verfasst von: Dipl.-Ing. Detlef Frank
Prof. Dr. Hans-Hermann Braess ist kurz vor seinem 88. Geburtstag verstorben. Ein Nachruf.
Hans-Hermann Braess
Uli Regenscheit | ATZlive
Mit dem Modethema "Work-Life-Balance" hätte man Prof. Dr. Hans-Hermann Braess wohl kaum kommen dürfen. Für ihn gab es diesen konstruierten Gegensatz zwischen Arbeit und Leben einfach nicht. Arbeit war für ihn ein extrem wichtiger Teil vom Leben und daher auch immer im richtigen Gleichgewicht zu seinem Leben. Braess war ein engagierter Forscher in der Industrie, der seine Erfahrung und den wissenschaftlichen Weitblick nicht nur mit seinen Mitarbeitern und Studenten teilte, sondern auch mit Veröffentlichungen, mit seiner Mitarbeit in Verbänden und auf nationalen und internationalen Veranstaltungen weitergab.
Am 4. Oktober 2024 ist der ehemalige Leiter des Bereichs Wissenschaft und Forschung bei BMW, Honorarprofessor in München und Dresden sowie Dozent der Bayerischen Elite-Akademie kurz vor seinem 88. Geburtstag verstorben.
Braess studierte Maschinenbau in Hannover, promovierte 1971 zum Dr.-Ing. und arbeitete seit 1970 bei Porsche, ab 1977 als Forschungsleiter. Eines seiner wichtigsten Projekte dort war das Langzeitauto. Von 1980 bis zur Pensionierung 1996 war er Leiter des Bereichs Wissenschaft und Forschung bei BMW. Zu seinen wichtigsten Projekten gehörten alternative Antriebe mit Wasserstoff, als Plug-in-Hybrid oder vollelektrisch, Fahrerassistenz und Verkehrsmanagement sowie Wissensmanagement. Seinem unermüdlichen Engagement ist es zu verdanken, dass BMW dann im Jahr 2000 der Bundesregierung zwanzig voll funktionsfähige Wasserstofffahrzeuge übergeben konnte.
Doch Braess war kein Wissenschaftler, der seine Arbeit ausschließlich am Schreibtisch oder im Labor sah. Er hatte schnell erkannt, dass wissenschaftlich-technische Alleingänge nur begrenzt zum Erfolg führen, wenn es um die Umsetzung von zukunftsbezogenen Themen wie alternative Antriebe oder Verkehrsmanagement geht. Von 1986 bis 1994 engagierte sich BMW unter Leitung von Braess als einer der projektleitenden Partner im europäischen Forschungsprogramm Prometheus. Damit wurden wesentliche Voraussetzungen für die heute alltäglichen Fahrerassistenz- und Verkehrsmanagementsysteme erarbeitet.
Neben solchen überregionalen Aufgabenstellungen lag Braess aber auch die Verbesserung der lokalen Verkehrssituation in und um München am Herzen. Das erste wissenschaftlich erarbeitete Verkehrsprojekt in München (das Kooperative Verkehrsmanagement München, KVM) trägt die Handschrift des Verstorbenen. Durch seinen ganz persönlichen Einsatz wurde dann 1995 die sogenannte Inzell-Initiative gegründet, eine Kooperation zwischen der Landeshauptstadt München und BMW mit dem Leitgedanken "Verkehrsprobleme gemeinsam lösen". Hier arbeiteten neben Experten der Stadt und von BMW sowie Fachreferenten der politischen Parteien auch Kollegen vom ADAC und von Herstellern von Verkehrsleitsystemen etc. zusammen. Die Tatsache, dass die Inzell-Initiative in ein von BMW koordiniertes Verkehrsprojekt eingebunden war, führte unter anderem dazu, dass dieses Projekt den Zuschlag für eine Förderung des Bundesforschungsministeriums bekam – eine solche umfassende Zusammenarbeit von öffentlicher Verwaltung, Politik, Hochschulen und Industrie hatte es bis dahin nicht gegeben.
Ein weiterer Außenbereich, in dem Braess – "extra muros", wie er gern sagte – aktiv war, ist die Verbandsarbeit, um sowohl Wissen weiterzugeben als auch die Zusammenarbeit der Forscher und Entwickler national und international zu intensivieren. Er war Mitglied in verschiedenen Gremien im Verein Deutscher Ingenieure (VDI), im Verband der Automobilindustrie (VDA) und beim internationalen Verband der Automobilingenieure Fisita. Und immer war er Ideengeber. Als das Auto Ende der 1980er-Jahre als "Umweltfeind Nr. 1" in der Diskussion war, gab er den Anstoß zum ersten Memorandum zum Verkehr der VDI-Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrstechnik.
Der wissenschaftlichen Nachwelt des Verstorbenen erhalten bleibt eine große Zahl von Fachveröffentlichungen und als besonders erwähnenswert das Vieweg Handbuch Kraftfahrzeugtechnik. Für seine Verdienste geehrt wurde Braess unter anderem durch die Ehrendoktorwürde der TU Darmstadt (1988), die Benz-Daimler-Maybach-Medaille des VDI (1992) und das Bundesverdienstkreuz am Bande (1999).
Dass – wie bereits erwähnt – Arbeit und Leben für Braess nicht im Widerspruch standen, bezeugt auch seine liebste "Freizeitbeschäftigung", nämlich eine unglaublich große private Bibliothek. Nach eigener Einschätzung wohl in Deutschland die größte fahrzeugtechnische Fachbibliothek in Privatbesitz. Doch was nützt das Material, wenn man es nicht geschickt verwalten kann? Bei Braess war dazu kein ausgebufftes Computerprogramm nötig. Ein extrem großes und blitzschnelles Gedächtnis machte diese Bibliothek "gebrauchstüchtig". Oft kam es vor, dass Braess in einer Fachdiskussion sagte: "Moment Herr XY! Über das Thema hat Herr Dr. AB beim Daimler 1967 promoviert. Warten Sie bis morgen." Und am nächsten Tag hatte man die Dissertation des betreffenden Wissenschaftlers auf dem Tisch.
Neben Betrachtungen über die wissenschaftliche Arbeit und Leistung von Braess darf – nein muss – es erlaubt sein, auch etwas zur Person zu sagen. Im Gespräch mit ihm fiel sehr schnell auf, dass er für das zu besprechende Thema sehr hartnäckig sein konnte, aber seine persönliche Eitelkeit ganz hinten anstellte. Da kam es dann schon vor, dass er in Bezug auf seine Anrede sagte: "Lassen Sie den Doktor weg, wir haben Wichtigeres zu erledigen". Besprechungen mit Braess waren oft lebhaft, wurden aber auch bei unterschiedlichen Auffassungen nie laut oder unsachlich. Und wenn es mal arg klemmte, bis man zu einem Besprechungsergebnis kam, half gelegentlich einer seiner vortrefflichen Sprüche wie: "Man muss nicht nur keinen Gedanken haben, man muss auch unfähig sein, ihn auszudrücken!"
Hans-Hermann Braess war auf jeden Fall eine Persönlichkeit, auf die das nicht zutraf. Er hatte immer interessante Gedanken und Ideen, und er wusste sie auch im Gespräch, in seinen Vorträgen und Veröffentlichungen auszudrücken. Wer ihn kannte, wird ihn sehr vermissen.