2020 | OriginalPaper | Buchkapitel
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Zwischen An- und Ent-Ordnung
In diesem Kapitel wird die raumtheoretische Rahmung der Analyse abgesteckt. Dafür werden Theorien mit sukzessiv geringerer Reichweite vorgestellt, um am Ende des Kapitels bzw. im Zwischenfazit I eine Zuspitzung des raumtheoretischen Vorverständnisses auf die Räume der Sammelunterkünfte zu ermöglichen. Hierfür wird nach einem allgemeinen Überblick über aktuelle Entwicklungen in der sozialwissenschaftlichen und politiktheoretischen Handhabe des Raumbegriffs zunächst ein poststrukturalistisches Verständnis von Raum bzw. Räumen herausgearbeitet. Dieses bewies sich als besonders geeignet, um Verräumlichungsprozesse zwischen An- und Ent-Ordnungen zu betrachten sowie die prinzipielle Unabgeschlossenheit dieser Prozesse zu betonen. Um darüber hinaus besser greifen zu können, wie genau sich diese raumbildenden Prozesse auf der Ebene konkreter Räume sozialwissenschaftlich erfassen lassen, wird anschließend in Henri Lefebvres Theorie der sozialen Produktion von Raum/Räumen eingeführt. Mit dieser Theorie kann gezeigt werden, dass sich die soziale Produktion von Räumen im Allgemeinen bzw. von Sammelunterkünften im Besonderen immer auf mehreren Dimensionen abspielt, welche sowohl materielle Praktiken, kognitive wie auch imaginative Prozesse umfassen und zudem stets in Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Zuständen zu betrachten sind, in die diese Prozesse eingebettet sind. In einem weiteren Schritt erfolgt mit der Betrachtung des (Flüchtlings-)Lagers im Lichte relevanter Literatur, darunter insbesondere einer kritischen Diskussion Giorgio Agambens Konzeptes des Ausnahmeraums, eine Erörterung dieser für die Erforschung der Sammelunterkünfte zentralen Räume. Die Literatur zu „Flüchtlingslagern“ liefert auch für die Analyse der Unterbringung von Geflüchteten in Deutschland wichtige Aufschlüsse. Das erste Zwischenfazit fasst schließlich die wichtigsten Denkprozesse des Kapitels zusammen und bezieht die herausgearbeiteten raumtheoretischen Erkenntnisse auf den Untersuchungsgegenstand der Sammelunterkünfte in Deutschland.
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Analog verhält es sich mit der Kategorie des „Flüchtlings“, die unmittelbar bedingt ist durch eine nationalstaatliche Ordnung, welche ein solches Grenzüberschreiten zur Anomalie werden lässt (zum Überblick etwa Haddad 2008). Als Abweichung oder „Problem“ dieser Ordnung beschreibt die somit produzierte Kategorie „des Flüchtlings“ das antagonistische Gegenüber der*des Staatsbürger(s)*in (vgl. Arendt 1973 [1951]).
Begriffsbildend wirkte Edward Soja (2011 [1989], S. 39). Eine überblicksartige Diskussion des
spatial turns als Agenda und Label von Forschung, der
spatial turns in verschiedenen Disziplinen, sowie eine Klärung von Wortgeschichte, Begriffsumfang und Reichweite geben zum Beispiel Döring und Thielmann (2009a).
Den Begriff prägte Dieter Läpple 1991 mit Blick auf das Fehlen eines gesellschaftswissenschaftlichen Raumkonzepts in seinem „Essay über den Raum“ (1991); siehe auch Abschnitt
2.1.
Weitere Impulse für die inhaltliche Ausfüllung des Raumkonzeptes dieser Arbeit fanden sich in der Geographie, wo sich bereits seit den 1960er/70er Jahren dezidiert gesellschaftskritische Forschungsfelder ausbildeten wie die
Political Geography (vgl. einführend Agnew et al. 2003) oder
Radical Geography (vgl. einführend Belina und Michel 2007), deren Anliegen es ist, gesellschaftliche Machverhältnisse in der (Re-) Produktion von Raum kritisch in den Blick nehmen und die schon länger deutlich machten,
„dass alle Raumproduktionen umkämpft sind“ (Belina und Michel 2007, S. 19). Auch in der Anthropologie gibt es Arbeiten, die sich mit den Erfahrungen, Strategien und Taktiken geflüchteter Menschen aus einer kritischen, räumlichen Perspektive auseinandersetzen und somit zum Raumverständnis dieser Arbeit beitrugen (vgl. Brun 2001, S. 16). Was das methodische Vorgehen bzw. der Ethnographie der Räume der Sammelunterkünfte anging, waren wiederum raumbezogene, methodische Arbeiten der Ethnologie bzw. Anthropologie aufschlussreich, darunter zum Beispiel Setha Lows „
Spatializing Culture. The Ethnography of Space and Place“ (2017).
Ähnliche Zentrierungen des Raumes finden sich sowohl bei Foucault als auch bei Lefebvre, für die „Raum“ jeweils beides ist: Gegenstand einer Machtanalyse
und methodische Vorkehrung (vgl. bspw. Füller und Michel 2012; Johnson 2008).
Begriffsklärungen zu Topographie und Topologie finden sich beispielsweise bei Stephan Günzel. Dieser versteht unter Topologie im Gegensatz zur Topographie nicht die Untersuchung der physikalischen Substanz oder geographischen Ausdehnung von „Raum“, sondern die Beschäftigung mit „Verräumlichung“, mit Lagebeziehungen und (kulturellen und medialen) räumlichen Verhältnissen als Bedingung von „Räumlichkeit“ (vgl. Günzel 2007, S. 19; vgl. auch Günzel 2009b).
Wenn hier das Denken Lefebvres in eine poststrukturalistische Formulierung von Raum eingebettet wird, bedeutet dies nicht, wie Christian Schmid beispielsweise kritisiert, eine
„postmoderne Vereinnahmung“ (Schmid 2010, S. 8) und Dekontextualisierung Levebvres Denkens. Vielmehr hat die Übertragung seines Raumkonzeptes von einer epistemischen Gemeinschaft, von einem historischen, kulturellen und epistemischen Kontext zum anderen im Sinne eines auf „
travelling concepts“ (vgl. Bal 2002; Neumann und Nünning 2012b) basierenden Theoretisierens Methode. Es wird argumentiert, dass gerade wegen der damit verbundenen Komplexitätsreduktion und Rekontextualisierung die Synthetisierung verschiedener Wissensstränge auf besondere Weise gelingen und für das Anliegen dieser Arbeit fruchtbar gemacht werden kann (vgl. Neumann und Nünning 2012a).
Dabei wird erneut deutlich, dass die Herausbildung der theoretischen und methodischen Grundlagen dieser Arbeit im Dialog bzw. Polylog über disziplinäre Grenzen hinweg erfolgte (vgl. Sommer 2007, S. 267). Die Darstellung der Verortung des Projektes im Kontext relevanter Literatur, die ich für die einzelnen verwendeten Konzepte unten jeweils näher verdeutlichen werde, kann deshalb immer nur Ausschnitte der jeweiligen Forschungsstände erfassen.
Freilich ist nicht zuletzt sein eigener Aufsatz, aber auch andere einschlägige Publikationen wie beispielsweise
„Gesellschaft, Handlung und Raum: Grundlagen handlungstheoretischer Sozialgeographie“ von Benno Werlen (1987),
„Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theorie“ von Edward W. Soja (erschienen 1989) oder die Übersetzung und breitere Rezeption von Michel Foucaults Text
„Von anderen Räumen“ (deutsch 1991; im Original
„Des Espaces Autres“ (1967/1984)) sowie Henry Lefebvres
„The Production of Space“ (engl. 1991, im Original „
La production de l’espace (1974)) ein Hinweis darauf, dass diese Blindheit keine vollständige war. Auch die dezidiert machtkritischen Positionen der marxistisch informierten
radical geography beeinflusste die englischsprachige Humangeographie bereits seit den 1970er Jahren (vgl. Glasze 2012, S. 155).
Durch den Begriff und die spezielle Schreibweise der (An)Ordnung betont Löw,
dass „Räumen sowohl eine Ordnungsdimension, die auf gesellschaftliche Strukturen verweist, als auch eine Handlungsdimension, das heißt der Prozeß des Anordnens, innewohnt“ (Löw 2001, S. 131). Damit macht sie auch die theoretischen Grundlagen ihres Raumbegriffs, nämlich Anthony Giddens’ Strukturationstheorie (vgl. Giddens 1986 [1984]) deutlich. Die vorliegende Arbeit wählt hier einen etwas anderen Zugang, da mit der Gegenüberstellung von An- und Ent-Ordnungen nicht ein Zusammenfallen von Struktur und Handeln im Raumbegriff betont, sondern auf das unbestellbare Spiel zwischen Fixierung und Unterbrechung, Macht und Ermächtigung, Praktiken der Stabilisierung räumlicher Ordnungen einerseits sowie Praktiken des Irritierens, Umgehens und Aneignens dieser Ordnungen andererseits abgehoben werden soll.
So sind beispielsweise ein und dieselben Lautbilder („Blatt“) mit unterschiedlichen Vorstellungen („Blatt Papier“, „Rosenblatt“) verknüpft, außerdem wird eine Vorstellung („Baum“) in verschiedenen Sprachen mit unterschiedlichen Lautbildern („Baum“, „tree“, „arbre“) bezeichnet.
Diese, auf die interne Beziehung der Strukturelemente konzentrierte, strukturalistische Vorstellung von Sprache wurde im Anschluss an de Saussure auf verschiedenste Weise auf gesellschaftliche, politische und kulturelle Bereiche übertragen. So suchte beispielsweise der Anthropologe Claude Lévi-Strauss als wichtigster Vertreter des Strukturalismus in der Anthropologie nach elementaren, gesellschaftsübergreifenden Strukturprinzipien von Verwandtschaftsbeziehungen oder der Psychoanalytiker Jacques Lacan nach überindividuellen unbewussten, strukturellen Prinzipien menschlicher Psyche.
So hat beispielsweis die Zahlenkombination 9/11 heute eine völlig andere Bedeutung, als vor dem Einsturz der Twin Towers.
Hier wird also davon ausgegangen, dass topgraphische wie topologische Grenzsetzungen sowohl soziologisch bedingt sind, als auch gesellschaftliche (und individuelle) Auswirkungen haben (vgl. auch Simmel 1992 [1908], S. 697). Oder wie Doreen Massey in ihrem Aufsatz
„Politics and Space/Time“ ausführt: Der Raum (und damit räumliche Kategorien wie Grenzen) ist eine soziale Konstruktion, aber genauso ist das Soziale räumlich konstruiert (vgl. Massey 1992, 70 ff.).
Ein ähnliches Verständnis von Raum (und Zeit), angesiedelt auf der Ebene der „Räume“, findet sich auch bei David Harvey, der in einer Diskussion des relationalen Raumkonzeptes Alfred North Whiteheads Räume als relationale Formationen, als kontingente und vorübergehende Permanenzen, die immer wieder (neu) entworfen, erhalten oder aufgelöst werden, beschreibt. Diese temporären Permanenzen, die in der oben skizierten Diskussion mit dem Begriff der „Räume“ (in Abgrenzung zum „Raum“) belegt werden, heißen bei Harvey auch „Orte“:
„The process of place formation is a process of carving out ‚permanences‘ from the flow of processes creating spaces. But the ‘permanences’ – no matter how solid they may seem – are not eternal: they are always subject to time as ‘perpetual perishing’. They are contingent on the processes that create, sustain and dissolve them“ (Harvey 1996, S. 261).
Da eine konzeptionelle Unterscheidung zwischen „Raum“ und „Räume“ jedoch maßgeblich nur in der hier skizzierten Debatte gemacht wird und sich im weiten Feld der sozialwissenschaftlichen und geographischen Forschungsarbeiten zum Raum diese Unterscheidung nicht wiederfindet, wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit, wie allgemein üblich, Plural und Singular des Begriffs im Wesentlichen synonym verwendet. Eine sinnvolle und lesbare Rezeption der Vielzahl von wissenschaftlichen Texten zum „Raum“ ist in dieser Arbeit ansonsten nicht möglich.
Nicht alle Texte, die den Raum-Macht-Nexus betreffen, bedienen sich auch eines post-strukturalistischen Raumverständnisses. So basieren beispielsweise Arbeiten, die im Kontext der
Radical Geography entstehen, unter anderem auch auf dem strukturalistischen Marxismus in der Tradition Louis Althussers (vgl. einführend Murdoch 2006, 11 ff.).
Ergänzt werden Henri Lefebvres Arbeiten in der empirischen Darstellung in Kapitel
5 außerdem durch einige poststrukturalistische und feministische raumtheoretische Arbeiten, insbesondere zum Konzept der Aneignung (der Räume) und der Intersektionalität. Somit können einerseits sowohl materiell-praktische als auch kognitiv-imaginäre Dimensionen der Produktion von Räumen umfassend ausgeleuchtet werden, andererseits werden dadurch die Genderblindheit und patriarchale Tendenzen in Lefebvres Werk (vgl. Rob Shields 2011, S. 283) abgeschwächt.
Anders als dies in anderen Arbeiten der Fall ist, unterscheidet Lefebvre nicht zwischen „Orten“ und „Räumen“. Vor allem in der Humangeographie (vgl. Massey 1994 [1979]; Staeheli 2003; Thrift 1999), aber auch zunehmend in sozial- und kulturwissenschaftlichen Raumanalysen (vgl. Schlitte et al. 2014) wird häufig zwischen
space und
place, Raum und Ort unterschieden. Setha Low beispielsweise schlägt vor, die konzeptionelle Beziehung zwischen Raum und Ort vor allem als eine zwischen abstraktem, sozial produziertem Raum-Konstrukt auf der einen Seite und tatsächlich bewohntem, angeeignetem, gefühltem und sensorisch erlebtem Ort auf der anderen Seite zu denken (Low 2017, S. 32). Ganz ähnlich ist auch für Tim Cresswell Raum, im Vergleich zu Ort, das abstraktere Konzept:
„Space is a more abstract concept than place“ (Cresswell 2004, S. 8) und auch für ihn ist
meaning making, das heißt die subjektive Aneignung und Bedeutungszuschreibung von Raum, vor allem mit
place making, das heißt mit der Umwandlung eines abstrakten Raumes in einen bedeutungsvollen Ort verknüpft (vgl. Cresswell 2004, S. 10). Für die vorliegende Arbeit scheint es aber weder konzeptionell noch empirisch gewinnbringend, diesen Dualismus zwischen Raum und Ort einzuführen, da die universale Raumtheorie Lefebvres ein ideales Beispiel dafür ist, dass bereits unter dem Raumbegriff vielfältige Aspekte des materiell und kognitiv gestalteten, individuell erfahrenen, sozial gelebten und angeeigneten Raumes zusammenfallen können. Vielmehr könnte man es geradezu als Pointe Lefebvres Raumtheorie und als Begründung für deren Popularität verstehen, dass er diese unterschiedlichsten Dimensionen und Aspekte der Produktion von Räumen konsequent zusammendenkt. Selbst Cresswell gesteht ein, dass der strikte Raum-Ort-Dualismus durch Lefebvres Theorie insofern aufgehoben ist, als dass sich dessen Konzeptualisierung des sozial produzierten Raumes bereits über das Konzept des Ortes erstreckt:
„Although this basic dualism of space and place runs through much of human geography since the 1970s, it is confused somewhat by the idea of social space – or socially produced space – which, in many ways, plays the same role as place“ (ibid).
„La Production de l’Espace“ erschien im französischen Original im Jahr 1974, doch erst die Rezeption durch Edward Soja und andere Humangeographen Ender der 1980er Jahre sowie die Übersetzung ins Englische („
The Production of Space“) im Jahr 1991 (Lefebvre 1991 [1974]) machten es einem breiteren Publikum bekannt.
Mit dem Abschnitt
1.2.1 dieser Arbeit sollte genau dies geleistet werden: Eine Beschreibung der gesellschaftlichen Zustände, in die die Produktion konkreter Räume eingebettet ist, eine Darstellung des sozialen Kontextes und der sozialen Kräfteverhältnisse, die Räume wie Sammelunterkünfte, Lager, Transitzonen und AnkER-Zentren erst hervorbringen – und auf die diese Räume ihrerseits zurückwirken, indem sie sie stabilisieren, sie als quasi natürliche Ordnung erscheinen lassen und somit ihre Ursprünge verschleiern.
Christian Schmid weist zurecht darauf hin, dass Lefebvre den Begriff des „sozialen Raumes“ doppelt bestimmt und somit für weitere Schwierigkeiten in Auslegung und Verständnis seiner Texte sorgt. Einerseits versteht Lefebvre unter dem sozialen Raum umfassend den gesellschaftlich produzierten Raum, der die drei oben beschriebenen Momente bzw. Dimensionen der Produktion des Raumes umfasst. Andererseits stellt er ihn in einem engeren Sinne dem physisch-materiellen Raum und dem mentalen Raum gegenüber. Um zusätzliche Verwirrung zu vermeiden ist hier, wenn von sozialem Raum die Rede ist, stets die umfassende Definition gemeint (vgl. Schmid 2010, S. 210).
Konkrete Ausprägungen der einzelnen Lager ließen sich beispielsweise, um oben genanntes wieder aufzugreifen, entlang der drei Dimensionen der Produktion dieser Räume nachvollziehen, indem somit lokale Besonderheiten sowohl was die Planung und Verwaltung, die sinnlichen Wahrnehmungen und räumlichen Praktiken als auch die Imaginationen und das kreatives Handeln in den Prozessen der Raumproduktion herausgearbeitet werden könnten.
Palästinensische Geflüchtete fallen als einzige Gruppe nicht unter das Mandat des UNHCRs, sondern werden von der
United Nations Relief and Work Agency For Palestine Refugees in the Near East (UNWRA) verwaltet, welche 1949 als unmittelbare Antwort bzw. Unterstützung der Menschen eingerichtet wurde, die im Zuge des israelischen Unabhängigkeitskriegs 1948 ihre Heimat verlassen mussten.
Es wird in dieser Arbeit angenommen, dass in der Errichtung und dem Betreiben der Flüchtlingslager der Schutz und die Versorgung der Geflüchteten zwar durchaus eine Rolle spielen, Lager aber grundsätzlich auch als sozialtechnologisches Instrument für die Ausübung nationalstaatlicher Kontrolle über die (Bewegung der migrantischen) Bevölkerung gesehen werden müssen.
Diese Darstellung ist natürlich notwendigerweise in ihrer Komplexität stark reduziert, denn interessanterweise ist es in manchen Fällen gerade ein Imaginieren von und Insistieren auf die Vorläufigkeit der Existenz als Geflüchtete im Aufnahmeland, die von Geflüchteten selbst als politische Strategie ins Feld geführt wird. So wehren sich viele palästinensische Geflüchtete im Libanon seit Jahrzehnten vehement gegen „
towteen“ (Arab. „Einpflanzung“, „Implantation“; gemeint hier: „permanenter Residenzstatus“ im Aufnahmeland), d. h. die weitreichende gesellschaftliche und politische Integration in das Aufnahmeland, um somit ihrem antizipierten „Recht auf Rückkehr“ politischen Nachdruck zu verleihen und einer „Normalisierung“ ihrer Situation vorzubeugen (vgl. auch Ramadan 2013). Das Lager wird somit materialisierter Ausdruck eines palästinensischen Nationalismus und damit zum fundamentalen Bestandteil palästinensischer Identität (vgl. Sanyal 2014). Dies kann es nur erfüllen, wenn es seinen vorläufigen Charakter erhält: „
The right to return as the ground and horizon of liberation, is affirmed in the continued existence of the camp as a camp – that is temporary, frozen, abject. The camp in the nationalist discourse is the living archive of displacement, the marker of dispossession“ (Abourahme 2015, S. 207).
Der empirische Untersuchungsgegenstand von Puggionis Arbeit zu Lagern sind italienische Erstaufnahmeeinrichtungen und Sammelunterkünfte für illegale (bzw. illegalisierte) Migrant*innen – ihre ist also eine der Arbeiten, die die Konzeption von Lagern im Anschluss an und Abgrenzung von Agamben auch auf Unterbringungseinrichtungen für Geflüchtete im globalen Norden anwenden.
Dass manche Lagerinsass*innen dies u. a. aufgrund bestimmter Attribute besser zu nutzen wissen als andere und so beispielsweise als Mittelsmänner zwischen der Lagerverwaltung und den Bewohner*innen agieren können, oder als
big men informelle Strukturen bedienen, produziert freilich auch neue Hierarchien oder Machtungleichgewichte unter den Geflüchteten in den Lagern (vgl. Turner 2005). In der empirischen Analyse der vorliegenden Arbeit soll diesem Aspekt unter anderem durch die Untersuchung der Beziehungen der Bewohner*innen untereinander und durch den Exkurs auf das Konzept der Intersektionalität Rechnung getragen werden.
- Titel
- Über den Raum: Zur Bedeutung des Konzeptes für (die Erforschung von) Menschen auf der Flucht
- DOI
- https://doi.org/10.1007/978-3-658-32157-4_2
- Autor:
-
Melanie Hartmann
- Sequenznummer
- 2
- Kapitelnummer
- Kapitel 2