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Erschienen in:
18.12.2018 | Abhandlung
Unterschiede zwischen der ersten und zweiten Generation von Migrantinnen in der Wahrnehmung symbolischer Grenzen und in den Strategien ihrer Grenzarbeit
Auf der Grundlage von Gruppendiskussionen mit in Deutschland lebenden Migrantinnen verschiedener Herkunft rekonstruiert der Beitrag, ob und in welchem Maße die erste und die zweite Generation von Migrantinnen unterschiedliche Kategorisierungs- und Diskriminierungserfahrungen gemacht und welche verschiedenen Strategien des Umgangs mit der symbolischen Grenze zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheit sie entwickelt haben. Analysiert werden diese Fragen am Beispiel des Umgangs mit Vornamen. Der Generationsvergleich zeigt, dass sich die symbolische Grenze zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheit aufgeweicht hat. Dieser Befund gilt allerdings nicht für Migrantinnen aus dem türkisch-arabischen Raum. Sie machen eine ambivalente Erfahrung, insofern sie sehen, dass Migration etwas Selbstverständliches geworden ist, sie selbst sich aber als Muslime häufig ausgegrenzt fühlen. Die Erfahrung einer Öffnung symbolischer Grenzen überlagert sich hier mit der Erfahrung einer Grenzkontraktion.
Das Berliner Journal für Soziologie veröffentlicht Beiträge zu allgemeinen Themen und Forschungsbereichen der Soziologie sowie Schwerpunkthefte zu Klassikern der Soziologie und zu aktuellen Problemfeldern des soziologischen Diskurses.
Zwecks besserer Lesbarkeit sprechen wir allein von Migrantinnen, verwenden also nur die weibliche Form (das generische Femininum), meinen aber immer alle Geschlechter.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen andere Studien. Bezüglich der Entwicklung der Deutschkenntnisse vgl. Esser 2006; Diehl und Schnell 2006; Heath 2014; Pollack et al. 2016, bezüglich der Bildungsabschlüsse vgl. Kalter und Granato 2002; Pollack et al. 2016, und im Hinblick auf die Vernetzung mit der autochthonen Bevölkerung vgl. Wimmer 2004; Diehl und Schnell 2006; Schnell 2014; Pollack et al. 2016. In den erwähnten Studien werden auch jeweils die Ursachen für die Unterschiede zwischen der ersten und zweiten Generation diskutiert und empirisch überprüft, worauf wir an dieser Stelle nicht genauer eingehen werden.
Das Konzept der symbolischen Grenze ist nicht nur zur Analyse der Unterscheidung verschiedener ethnischer Gruppen (z. B. Barth 1969; Wimmer 2008; Alba und Nee 2003; Bail 2008), sondern auch zur Analyse der Grenze zwischen den Geschlechtern (z. B. Epstein 1992) und verschiedener sozialer Klassen (z. B. Lamont 1992) genutzt worden.
In Bezug auf Vornamen bedeutet dies beispielsweise, dass Personen mit den Vornamen Florian, Sylvia oder Jürgen von der deutschen Mehrheitsgesellschaft in der Regel als zugehörig interpretiert werden, während Personen mit den Vornamen Katjuschka, Mohammed und Linh eher als „die Anderen“ kategorisiert werden.
Gruppendiskussionen werden als Verfahren der Datenerhebung aus zwei verschiedenen Gründen eingesetzt. Zum einen ist man an der Gruppendynamik selbst und an der sich daraus ergebenden Gruppenmeinung als einem emergenten Phänomen interessiert, das über die Individualmeinungen hinausgeht (zusammenfassend Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, S. 101 ff.). Gruppendiskussionen werden zum anderen eingesetzt, um die Einstellungen und Verhaltensweisen der einzelnen Teilnehmerinnen zu rekonstruieren. Im Vergleich zu Einzelinterviews sind Gruppendiskussionen dabei ein zeitsparendes Instrument der Datenerhebung, weil man mehrere Personen gleichzeitig befragen kann. Hinzu kommt, dass durch die Diskussionen latente Einstellungen der Teilnehmerinnen aktiviert und die Sichtweise der Befragten durch die Existenz alternativer Sichtweisen geschärft werden können. Das Erkenntnisinteresse unserer Untersuchung knüpft an die zweite Funktion an.
Sylvia Kämpfer (2014) konnte z. B. zeigen, dass die Lebenszufriedenheit in der zweiten Generation trotz der besseren strukturellen Integration geringer ist als in der ersten Generation; sie führt dies auf die Tatsache zurück, dass die zweite Generation ein höheres Aspirationsniveau besitzt.
Die Tatsache, dass sich die von uns interviewten Migrantinnen aus der Türkei und aus dem arabischen Raum bei der Vergabe von Vornamen vor allem an denen ihrer Herkunftsgesellschaft orientieren, deckt sich mit den Ergebnissen einer quantitativen Auswertung auf der Basis der Daten des Sozio-oekonomischen Panels (Gerhards und Hans 2009).
Auch dieser Befund deckt sich mit denen einer quantitativen Analyse, die wir an anderer Stelle publiziert haben. Während fast 90 Prozent der türkischstämmigen Eltern ihren Kindern einen Namen geben, der nur in ihrem Herkunftsland, nicht aber in Deutschland gebräuchlich ist, trifft das nur auf 43 Prozent der Eltern in anderen Migrantinnengruppen zu (Gerhards und Hans 2009).
In Polen ist es üblich, dass Frauen den Nachnamen ihres Mannes zwar annehmen, aber die männliche Endung auf „i“ durch die weibliche Endung auf „a“ ersetzen. Heißt z. B. der Mann Kowalski, hieße seine Frau Kowalska. In Deutschland ist es polnischen Migrantinnen erlaubt, die männliche Schreibweise anzunehmen.
Dieser Befund deckt sich mit Ergebnissen aus anderen Forschungen. Diskriminierungserfahrungen verstärken die empfundene Distanz zwischen Minderheit und Mehrheit (Weiss 2014). Hinzu kommt, dass Angehörige der zweiten Generation höhere Ansprüche an ihr Leben im Aufnahmeland stellen, sich mehr Anerkennung wünschen und auch kämpferischer auf Diskriminierungserfahrungen reagieren (Sauer 2014; Salentin 2008).
Für türkische und arabische Zuwanderer ist der Pool an Namen, der sowohl in Deutschland als auch in ihrem Herkunftsland in gleicher oder in ähnlicher Weise genutzt werden kann, sehr gering (Gerhards und Hans 2009). Aufgrund der Zugehörigkeit zu einer anderen Sprachfamilie und einer anderen Religionsgemeinschaft (die historisch eine dominante Inspirationsquelle für die Namensgebung gewesen ist), finden sich hier kaum Namen, die in gleicher oder ähnlicher Weise in beiden Kulturen gebräuchlich sind. Die Situation stellt sich für Migrantinnen aus Polen, Russland und den südeuropäischen Ländern anders dar. Hier gibt es aufgrund der gemeinsamen christlichen Tradition deutlich mehr Vornamen, die in gleicher oder ähnlicher Weise sowohl in der Herkunftsgesellschaft als auch in Deutschland üblich sind. Dies macht es für Migrantinnen aus diesen Ländern deutlich leichter, bei der Auswahl eines Namens sowohl den Bezug zur Herkunftsidentität als auch zur Aufnahmegesellschaft zu markieren.
Unterschiede zwischen der ersten und zweiten Generation von Migrantinnen in der Wahrnehmung symbolischer Grenzen und in den Strategien ihrer Grenzarbeit