Die Corona-Pandemie hat Unternehmen unsanft gezeigt, welchen wirtschaftlichen Schaden Geschäftsunterbrechungen anrichten können. Wie gezieltes Business-Continuity-Management dabei vorbeugend wirkt, erklärt Experte Uwe Rühl im Interview.
Springer Professional: Würden Sie der Aussage zustimmen, dass die Corona-Pandemie zu einer Neubewertung des Krisen- und Risikomanagements in Unternehmen geführt hat?
Uwe Rühl: Die Antwort muss ich zweigeteilt geben. Bei Unternehmen, die bereits ein Business-Continuity-Management System betreiben, stelle ich fest, dass sich der Weg, wie BCMS in Unternehmen verankert und gelebt wird, ändert. Vor einigen Jahren war es wichtig, fertige Pläne in der Schublade zu haben, die je nach eintretendem Ereignis angewendet wurden. Diese Pläne hatten ihren Wert, indem die Unternehmen gewisse Themen durchdacht und sich darauf theoretisch vorbereitet hatten.
Und was hat sich daran durch Corona geändert?
Mit der Corona-Pandemie haben wir gelernt, dass keine Krise so kommt, wie man sie im Vorfeld plant – sprich: die Pläne hatten teilweise nur sehr geringe Effekte. Die Corona-Krise ist anders, als das, was wir vor 20 Jahren für Pandemiepläne angenommen hatten, die vor allem von einer Influenza-Welle ausgegangen sind. Die Folgeeffekte von Covid-19 haben viele Unternehmen kalt erwischt: Lieferketten unterbrochen, Flugverkehr eingestellt, ganze Branchen in ihrem Geschäft eingeschränkt. Dies führt dazu, dass man nun im Business-Continuity-Management auf einen stabilen und robusten Prozess abzielt, mit dem Notfälle, Unterbrechungen und Krisen umgegangen werden können. Natürlich steht auch heute das Weiterführen des Geschäfts im Vordergrund – die Vorgehensweise ist aber deutlich modularer, anpassungsfähiger und dynamischer geworden.
Und wie sieht es in Unternehmen aus, die sich bislang nicht um Business-Continuity-Management gekümmert hatten?
Diese spüren deutlich, wie Auftraggeber das Thema auf die Agenda setzen. Da gibt es noch einiges an Nachholbedarf. Vor allem die Frage "Wie stellen Sie sicher, dass …" wird die formellen Ansätze für BCM weiter treiben und die Nachfrage nach Zertifizierung steigern.
Der Schlüssel, um mit plötzlichen oder sich langanbahnenden Krisen umzugehen, ist also Business-Continuity-Management. Was meint der Begriff genau?
Business-Continuity-Management hat zum Ziel, die geschäftlichen Aktivitäten einer Organisation verfügbar zu halten; damit Produkte und Dienstleistungen zumindest in einem Umfang geliefert werden können, der die wichtigsten Verpflichtungen erfüllt. Das heißt, dass viele Unternehmen nicht mit voller Last in einem Unterbrechungsfall gehen werden; aber sie sind in der Lage, zumindest Kernkunden weiter zu beliefern. Es geht im BCM heute um vier Aspekte:
Wie kann ein Unternehmen robuster werden gegen Einwirkungen, die zu einer Unterbrechung führen könnten? Dazu gehört, Risiken im Vorfeld zu erkennen und zu minimieren, auch die Frage, welcher Standort für ein Unternehmen ideal ist oder wie eine Lieferkette konfiguriert sein soll. Daneben hat die Abwehr von Cyber-Risiken einen wichtigen Einfluss darauf, dass ein Unternehmen eine Unterbrechung oder Störung im Vorfeld verhindern kann.
Dann geht es darum, wie Organisationen während einer Störung ein Mindestmaß an Lieferfähigkeit aufrechterhalten kann. Um das sicher zu stellen, ist es wichtig, Rückfallebenen zu planen, die greifen, wenn ein Ereignis eintritt. Dazu gehört etwa eine Notstromversorgung.
Was sind die anderen zwei Aspekte?
Ein weiterer Punkt ist, unterbrochene Prozesse im Unternehmen schnellstmöglich und geordnet wieder anlaufen lassen. Dazu braucht es Checklisten und Pläne, wie Aktivitäten wieder hochgefahren werden können. Dazu gehört die Produktion von einem Standort an einen anderen zu verlagern. Auch während einer Unterbrechung bleibt die Lieferung von Produkten und Dienstleistungen in einem akzeptablen Rahmen erhalten.
Der letzte Aspekt ist, Prozesse und Aktivitäten wieder herstellen. Dies kann bedeuten, dass Ersatzgeräte und Infrastruktur beschafft und Gebäude repariert werden müssen. Es ist entscheidend, die richtigen Spezifikationen zu kennen und zu wissen, woher Ersatzmaterial beschafft werden kann. Das sollte in sogenannten Recovery-Plänen soweit möglich festgehalten werden.
So bietet ein strukturiertes Business-Continuity-Management einem Unternehmen die Möglichkeit, bewusst und systematisch die richtige Vorgehensweise auszuwählen. Dabei spielen auch wirtschaftliche Gesichtspunkte eine Rolle. Nicht alles ist möglich, wirtschaftlich oder wünschenswert. Eine gründliche Business-Impact-Analyse im Vorfeld gibt Klarheit, welche Vorgehensweise an welcher Stelle am besten geeignet ist.
Auf die Corona-Krise angewendet: Was hätte ein professionelles BCM Unternehmen hier gebracht?
Epidemien oder Pandemien haben in der Regel eine Vorlaufzeit. Bei Corona lagen zwei Monate zwischen ersten Berichten und der Erkenntnis, dass es Auswirkungen in Deutschland geben könnte. Viele haben bis dahin geglaubt, dass es nicht so schlimm werden wird. Als Menschen sind wir gut darin, negative Dinge auszublenden oder wie gelähmt auf die Schlange zu schauen. Unser altes Reaktionsmuster im Gehirn sagt uns: "Kämpfe, flüchte, erstarre oder tue dich mit anderen zusammen, um zu überleben." Die Folge war, dass viele Unternehmen von der Wucht der Maßnahmen gegen die Pandemie und die Folgen der Pandemie überrascht waren.
Mit einem Business-Continuity-Management-System hätte es zumindest das Bewusstsein für Unterbrechungssituationen gegeben. Bereits nach den ersten Nachrichten hätte die Entwicklung klar verfolgt und die Lage für das eigene Unternehmen regelmäßig bewertet werden können. Die Chance ist, rechtzeitig auf den Schutz der Mitarbeitenden, der Lieferketten und andere Aspekte zu achten. In meinem Unternehmen nutzen wir zum Beispiel etwas, das wir Resilience Condition nennen: Mindestens wöchentlich schaut mein Team mit mir, wie wir generell die Lage einschätzen und ob wir den Krisenstab aktivieren müssen. Krisenstab heißt in dem Fall, engmaschig die Situation zu prüfen, gemeinsam Entscheidungen zu treffen und den Fokus auf den Maßnahmen zu haben. Ein BCMS hätte also zumindest den Start in die Pandemie vereinfacht und auch während dessen eine klare Koordination der Maßnahmen ermöglicht. Das können entscheidende Vorteile sein im Überlebenskampf eines Unternehmens.
Welche Rolle spielen Führungskräfte und die Unternehmenskultur bei der Etablierung von BCM?
Ohne Beteiligung der Führungskräfte bleibt BCM eine theoretische Angelegenheit. Führungskräfte bringen ihre Erfahrung und ihr Wissen über die Prozesse und Lieferketten des Unternehmens mit, um aussagekräftige Business-Impact-Analysen durchzuführen. Sie fördern eine Kultur im Unternehmen, die Aspekte der Überlebensfähigkeit in den Fokus stellt. Dazu gehört es, frühzeitig und offen zu erkennen und zu kommunizieren, wenn eine Störung oder Unterbrechungssituation droht. Ebenso, Feedback von allen Mitarbeitenden regelmäßig einzuholen und einzufordern und auf Ideen und Vorschläge zu hören. Oder auch die Bereitschaft, Übungen und Tests zu ermöglichen, durchzuführen und selbst daran zu beteiligen.
Wie eine Feuerwehr regelmäßig Standardsituationen übt, sollten Unternehmen ihr Notfall- und Krisenmanagement üben. Auch wenn dann der Ernstfall nie genauso aussieht wie die Übung, haben sich die notwendigen Abläufe und handwerklichen Themen des Krisenmanagements verfestigt. Führungskräfte unterstützen dieses Lernen in ihrem Unternehmen nachhaltig.
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