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2020 | OriginalPaper | Buchkapitel

3. Über das Politische writ small: Eine Annäherung an kritische Praktiken im Alltag

verfasst von : Melanie Hartmann

Erschienen in: Zwischen An- und Ent-Ordnung

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Während in Kapitel 2 Fragen der räumlichen An-Ordnung und sozialen Produktion der Sammelunterkünfte im Mittelpunkt standen, wird in diesem Kapitel primär den Momenten der Herausforderungen, der Dislokation und des Ent-ordnens dieser räumlichen Ordnungen mit Hilfe des politiktheoretischen Konzepts des Politischen nachgespürt. Dabei ist das Politische nicht mit Politik gleichzusetzen. Vereinfacht gesagt beschäftigt sich Politik mit den Verteilungsregeln einer sozialen Ordnung. Demgegenüber ereignet sich das Politische dann, wenn diese Regeln infrage gestellt und ihre Kontingenzen offenbart werden. Da für die vorliegende Arbeit insbesondere alltägliche Praktiken des kreativen Umordnens, Aneignens und Irritierens der (Verteilungs-)Ordnung der Sammelunterkünfte für Geflüchtete interessieren, muss der Begriff des Politischen zudem so weit gefasst werden, dass das Politische auf allen Skalen und Dimensionen der (Re-)Produktion sozialer Räume verortet werden kann. Aus diesem Grund erfährt das Konzept in diesem Kapitel und insbesondere im sich anschließenden Zwischenfazit II eine konsequente Reformulierung als Politisches writ small. Dadurch wird es möglich, mit der theoretischen Brille des Politischen nicht nur auf den Makrolevel der gesellschaftlichen Gründung der Sammelunterkünfte bzw. auf Momente des Versuchs der Überwindung dieser Raumordnungen als solcher zu blicken, sondern auch den raumkonstitutiven Level der räumlichen Alltagspraktiken bzw. die Irritationen und Herausforderungen der Verräumlichungsprozesse im Alltag zu erfassen.

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Fußnoten
1
Sich Alltagspraktiken der Herausforderung bestehender räumlicher An-Ordnungen zu betrachten, bedeutet jedoch nicht, dass damit auf der Ebene der Politik empirisch zu bestimmen wäre, was das Politische als solches sei, dies ist per definitionem unmöglich. Vielmehr geht es darum, die ontischen Praktiken der Ent- und Umordnung der Räume der Sammelunterkünfte vor dem Hintergrund eines Denkens der politischen Differenz als Aktualisierungen der Logik des Politischen zu lesen und somit die kreativen, klandestinen Praktiken und Taktiken der Bewohner*innen als dezidiert politische Praktiken zu verstehen. Somit wird in diesem Kapitel der Anspruch umgesetzt, die Ebenen von Politik und dem Politischen auf eine Weise miteinander in Verbindung zu bringen, dass diese Verbindung in sich schlüssig ist. Oliver Marchart merkt dazu an: „Ohne damit sagen zu wollen, dass aus einem bestimmten Politikbegriff ein bestimmter Begriff des Politischen mit logischer Notwendigkeit abgeleitet werden könnte (oder umgekehrt), müssen ontische und ontologische Kategorien in ein Spiel wechselseitiger Bestimmung treten, das vor dem Hintergrund der jeweils anderen Ebene innere Schlüssigkeit aufweist. Unsere Vorstellung vom Phänomenbereich der Politik wird unseren Begriff des Politischen prägen, die angelegte Kategorie des Politischen unsere Perspektive auf Politik bestimmen. Da mehrere Flexionen des Begriffs des Politischen im Angebot sind, kann uns die Entscheidung für den einen oder anderen Begriff des Politischen nicht abgenommen werden“ (Marchart 2010, S. 322). Ich werde weiter unten noch einmal darauf zurückkommen.
 
2
Für eine systematisierende Darstellung verschiedener Akzentuierungen des Politischen als Norm, Hegemonie, Unterbrechung, Stiftung und Sozialität siehe bspw. Bedorf (2010).
 
3
Siehe für systematische Einführungen in das Denken des Politischen und seiner Referenztheoretiker*innen beispielsweise Bedorf und Röttgers (2010); Bröckling und Feustel (2010); Flügel et al. (2004); Heil und Hetzel (2006); Marchart (2010). Zudem wäre entlang der hier skizzierten Begrifflichkeiten ein schier unerschöpfliches Weitererkunden möglich. Auch könnte die Reihe der aufgeführten konzeptionellen Annäherungen an das Politische um eine Vielzahl weiterer Begriffe verlängert werden: Antagonismus, radikale Demokratie, Hegemonie, Konflikt und Konsens, Partikularität und Universalität sind nur einige davon (zumindest teilweise werden sie jedoch in den u.s. Erläuterungen mit aufgegriffen). All diese Stränge werden hier jedoch nicht weiterverfolgt, da ein solches Unternehmen letztlich den roten Faden dieser Arbeit ins Unerkenntliche ausfransen lassen würde.
 
4
Was die Frage und (kämpferische) Auseinandersetzung darüber mit einschließt, welche Gruppen von Menschen überhaupt in die Kategorie des Rechts, Rechte zu haben inkludiert werden (vgl. Arendt 1973 [1951], S. 296; Lefort 1990b). Etwas anders gewendet könnte man sagen, wie Susanne Krasmann in ihrer Rancière-Rezeption hinsichtlich dessen Denkfigur der „Gleichheitseinschreibung“ (Rancière 2002 [1995], S. 134) feststellt, dass die Intervention privater Seenotrettungsmissionen eine Konfrontation der vermeintlich umfassenden Geltung der Menschenrechte mit ihrer Nicht-Geltung darstellt: „Das Subjekt der Menschenrechte konstituiert sich, indem es sich auf das geschriebene Recht bezieht und eine Singularität reklamiert; indem es den Inhalt und Adressaten der Menschenrechte zur Diskussion stellt; und indem es die umfassende Geltung der Menschenrechte mit ihrer Nicht-Geltung konfrontiert. Politik [das Politische, M.H.] artikuliert sich hier als Unvernehmen gegenüber der konstatierten Universalität der Menschenrechte, die diese ebenso wie eine je bestimmte Vorstellung vom Menschen und seiner Würde als gegeben voraussetzt“ (Krasmann 2010, S. 90).
 
5
Geographisch-historischer Ausgangspunkt dieser Neuausrichtung des politischen Denkens (bzw. des Denkens des Politischen) war die französische politische Philosophie der 1980er und dort insbesondere das Centre de recherches philosophiques sur le politique mit den dort arbeitenden Theoretiker*innen wie Philippe Lacou-Labarthe, Jean-Luc Nancy, Claude Lefort, Alain Badiou und Jacques Rancière. Trotz unterschiedlicher Lesarten maßen sie alle der Reflektion der Differenz zwischen Politik und dem Politischen (bzw. franz. zwischen la politique und le politique), einen zentralen Stellenwert in ihrer Arbeit bei. Von diesem Centre des Denken des Politischen aus entwickelte sich die Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen in den vergangenen Jahrzehnten zu einer der zentralen Leitdifferenzen zeitgenössischer, kontinentaler Sozialphilosophie (vgl. Bröckling und Feustel 2010). In den nachfolgenden Absätzen sollen die Koordinaten dieser Differenz näher ausgeleuchtet werden.
 
6
Insbesondere in den Arbeiten zur radikalen Demokratie bzw. den Entwürfen einer Theorie radikaler Demokratie, wie sie sich beispielsweise bei Ernesto Laclau und Chantal Mouffe finden, werden die Sphären von Philosophie und Praxis bzw. Theorie und praktischer Politik auch explizit wieder miteinander verknüpft (vgl. einführend Heil und Hetzel 2006; vgl. Laclau und Mouffe 2000 [1985]).
 
7
Andere Akzentuierungen der politischen Differenz als politisches Paradox bzw. als politisch authentischer politischer Politik vs. politisch defizitärer, apolitischer Politik finden sich zum Beispiel bei Paul Ricoeur (1974) bzw. Hannah Arendt (1993). In dieser kurzen Darstellung muss aber sowohl auf eine genealogische als auch systematisch-vergleichende Einführung unterschiedlicher Lesarten der politischen Differenz verzichtet werden.
 
8
Die unhintergehbaren gesellschaftlichen Konflikte, die jederzeit die antagonistische Intensität von Freund-Feind annehmen können, in einer agonalen Gegenüberstellung zwischen Gegnern zu zähmen, nohne sie in einem vermeintlichen Konsens aufzulösen, bildet deshalb beispielsweise den Kern der politischen Demokratietheorie Chantal Mouffes und Ernesto Laclaus (vgl. Butler et al. 2000; Laclau und Mouffe 2000 [1985], 2001 [1985]; Mouffe 2005).
 
9
Die verschiedenen Theoretiker*innen radikaler Demokratie arbeiten mit unterschiedlichen Begriffen, um die Unbestimmbarkeit des demokratischen Prozesses auszudrücken. Claude Lefort etwa spricht von der „leeren Mitte der Macht“ (Lefort 1990a, 2019), Jacques Derrida davon, dass die Demokratie „im Kommen bleibt“ (Derrida 2003). Vorstellungen, wie sie sich etwa bei Jürgen Habermas (vgl. Habermas 2016 [1995]) finden, dass sich der Widerstreit über den Gehalt der Demokratie mittels intersubjektiven Austauschs in einer idealen (weil „herrschaftsfreien“) Gesprächssituation in einen rationalen, also vollkommen inklusiven, Konsensus auflösen ließe, werden deshalb entschieden abgelehnt (vgl. bspw. Mouffe 2005). Insbesondere wird auch der quasi-transzendentale Charakter der von Habermas entworfenen Bedingungen des Sprechens in der idealen Sprechsituation verworfen (vgl. bspw. Rancière 2002 [1995], 58 ff.). Im Zentrum der Kritik steht dabei, dass die Annahme der Möglichkeit der kommunikativen Konsensfindung und gesamtgesellschaftlichen Rationalität letztlich blind ist gegenüber der Negativität der kommunikativen Ordnung, dem Ort, wo sich all jene befinden, deren Sprech- und Ausdrucksweisen nicht anschlussfähig sind an die bestehende Ordnung, deren Stimmen „un-vernommen“ bleiben, d. h. nicht als Stimme sondern lediglich als Lärm gehört werden. Die Propagierung eines vollkommen inklusiven Konsensus produziert deshalb selbst Ausschlüsse, deren Existenz gleichzeitig geleugnet wird (vgl. Rancière 2002 [1995]; vgl. auch Bonacker 1997, 117 ff.).
 
10
Mit dem Wortspiel des „Unvernehmens“ (franz. la Mésentente) bezeichnet Rancière eine bestimmte Art von Sprechsituation, nämlich „jene, bei der einer der Gesprächspartner gleichzeitig vernimmt und auch nicht vernimmt, was der andere sagt. Das Unvernehmen ist nicht der Konflikt zwischen dem, der weiß, und jenem, der schwarz sagt. Es ist der Konflikt zwischen dem, der ‚weiß‘ sagt, und jenem, der auch ‚weiß‘ sagt, aber der keineswegs dasselbe darunter versteht bzw. nicht versteht, dass der andere dasselbe unter dem Namen der Weiße sagt […]. Die Fälle des Unvernehmens sind jene, bei denen der Streit darüber, was Sprechen heißt, die Rationalität der Sprechsituation selbst ausmacht“ (Rancière 2002 [1995], 9 f.). Anders ausgedrückt ist das Unvernehmen auch die „Uneinigkeit beziehungsweise Unstimmigkeit […] zwischen den Herrschenden und denen, die sich nicht (länger) beherrschen lassen wollen“ (Wetzel und Claviez 2016, S. 44).
 
11
Das Insistieren auf die Logik der Gleichheit im Moment des Politischen ist für Rancière eben deshalb ein emanzipatorisches Moment, da er letztlich davon ausgeht, dass es sich um eine ungerechtfertigte Anteillosigkeit handelt, die im Dissens und der Einforderung eines Anteils der Anteillosen sichtbar wird. Für die vorliegende Arbeit wird diese Annahme übernommen, nicht etwa weil sie theorieimmanent zu folgern wäre – „[a]us der Tatsache der Abwesenheit des Grundes folgt erst mal keinerlei ethische Verpflichtung dem Grund in seiner Abwesenheit gegenüber“ (Marchart 2010, S. 249) – sondern weil die konkreten Folgen einer Anteillosigkeit der geflüchteten Menschen – wie in Kapitel 1.​2 ausführlich dargelegt wurde – vor dem Hintergrund der spezifischen Positionalität und Urteilskraft der Forscherin abgelehnt werden (siehe auch Marchart 2010, 249 ff.).
 
12
Beispiele für solche Aktionen sind die Platzbesetzungen des Berliner Oranienplatzes oder die Kampagne #NichtMeineLager von ProAsyl. Siehe für weitere Ausführungen auch das Zwischenfazit II.
 
13
Mit dem Begriff der strukturellen und kulturellen Gewalt wird hier auf die von Johan Galtung formulierte Trias von direkter, struktureller und kultureller Gewalt angespielt (Galtung 1969, 1990). Mit seiner Gewalt-Trias verweist Galtung auf die unterschiedlichen Formen, Facetten und Ursprünge von Gewalthandlungen und macht deutlich, dass auch systemimmanente Formen von Ungerechtigkeit und Benachteiligung als „Gewalt“ zu definieren sind. Während direkte Gewalt die Androhung oder Ausübung unmittelbarer Gewalthandlungen einer oder mehrerer Personen gegen eine/mehrere andere bezeichnet, werden mit dem Begriff der strukturellen Gewalt Formen von Ungleichheit und Ungerechtigkeit die in die Funktionsweise eines sozialen Systems oder einer Institution eingelagert sind, belegt. Diese Formen von Gewalt bevorteilen manche Menschen, während andere systematisch benachteiligt werden. Struktureller Rassismus ist beispielsweise eine weit verbreitete Form struktureller Gewalt, welche sich grundsätzlich in „unequal power and consequently unequal life chances“ (Galtung 1969, S. 171) ausdrückt. Kulturelle Gewalt erscheint darüber hinaus als „any aspect of a culture to legitimize violence in its direct or structural form“ (Galtung 1990, S. 291). Kulturelle Gewalt unterfüttert also bspw. die diskursiven Rechtfertigungszusammenhänge und bietet somit die Legitimitätsgrundlage für die Anwendung oder Inkaufnahme direkter und struktureller Formen von Gewalt auch und gerade in Demokratien.
 
14
Was ihre ausführliche Auseinandersetzung mit der Figur des „Alltags“ angeht, sei vorab angemerkt: Um den roten Faden dieses Projektes nicht zu verlieren, kann eine intensive, sozialwissenschaftliche und ideengeschichtliche Diskussion der Konzeptionalisierung von Alltag hier nicht wiedergegeben werden. Für ein umfassenderes Verständnis sei deshalb auf die Lektüre Bargetz' und weiterer einschlägiger Arbeiten verwiesen (klassisch de Certeau 1984 [1980], Heller 1978, Lefebvre 1987 [1981/1962/1958], Smith 1987; einführend weiterhin Gardiner 2000; Storey 2014).
 
15
Ähnlich wie dies auch von Anthony Giddens in seiner Strukturationstheorie formuliert wird (Giddens 1986 [1984]), wird Alltag von Bargetz nicht nur als von Strukturen, Systemen oder Institutionen gesteuert oder reguliert gesehen (was im Sinne normativer Rahmung und Orientierungsleistung eben auch nicht ausschließlich als negativ zu bezeichnen ist), sondern Strukturen können im Alltag durch das Handeln der Subjekte, „wie minimal auch immer, gestaltet und verändert werden“ (Bargetz 2016, S. 199). Gleichzeitig werden auch die Subjekte und ihre Handlungsmöglichkeiten innerhalb bestimmter sozialer Kontexte geprägt (jedoch nicht determiniert) und verändern sich kontinuierlich.
 
16
Beziehungweise in Rancières Terminologie der „Polizei“.
 
17
So schreiben etwa Women in Exile and Friends: „Abolish all Lagers! […] Our political goal is the utopia of a just society without exclusion and discrimination, with equal rights for all, irrespective of where they come from and where they go to“ (Women in Exile 2017).
 
18
Zu Verständnis und Aufgabe der operationalen Definition im Forschungsprozess heißt es beispielsweise bei Giampietro Gobo: „Operational defintion concists of the set of conventions that guide the researcher’s interpretative activity. It is called operational (in order to distinguish it from the kind of lexical definition found in dictionaries) because it tells us what do [sic!]: it has, that is to say, a practical intent […]. The operational definition helps the ethnographer to discipline the observation, the information-gathering, and the attributes that he or she deems connected to the topic studied, within a relationship of indication“ (Gobo 2008, S. 82 f.; Herv. i. Orig.).
 
Metadaten
Titel
Über das Politische writ small: Eine Annäherung an kritische Praktiken im Alltag
verfasst von
Melanie Hartmann
Copyright-Jahr
2020
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-32157-4_3