser wäre es daher (wie es die Autoren auch andeuten), anstatt von einer demokratischen von einer Inklusions-Funktion zu sprechen und die Kombination aller drei Funktionen (der ethischen, epistemischen und inkludierenden) als das demokratische Ziel von Deliberation zu verstehen.
Anstatt eine plebiszitorische Strategie zu verfolgen, kann die deliberativ orientierte Sprecherin die notwendigerweise asymmetrische Struktur der Massenkommunikation ausbalancieren, indem sie eine Beziehung der Reziprozität zwischen ihr und dem konkreten Publikum herstellt. In Bezug auf die begriffliche Ausdifferenzierung der Aspekte von pathos, ethos und logos in der aristotelischen Rhetorik zeigt Chambers auf, dass das Problem der plebiszitorischen Rhetorik nicht in der Ansprache von Emotionen an sich liegt, sondern von solchen, die demokratische Orientierung und kritische Reflexion untergraben (wie Neid, Hass, Missgunst). Eine deliberative Rhetorik müsse dagegen darauf zielen, selbst-reflexiv die Perspektive der Zuhörer einzunehmen und die eigenen Argumente aus anderen Blickwinkeln zu erörtern (Chambers 2004, S. 401 ff.). Das passive Publikum soll so die Chance erhalten, zu aktiven Zuhörern zu werden und dadurch nicht nur zum Handeln, sondern auch dazu motiviert werden, sich eine kritisch-reflektierte Meinung zu bilden (Chambers 2009, 335 ff.).
Während in der früheren theoretischen Diskussion Deliberation von Verhandeln abgegrenzt wurde, indem die Gegensätzlichkeit von „arguing“ und „bargaining“ herausgestellt wurde (siehe z. B. Elster 2000; Saretzki 1996), wird jüngst der Versuch unternommen, das Verhandlungskonzept selbst in ein deliberatives und nicht-deliberatives zu differenzieren (vgl. Mansbridge 2015).
Ein ähnliches Argument liefert Bohman (2007), wenn er den epistemischen Wert von Diversität für Deliberation hervorhebt: „[…] deliberating in heterogeneous groups improves its quality by making deliberators less susceptible to cognitive errors and biases“ (ebd., S. 349). Dabei betont er, dass es weniger auf die Heterogenität von Meinungen als solchen, sondern vor allem auf die Diversität von Perspektiven ankommt, welche wiederum auf sozialen Erfahrungen und Positionen beruhen. Denn solche Perspektiven sind der Ausgangspunkt von Meinungen und können deshalb im Laufe des deliberativen Prozesses auch neue Meinungen generieren. Nur durch den Einschluss diverser Perspektiven kann somit demokratische Inklusion gewährleistet werden.
Transparenz wird hier – in Anlehnung an die systemtheoretische Steuerungsdiskussion – als ein umfassendes Prinzip aufgefasst, das nicht nur die demokratietheoretische Forderung nach Öffentlichkeit, sondern auch das funktionale Erfordernis umfasst, durch offene Kommunikation von Problemen und Vorhaben, Koordination unter Experten, Interessenträgern und politischen Entscheidern zu gewährleisten (Thaysen 1972, S. 87). Für Thaysen stellt sich das Problem der Transparenz in dreifacher Hinsicht: qualitativ in Hinblick auf die Beschaffenheit der Öffentlichkeit und auf ihren Zugang zu Information und Partizipation; quantitativ bezüglich der Zahl der zu Informierenden und der Informationen; sowie „sozialtechnisch“ nach der Bewerkstelligung des Zugangs (ebd., S. 90).
Siehe Thaysen (1972, S. 91): Weitere in diesem Zusammenhang genannte Untersuchungsbeispiele sind „[…] die Zulassung von Rundfunk und Fernsehen zu den Beratungen des Bundestages, seine Gemeinschutzordnung (u. a. Fotografier-Verbot), die öffentlichen Anhörungen, Große und Kleine Anfragen, […], die Öffentlichkeitsarbeit des Bundestages […] sowie alle faktischen und juristischen Regulierungsmechanismen für den Zugang und Einfluss von Verbänden auf das Regierungssystem […].“
Theoretische und empirische Belege für diesen Ausweichmechanismus liefern u. a. Swank und Visser (2013), die aber auch darauf verweisen, dass die Kombination von formell öffentlichen Sitzungen mit informellen geheimen Vortreffen im Vergleich zu nur im Geheimen tagenden Gremien bessere Entscheidungen hervorbringen könnten, weil Gremienmitglieder durch die Notwendigkeit der öffentlichen Ratifizierung von im Geheimen getroffenen Entscheidungen diszipliniert würden.
Diese argumentative Figur findet sich auch beispielsweise bei Baumann (2014, S. 416): „Um Politik wieder stärker zu einer ‚Sache der Bürger‘ zu machen, müssten erst – oder zumindest im Gleichtakt mit der Implementation von Transparenz – das Interesse und die Politikfähigkeit der Bürger gestärkt werden. Das ist kein einfaches Unterfangen.“
Steffani fordert im Sinne einer „komplexen Demokratietheorie“, dass keines der drei normativen Kriterien verabsolutiert werden dürfe: „Demokratischen Ansprüchen genügt ein Regierungssystem erst dann, wenn es effiziente Problemlösung und Innovation bei Optimierung der Partizipationschancen aller Bürger und der Transparenz aller relevanten Planungs-, Diskussions- und Entscheidungsabläufe zu leisten vermag. Auf diesen demokratischen Anspruch hin sind die institutionellen Strukturen und Handlungsabläufe konkreter politischer Systeme zu überprüfen“ (Steffani 1971, S. 29).
Zu näheren Angaben siehe Schäfer (2017a). Die Studie nutzte u. a. 34 Experteninterviews mit Bundestagsabgeordneten, um deren Betriebswissen für die Rekonstruktion der Ausgangsbedingungen, Formen und Praktiken sowie Wirkungen von Deliberation im parlamentarischen Entscheidungsprozess zu analysieren.
Die jeweils angegebenen Kürzel, z. B. B1, 36, beziehen sich auf die durchnummerierte Liste der Befragten und den jeweiligen Absatz der Interviewtranskription. Bei wörtlichen Zitaten ist zudem die jeweilige Zugehörigkeit des Interviewpartners zur Regierungsmehrheit bzw. Opposition mit angegeben. Kursive Hervorhebungen in Zitaten stammen vom Autor. Die Textbelege zu den paraphrasierten Aussagen der Interviews können auf Nachfrage vom Autor zum Abgleich der Interpretation zur Verfügung gestellt werden.
B3, 31; B20, 56; B32, 34–36. Einige Abgeordnete teilen diese Beobachtung eines wesentlichen Unterschieds in der Qualität der Beratung zwischen öffentlichem Plenum und nicht-öffentlichem Ausschuss nicht (B1, 17; B19, 40; B26, 121–123). Dies verweist möglicherweise auch auf Unterschiede zwischen verschiedenen Fachausschüssen.
Man trifft mitunter aber auch auf Interviewpartner, die sich einen noch stärkeren Rechtfertigungsdruck durch Öffentlichkeit im gesamten parlamentarischen Beratungsprozess wünschen [B19, 40; B26, 121–123]. Aus Sicht eines Befragten müssten beispielsweise die nicht-öffentlichen Sitzungen des Ausschusses noch stärker an die öffentlichen Arenen angedockt werden, um die Debatte zu dynamisieren: „Ich glaube, Pfeffer kriege ich und Spannung und auch vor allen Dingen dann auch das Rechtfertigen, warum man sich dann entgegen des Sachverständigen-Rates beispielsweise so oder so verständigt hat nur, indem ich deutliche Impulse nach draußen setze und also die Anhörung mit der Ausschussarbeit viel stärker verknüpfe“ [B19, Opposition, 40].