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2021 | OriginalPaper | Buchkapitel

3. Venezuela unter dem Chavismus, der Bolivarischen Revolution und dem Sozialismus des 21. Jahrhunderts

verfasst von : Raphael M. Peresson

Erschienen in: Entwicklungsagenden in Lateinamerika

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

In der Folge werden Genese und Entwicklung der Bolivarischen Revolution (revolución bolivariana) und des Sozialismus des 21. Jahrhunderts (socialismo del siglo XXI) nachgezeichnet und dabei die im Rahmen dieser Arbeit zu eruierenden Faktoren für die eingeschlagene Entwicklungsrichtung beleuchtet. Hierfür wird der Entwicklungsprozess in unterschiedliche Phasen unterteilt, um die Radikalisierungsdynamik der Bolivarischen Revolution hin zum Sozialismus des 21.

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Fußnoten
1
In der Folge wird der Prozess in Venezuela als die „Bolivarische Revolution“ bezeichnet. Eine direkte Übersetzung aus dem Spanischen (revolución bolivariana) würde die Schreibweise „Bolivarianische Revolution“ nahelegen. Hingegen ist eine nach Ansicht des Autors sinngemäßere Übersetzung „Bolivarische Revolution“, denn die Referenzfigur für das Revolutionsprojekt ist der venezolanische Nationalheld (Simón) Bolívar und das spanische Postfix „-iano/-iana“ (bolivariano/bolivariana) dient lediglich zur Adjektivierung.
 
2
Nach einer leicht veränderten Phasierung von Chávez (2012: 6) bekam die Bolivarische Revolution 2004 einen antiimperialistischen Charakter und wurde 2006 als sozialistisch definiert.
Andere Phasierungen des bolivarischen Revolutionsprozesses werden u. a. von Werz (2007: 3–4), López Maya (2011a: 236), Álvarez (2013: 340, 380–386) und Ellner (2013b: 64) vorgenommen.
 
3
„Viele Stadtteilaktivisten sprechen deshalb auch vom 13. April 2002 [dem Tag des Putschversuchs, R.P.] […] als dem ˈeigentlichen Beginn der bolivarischen Revolutionˈ“ (Zelik 2006: 19).
 
4
Chávez und sein enger Verbündeter Fidel Castro (2004) sprachen davon, dass nach den Präsidentschaftswahlen 2004 der bolivarische Prozess konsolidiert war.
 
5
Der Beginn dieser zweiten, sozialistischen Phase wird auf 2005, dem Jahr der sozialistischen Neuausrichtung der Bolivarischen Revolution, datiert. Diese Festlegung erfolgt vor dem Hintergrund der Analyseperspektive dieser Arbeit und der Schwerpunktsetzung auf ideelle Faktoren.
 
6
Der zeitliche Beginn dieser Phase kann insofern kritisiert werden, als mit dem Fall des Ölpreises im Jahr 2014 eine einschneidene materielle Veränderung eintrat, die zu einer schweren wirtschaftlichen und – in der Folge – politischen Krise führte. Nichtsdestoweniger erfolgten 2013 eine idell-programmatische Spezifizierung des Sozialismus des 21. Jahrhunderts, der Tod Hugo Chávez᾽, der Amtsantritt Nicolás Maduros und mit ihm ein zumindest partiell neuer Politikstil. Ferner ist diese dritte Phase im Hinblick auf das Explanandum von weitaus geringerer Relevanz als die zweite, sozialistische Phase, in der die Neuausrichtung und Konkretisierung des Revolutionsprojektes erfolgte.
 
7
Acción Democratica (AD), Comité de Organización Política Electoral Independiente (COPEI), Unión Republicana Democrática (URD)
 
8
Laut Boeckh (2011a: 400) weisen Rentengesellschaften generell (und Venezuela speziell) folgende Charakteristika auf: „die Trennung von Leistung und Belohnung, die Vorstellung, dass die Entwicklung eines Landes vom Zufluss der Rente und nicht so sehr von den eigenen produktiven Anstrengungen abhänge, fiskalische Verantwortungslosigkeit, rent-seeking und Korruption, ein exzessives und an metropolitanen Mustern orientiertes Konsumverhalten, eine klientelistische Versorgungsmentalität und Erwartungshaltung“.
 
9
Als Repräsentationskrise wird eine Situation definiert, in der sich große Bevölkerungsteile im bestehenden politischen System – von den politischen Parteien oder genereller dem politischen Establishment – in seinen Forderungen übergangen und daher nicht in ausreichendem Maße repräsentiert sieht.
 
10
Chávez gründete die Protestbewegung bzw. das Militärbündnis EBR-200 (Ejército Bolivariano Revolucionario 200), später umbenannt in MBR-200 (Movimiento Bolivariano Revolucionario 200), das die Missstände im Land thematisierte und gegen das politische System und dessen als Unterdrückung wahrgenommene Herrschaftspraktiken aufbegehrte. Im Caracazo – dem brutal niedergeschlagenen Volksaufstand des Jahres 1989 – sahen Chávez und seine Mitstreiter ein Erweckungsereignis, das die Gruppe radikalisierte, bis sie im Jahr 1992 schließlich gegen Präsident Pérez putschten (Kestler 2009: 330–335).
 
11
Miquilena war ein langjähriger Politiker, den Chávez im Gefängnis kennenlernte und der kurzzeitig Chávez’ politischer Mentor wurde (Hellinger 2004: 42). Weitere Informationen zu seiner Person und seinem politischen Wirken werden weiter unten ausgeführt.
 
12
Das Akronym stand für Movimiento V República, d. h. Bewegung V Republik, wobei das V die „Fünfte Republik“ repräsentierte und somit einen symbolischen Bruch zur vierten Republik, dem System des Punto Fijo, darstellte (Wilpert 2007: 18). Im Jahr 2007 wurde schließlich eine neue bzw. eine Nachfolgepartei, die „Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas“ (Partido Socialista Unido de Venezuela – PSUV), gegründet.
 
13
Zu diesem Wahlbündnis gehörten v. a. die Parteien Patria Para Todos (PPT), Movimiento al Socialismo (MAS) und Partido Comunista de Venezuela (PCV) (Wilpert 2007: 18; Brading 2014: 62).
 
14
Chávez (zit. nach: Harnecker 2005: 58–63) beschreibt, wie wichtig Miquilena in der Phase vor dem Wahlsieg bei der Herstellung von Kontakten zu anderen linken Gruppierungen, Politikern und Wirtschaftsvertretern und dann im Wahlkampf war.
 
15
Dazu gehörten v. a. die Gewerkschaft CTV und der Wirtschaftsverband Fedecámaras (Federación de Cámaras de Industria y Comercio).
 
16
Das betraf z. B. die Parteien MAS (Movimiento als Socialismo) und PPT (Patria Para Todos) (Corrales 2011: 72) ebenso wie viele Organisationen aus der Wirtschaft, die Chávez in der Präsidentschaftswahl des Jahres 1998 unterstützt hatten (Brading 2014: 56–57).
 
17
Das Volk bildete im chavistischen Diskurs eine Allianz aus Bauern, Arbeiter und (Teilen) der Mittelschicht (Boeckh/Graf 2007: 161). Primär sollen sich mit dieser Subjektposition jedoch all diejenigen Gruppen angesprochen fühlen, die von den Vorgängerregierungen benachteiligt, vergessen oder marginalisiert wurden. Der zu Beginn Chávez’ Amtszeit noch grundsätzlich inklusive bzw. offene Begriff des Volkes wich seit dem Putschversuch 2002 – und der folgenden Intensivierung des diskursiven Antagonismus und damit der Überzeichnung der Akteure bzw. der Subjektpositionen – einer immer exklusiveren Vorstellung bzw. Definition.
 
18
Das bezog sich einerseits auf gewisse „etische“ Kulturmerkmale, wie Kollektivismus (Massenveranstaltungen, Relevanz der Familie, Vorrang von Gruppenaktivitäten), Maskulinität (Machismus und die damit verbundenen Werte wie Würde, Ehre, Stärke, Respektabilität, Zielorientierung, Wille, Tatkraft) und Aktivitätsorientierung (Spontaneität), andererseits auf „emische“ Merkmale wie Sympathie (extrovertiertes, humorvolles Auftreten), Respekt (Anerkennung) und eine „Ideologie interpersonaler Verbindungen“ (Chávez als Vertrauensmann) (Diehl 2005: 67–82).
 
19
So z. B. die Verwendung von Symbolen der indigenen Kultur, Änderung der nationalen Flagge, des nationalen Emblems usw., Verwendung religiöser Aspekte und Motive wie Missionseifer, Erlösungsgedanke, Indienstnahme Gottes und Jesus (Zúquete 2008: 96, 111–115) und der Pflege bzw. Überhöhung des Bolívarmythos (Boeckh/Graf 2007) 155–160).
 
20
Greg Palast (zit. nach: de Beaugrande 2008: 22) liefert hierfür ein aufschlussreiches Beispiel: „One edible-oil executive […] had turned out, she said, to ‘fight for democracy’. She added, ‘we’ll try to do it institutionally’, a phrase that meant nothing to me until a banker […] explained that to remove Chávez, ‘we can’t wait until the next election’.“
 
21
An dieser Stelle sei an die Ausführungen bezüglich des Zusammenhangs zwischen „Interessen“ und „Zielsetzungen“ im Theorieteil erinnert. Die beiden Begriffe werden weitgehend synonym verwendet. Der Unterschied besteht im Nexus zwischen Theorie und Praxis, d. h. der Terminus „Interesse“ stellt einen konzeptionellen und analytischen Baustein in der konstruktivistischen Theorie dar, während der Begriff „(wirtschafts-)politische Zielsetzungen“ eine handlungsleitende empirische, also praktische Funktion innehat.
 
22
Die moralische Krise stellt hier eine Art Metaproblem dar, denn Moral hing bei Chávez stets mit Ökonomie und Politik zusammen (Serrano Mancilla 2015: 215).
 
23
Die Sozialpolitik stellte für die Regierung daher eine „Nagelprobe“ (Burchardt 2011: 428) dar: Mit dem Wirtschafts- und Sozialplan 2001–2007 wurde die „Sozialpolitik […] nicht mehr als abhängige Variable von ökonomischen und politischen Prozessen gesehen, sondern als ein eigenes strukturdeterminierendes Politikfeld verstanden“ (ebd.: 429).
 
24
Serrano Mancilla (2015: 233–255) setzt sich mit Frage nach dem „dritten Weg“ auseinander und kommt zum Ergebnis, dass die von Chávez propagierte und eingeschlagene wirtschaftliche Richtung damit unangemessen charakterisiert wird.
 
25
Im Original: Líneas Generales del Plan de Desarrollo Económico y Social de la Nación 2001–2007.
 
26
Damit wurden Lehren aus der jüngsten venezolanischen Geschichte gezogen, die durch ausgeprägte, öl(preis)bedingte wirtschaftlichen Schwankungen, d. h. sich abwechselnde Boom- und Krisenzeiten, gekennzeichnet war.
 
27
Das Ziel der Regierung Chávez bestand von Beginn an darin, die Abhängigkeit vom Erdöl zu überwinden, zumindest jedoch zu reduzieren (z. B. Chávez 1999, 2011b: 19–20).
 
28
Konkret waren hierfür zwei Programme angedacht: Das eine hatte die „Demokratisierung des Kapitals“ mittels der „Entwicklung produktiver, selbstverwaltender Aktivitäten“, z. B. über Kleinstunternehmen (microempresas), Gemeinschaftsunternehmen (empresas comunitarias), Kooperative, kleine und mittlere Unternehmen und landwirtschaftliche Betriebe als Ziel. Das andere Programm richtete sich auf ein System der Mikrofinanzierung (RBRV 2001: 27–28).
 
29
Die Binnenmarktorientierung war bereits ein Kennzeichen des ISI gewesen. Hier zeigt sich die Prägekraft strukturell wirkender Ideen bzw. Konzepte.
 
30
Corrales (2010: 40) sieht in der „endogenen Entwicklung“ lediglich eine neue Begrifflichkeit für Importsubstitution, daher auch der Titel seines Artikels: „The Repeating Revolution: Chávezʼ New Politics and Old Economics“.
 
31
Die Vorstellung einer Neugestaltung der regionalen Landkarte nach dem Ideal Bolívars war im Denken Chávezʼ jedoch bereits vor 1998 deutlich erkennbar gewesen (Werz 2011: 382).
 
32
Z. B. war es üblich, dass der Wirtschaftsminister aus der Privatwirtschaft oder der Verteidigungsminister aus dem Militär kam (Wilpert 2007: 21).
 
33
Das Militär hatte z. B. den verfassungsmäßigen Auftrag, in der Entwicklung des Landes mitzuwirken (RBRV 2009: Art. 328).
 
34
Problematisch an dem Verfassungsgebungsprozess war, dass eine Ausarbeitung einer neuen Verfassung über eine verfassungsgebende Versammlung in der Verfassung von 1961 nicht vorgesehen war. Daher wird diese Verfassungsgebungsprozess von diversen Autoren als Staatsstreich interpretiert (Brewer-Carías 2013: 354; Hernández 2011: 144).
 
35
Hierzu zählen z. B. Referendum, Volksbefragung, Abwahlreferendum bzw. Mandatswiderruf („revocación del mandato“), gesetzgeberische Initiativen („iniciativas legislativa“), Verfassungsgebungsinitiative („iniciativa constitucional y constituyente“), offene Stadtratssitzungen („cabildo abierto“), und Bürgerversammlungen (RBRV 2009: Art. 70).
 
36
Die Regierung war es gelungen, diese neuen Gewalten mit loyalen Akteuren zu besetzen (Aponte Blank/Gómez-Calcaño 2009: 5).
 
37
Langsame bzw. oppositionell eingestellte Staatsapparate hatten in Venezuela bereits zuvor für Probleme gesorgt: So gab es z. B. bei der Implementierung der neoliberalen Reformen Probleme mit der Bürokratie, die von ebendiesen Reformen berührt gewesen wäre (Balza 2008: 379).
 
38
Im Original: Ley de Pesca y Acuacultura, Ley de Tierras y Desarrollo Agrario, Ley Orgánica de Hidrocarburos (de Beaugrande 2008: 25–30).
 
39
Jährliche Veränderungsrate in konstanten Preisen des Jahres 2010.
 
40
Im Jahr 1960 gründeten Venezuela zusammen mit Irak, Iran, Kuwait und Saudi Arabien die OPEC. Die Zielsetzung des Interessenskartells bestand darin, mittels der Regulierung der Extraktion des Rohstoffs (Produktionsquoten) die internationalen Ölpreise zu stabilisieren (Schaeffler 2011: 500). In den folgenden Dekaden war es jedoch häufig Venezuela, das die Politik der Förderquoten ignorierte. Dies sollte sich mit dem Amtsantritt Chávez ändern.
 
41
Mit dieser Politik zog er den Unmut der USA auf sich, die stets an billigen Energieträgern interessiert waren und damit eine handlungsfähige OPEC ablehnten. Im Rahmen einer „Politik der Nadelstiche gegenüber den USA“ (Werz 2007: 8) näherte sich die Chávez-Administration den Regierungen Iraks und Irans an, die von den USA zuvor als Schurkenstaaten definiert wurden, um die OPEC als handlungsfähigen Akteur aufrechtzuerhalten. Eine längerfristige Interessensschnittmenge entstand mit dem Iran, mit dem Venezuela innerhalb der OPEC eine Allianz gegen die Verbindungen zwischen Saudi Arabien und USA, die der Quotendisziplin der OPEC ablehnend gegenüberstehen, bildete (Schaeffler 2011: 512–513).
 
42
Detailliertere Informationen zum Kampf um PdVSA und der These vom „Staat im Staat“ liefern Mommer (2004) und Álvarez (2013: 293–295); Scaglione (2008: 70) hingegen widerspricht der These vom „Staat im Staat“.
 
43
Erste Konflikte zwischen der neuen Regierung Chávez und dem Management PdVSAs hatte es bereits zuvor gegeben. Diese waren der Tatsache geschuldet, dass Chávez diverse loyale Parteigänger als Präsidenten der Ölfirma berief, die jedoch über wenig Expertise verfügten und deren Vorstellungen mit denjenigen des Managements kollidierten (Corrales/Penfold 2011: 77–78).
 
44
Boeckh (2011a: 416) merkt an, dass der Preis für die Entlassung der Mitarbeiter sehr hoch war, da durch die Neubestzungen ein Kompetenzverlust einherging.
 
45
Auch der fiskalische Beitrag PdVSAs folgt dem Konjunkturverlauf. So stieg dieser Betrag zwischen dem Kontrollgewinn und dem Jahr 2008 stetig an, bevor sich ab dem Jahr 2009 die globale Wirtschaftskrise auch in sinkenden Beiträgen PdVSAs an den Staat niederschlug (Álvarez 2013: 301).
 
46
Die ersten Schritte galten einer Anhebung von Bildungsstandards, der Einbindung informeller Arbeitnehmer in die Sozialversicherungssysteme und einer Verbesserung der Position bzw. Situation von Frauen, z. B. mittels spezifischer Kreditprogramme, die von der Bank der Frauen (Banco de la Mujer) vergeben wurden (Buxton 2004: 126). Eine erste aufwendigere Maßnahme stellte der Plan Bolívar 2000 desselben Jahres dar, mit dessen Hilfe die grassierende Armut bekämpft, Nahrungsmittel verteilt (Wilpert 2007: 109, 141), die öffentliche Infrastruktur modernisiert (Buxton 2004: 126) und rasche Beschäftigungserfolge erzielt (Álvarez 2009: 38) werden sollten.
 
47
Auch in der zweiten, sozialistischen Phase, wurden ähnliche weitere Missionen gegründet. Mittels der Misión Campo Adentro und weiterer ähnlicher Programme leistete die Regierung finanzielle, technische und maschinelle Unterstützung und investierte in Gesundheit, Bildung etc., um den ländlichen Bereich attraktiv zu gestalten (Orhangazi 2011: 16; Álvarez 2013: 313–317).
 
48
Dieses Programm sollte sich jedoch als nicht besonders nachhaltig erweisen und blieb von kubanischem Personal abhängig (Burchardt 2011: 434).
 
49
Darüber hinaus stellen Bau und Bereitstellung öffentlichen Wohnraums ein sozialpolitisches Betätigungsfeld der Regierung dar. Wiewohl die dahingehenden Ausgaben zu Beginn der Ära Chávez zunächst beträchtlich anstiegen, kehrte sich dieser Trend in den folgenden Jahren teilweise aufgrund der wirtschaftlich angespannten Situation und der daraus resultierenden finanziellen Engpässe, teilweise wegen bürokratischer Ineffizienzen und ausgeprägter Koordinations- bzw. Planungsprobleme um. So sollen in den ersten fünf Jahren der Regierung Chávez mindestens fünf verschiedene bundesstaatliche und weitere lokale Behörden und ferner sieben verschiedene Minister für den Wohnungsbau zuständig gewesen sein (Wilpert 2007: 136–139). Im Jahr 2004 waren damit weit weniger Wohnraum gebaut und zur Verfügung gestellt worden als unter den Vorgängerregierungen (ebd.). Ebenso problematisch erweist sich die Umsetzung eines modernen und universellen, d. h. die Bereiche Arbeit, Gesundheit und Rente umfassenden Sozialversicherungssystems. Zwar hat die Regierung Chávez diesbezüglich Erfolge vorzuweisen, die dahingehenden öffentlichen Ausgaben verdreifachten sich bis 2004, die Rentensätze wurden erhöht und das System auch Venezolanern zugänglich gemacht, die die Beiträge nicht entrichten konnten. Jedoch verhinderten Institutionalisierungsdefizite und eine Verringerung von Beitragszahlern, die sich aus informellen Beschäftigungsverhältnissen ergeben hatte, eine gewisse Nachhaltigkeit. Daher war ein Großteil der Venezolaner noch Jahre später nicht sozialversichert (Burchardt 2011: 435; Wilpert 2007: 139–141).
 
50
Obwohl in den ersten Jahren bereits eine signifikante öffentliche Ausgabensteigerung erfolgte, waren die sozialpolitischen Erfolge zunächst durchwachsen. Das lag nicht nur an den staatlich-bürokratischen Ineffizienzen, Institutionalisierungsdefiziten, Koordinationsproblemen und personalpolitischer Entscheidungen, sondern insbesondere an der Konfliktphase zwischen Ende 2001 und v. a. 2003, die einen massiven Wirtschaftseinbruch zur Folge hatte. In den ersten Regierungsjahren konnte die Armutsrate zwar leicht gesenkt werden, aufgrund der Wirtschaftskrise stieg diese jedoch wieder rapide an. Wilpert (2007: 145–146) stellt vor diesem Hintergrund die zur Evaluation der chavistischen Sozialpolitik nicht unwichtige Frage: „Thus, the question of who is to be responsible for the increase in poverty all boils down to who was responsible for the crisis years […]: the Chávez government or the opposition?“ Ab dem Jahr 2003 – mit den nun steigenden Öleinnahmen und den durch die Machtkonsolidierung bedingten größeren Handlungsspielräumen – konnte dieser Trend jedoch temporär umgekehrt werden und die gemessene Armut sank kontinuierlich (CEPAL 2018b).
 
51
Dieser klientelistische Verteilungspopulismus ist in Venezuela kein neuartiges Phänomen, sondern struktureller Natur. Auch in den Dekaden zuvor nutzten die jeweiligen Regierungen die Ölrente, um sich Gefolgschaft und Loyalität zu sichern (Boeckh 2011a: 420; Isidoro Losada 2011: 295–296; Zelik 2011: 463).
 
52
Aufgrund der Wirtschaftskrisen der Zwischenkriegszeit begann nach dem Zweiten Weltkrieg der internationale Siegeszug des Keynesianismus. Fortan wurde das Wirtschaftsgeschehen auf den Märkten aus Stabilitätsgründen politisch reguliert und ggf. interveniert. Die Zeit des keynesianischen Wohlfahrtsstaates bzw. „Fordismus“ der Nachkriegsära kennzeichnete ein wirtschaftspolitisch aktiver Staat – Priorität makroökonomischer gegenüber einzelwirtschaftlichen Überlegungen, aktive Geld- und Fiskalpolitik, Regulierungen im finanziellen Bereich (Kapitalverkehrskontrollen) –, eine eher binnenmarktorientierte Ausrichtung der Wirtschaft, die Erneuerung der internationalen Handelsbeziehungen (System von Bretton Woods) und eine stärkere Gewichtung sozialer Faktoren, d. h. eine ambitioniertere Sozialpolitik, Lohnsteigerungen der Arbeitnehmer, Stärkung von Gewerkschaften etc. (Schmid et al. 2006: 134; Huffschmid 2002: 108–115; Miller 2008: 79). Aufgrund der wachsenden öffentlichen Verschuldung, einer nachlassenden Wirtschaftsdynamik und dem zeitgleichen Anstieg der Inflationsraten (Stagflation) geriet der keynesianische Konsens in den 1970er Jahren jedoch in die Krise (Miller 2008: 79–80; Huffschmid 2002: 119–122). In Lateinamerika war Mitte des 20 Jahrhunderts das regional dominierende entwicklungspolitische Modell der Importsubstitutionsindustrialisierung (ISI), einer nach innen gerichteten Strategie mit Fokus auf der Herstellung vormals importierter Produkte (Oatley 2006: 123–124), in die Krise geraten (Sangmeister/Schönstedt 2009: 86). Aufgrund der hohen Außenverschuldung, die mit dem ISI in den 1970ern und 1980ern einherging, erhielt der Neoliberalismus in Lateinamerika Einzug (Oatley 2006: 307–333).
 
53
Folgende ökonomische Ideen flossen gemäß Harvey (2005: 54) in die neoliberalen Wende ein: Monetarismus (Milton Friedman), rational expectations (Robert Lucas), public choice (James Buchanan, Gordon Tullock) und supply-side economics (Arthur Laffer).
 
54
Mit Bezug auf die lateinamerikanische Schuldenkrise und das Ende des ISI merkt Stiglitz (2008: 43) kritisch an: „It was the debt crisis, however, and not the shortcomings of the development strategy [the ISI, R.P.] that brought an end to the period of growth.“
 
55
Kritische Bestandsaufnahmen des Washington Consensus finden sich bei Panizza (2009: 71–72, 141), Rodrik (2006) und Stiglitz (2008).
 
56
In diesem Zusammenhang sind weitere wichtige diesbezügliche Punkte z. B. die staatliche Kontrolle über die natürlichen Ressourcen (Art. 113, Art. 302); das Privatisierungsverbot öffentlicher Güter und Dienstleistungen (Art. 84, Art. 119); und eine Industriepolitik, die über den Schutz kleiner und mittlerer Unternehmen sowie von Familien-, Mikrounternehmen und kommunitären Assoziationen die Entwicklung des Landes voranzutreiben gedenkt (Art. 308).
 
57
Die erfolgreiche Bekämpfung von Kapitalflucht zwang die venezolanischen Geldvermögensbesitzer zur Anlage im Inland, was einen Boom am Aktienmarkt nach sich zog (Wilpert 2007: 73). Ferner konnten infolge des neuen Wechselkursregimes Währungsreserven angehäuft und die Inflation eingedämmt werden, da die Überbewertung des Bolívar – Folge der Fixierung des Wechselkurses – die Importe verbilligte (Scaglione 2008: 72–73). Interessanterweise folgte die Regierung damit traditionellen Mustern der Inflationsbekämpfung. Denn die mit dem Washington Consensus verbundenen Reformempfehlungen der neoliberalen Vorgängerperiode sahen zwar einen „wettbewerbsfähigen“ Wechselkurs vor, der ein Wachstum (auch) außerhalb der traditionellen Exportbranchen (v. a. Rohstoffe) induzierten sollte (Williamson, zit. nach: Birdsall/de la Torre/Valencia 2011: 81), in der Praxis griffen aber viele Regierungen der Region auf die Überbewertung ihrer Währung zur Inflationsbekämpfung zurück (Ocampo/Ros 2011: 17).
 
58
Präziser: Die Regierung reagierte auf die künstliche Knappheit mit Preis- und Devisenkontrollen, woraufhin Firmen die Produktion drosselten, was wiederum die Regierung zu Enteignungen veranlasste (Ellner 2013b: 67).
 
59
Außerdem wurden private Banken dazu angehalten, 47 % ihres Kapitals bestimmten Sektoren, die von der Regierung ausgewählt wurden, zur Verfügung zu stellen (Corrales 2010: 41).
 
60
Wilpert (2007: 78) merkt in diesem Zusammenhang jedoch an, dass viele dieser Kooperativen „Phantomkooperativen“ mit dem einzigen Zweck sind, Zugang zu staatlichen Geldern zu erhalten und von der öffentlichen Nachfrage zu profitieren.
 
62
Dies betrifft zum einen sicherheitspolitische Aspekte wie die Eindämmung des Drogenanabaus, die Aufrechterhaltung der politischen Stabilität unter dem Banner der „Demokratie“ (Lapper 2006: 26–27) und die Beibehaltung des eigenen Einflusses z. B. über die Nutzung von Militärbasen (Flemes/Nolte 2009: 6). Zum anderen bezieht sich das auf den wirtschaftlichen Bereich und umfasst neben der Intensivierung des (Frei-)Handels den Zugang zu Energieträgern aus der Region (Walser 2009).
 
63
Angesichts des steigenden Verbrauchs in den USA einerseits und den unberechenbaren und teils unerwünschten politischen Entwicklungen in den wichtigsten Förderländern (Mexiko, Venezuela, Saudi-Arabien, Kanada) andererseits war der Aspekt der Energieversorgung in den USA – vor dem Fracking-Boom – zu einer der obersten Sicherheitsangelegenheiten deklariert worden (Bodemer 2007: 174–175).
 
64
Gemäß Azzellini (2006: 84) setzte die US-Regierung alles daran, „den Transformationsprozess unter der Regierung Chávez in Venezuela zu blockieren, sabotieren und letztendlich zu einem Ende zu bringen.“
 
65
Zamora war Militär und Rebellenführer, Rodríguez war Philosoph. Neben Simón Bolívar waren diese zwei Persönlichkeiten von großem Einfluss auf Chávez (Kresse 2015: 15–16).
 
66
Viele venezolanische Politiker instrumentalisierten den Mythos um den Unabhängigkeitskämpfer und Befreier Bolívar zur eigenen Legitimation. Während Chávez’ Amtszeit hatte dies religiösen Charakter angenommen. Bolívar symbolisierte für Chávez das Ideal der Unabhängigkeit, der sozialen Gerechtigkeit, der Gleichheit, ferner symbolisierte er den Antiimperialismus und den Wunsch nach einer lateinamerikanischen Integration (Boeckh/Graf 2007: 155–160).
 
67
Gemäß der eigenen Prinzipien ist die Sozialistische Einheitspartei aus der Überzeugung entstanden, dass es „eine konstante militärische Bedrohung durch interne und externe Feinde der Revolution“ gibt, „weswegen sie […] die Verantwortung für die Verteidigung des Vaterlandes übernimmt“ (PSUV 2010a).
 
68
Diesbezüglich gibt es ein nicht klar voneinander abgegrenztes, konzeptuelles Nebeneinander des Sozialismus des 21. Jahrhunderts mit der Bolivarischen Revolution und dem sogenannten Proyecto Nacional Simón Bolívar. Gemäß RBRV (2012) stellten die sieben Leitlinien des Wirtschafts- und Sozialplans 2007–2013 (RBRV 2008) strategische Ziele des Proyecto Nacional Simón Bolívar dar. Und laut RBRV (2008: 5) bildete der Sozialismus des 21. Jahrhunderts eine neue Periode des Proyecto Nacional Simón Bolívar 2007–2013.
 
69
Kapitalismus wurde demgemäß anhand folgender Charakteristika definiert: 1. Privateigentum an Produktionsmitteln, 2. „Aneignung fremder Arbeit zur Produktion individuellen Reichtums“, 3. ein wettbewerbsorientierter Markt, 4. ein Staat als Garant kapitalistischer Interessen (MinCI 2007: 11–13). In Abgrenzung hierzu definierte sich Sozialismus über: 1. Kollektiveigentum an Produktionsmitteln, 2. Nicht-Existenz von Ausbeutung, 3. ein an Kooperation, Komplementarität und Solidarität orientierter Markt, 4. ein Staat als Verteidigungsinstanz der Interessen der Arbeitnehmer (ebd.: 13–20).
Ähnlich argumentiert Gudynas (2011b: 78), der darauf verweist, dass der Sozialismus des 21. Jahrhunderts „primär auf eine konzeptionelle Kritik des Neoliberalismus fokussiert [ist], […] aber keine weitergehenden detaillierten Vorschläge für alternative Formen der Entwicklung [liefert].“
 
70
In diesem Kontext spielte auch der andauernde Alarmismus aufgrund einer (tatsächlichen oder imaginären) Bedrohung durch interne und externe Feinde und die damit einhergehende permanente Mobilisierung der Bevölkerung eine Rolle (Kestler 2009: 192).
 
71
Diese Explosion kommunaler Macht stellte einen von fünf Motoren dar, die nach Chávez᾽ Sieg in den Präsidentschaftswahlen 2006 ausgerufen wurden. Die fünf Motoren lauteten: 1. ein Gesetz der Gesetze; 2. die tiefgreifende Reform der Verfassung; 3. eine umfassende (moralische, wirtschaftliche, politische und soziale) Bildungsoffensive; 4. eine neue Geometrie der Macht, d. h. eine neue Art der Verteilung politischer, wirtschaftlicher und militärischer Macht; 5. die Explosion kommunaler Macht (Chávez 2007b).
 
72
Marktwirtschaft und Kapitalismus wurden im chavistischen Diskurs zunehmend synonym verwendet.
 
73
Denkanstöße für eine nicht-kapitalistische, dezentrale Produktion und Konsumption lieferte z. B. der ungarische Marxist Istvan Mészáros, den Chávez in dieser Zeit las (Wilpert 2007: 81; Purcell 2013: 147).
 
74
Dieterichs Rolle wird in der Literatur teils zu stark gewichtet. Er selbst verwies mehrfach darauf, dass Chávez᾽ Sozialismusentwurf und der in Venezuela erfolgte Prozess wenig mit seinem eigenen Konzept zu tun haben (Dieterich 2006: 5, 15; Dieterich 2013; Dieterich 2016).
 
75
Hier ist viel von „Dekonzentration“, also einer territorialen Entflechtung ökonomischer Aktivitäten die Rede (vgl. Plan 2001 – RBRV 2001: 20, 133–151; Plan 2008 – RBRV 2008: 6, 57–74). Eine Zielsetzung der Regierung bestand darin, den Urbanisierungsprozess zu stoppen und ländliche Regionen wieder wirtschaftlich attraktiver zu gestalten. (Purcell 2013: 153).
 
76
Das Konzept der endogenen Entwicklung, das v. a. in der Übergangszeit zwischen der prä-sozialistischen und der sozialistischen Phase an Bedeutung gewann, wurde durchgehend beibehalten und ist seither dem Sozialismus des 21. Jahrhunderts bzw. dem anvisierten „sozialistischen Produktionsmodell“ zugrunde gelegt worden bzw. darin konzeptionell eingeflossen. Über das Modelo de desarollo endógeno in der zweiten Phase: vgl. PSUV (2010b: 109–112).
 
77
Hier berief sich die Regierung wieder auf Simón Bolívar (RBRV 2008: 5, 19).
 
78
Das Verhältnis von Wirtschaftsmodell und (Entwicklungs-)Paradigma kann hier wie folgt festgehalten werden: Das Wirtschaftsmodell stellt eine konkrete Form der Umsetzung eines als (Meta-)Konzept fungierenden (Entwicklungs-)Paradigmas dar.
 
79
„Hugo Chávez has been quite explicit about his view that politics and ideology should take precedence over all other considerations in domestic and foreign policy“ (Adams/Gunson 2015: 33). Diese Prioritätensetzung zeigte sich z. B. daran, dass die Kooperativen primär einem sozialem Ziel dienten (Ellner 2011a: 32–33), nämlich der Versorgung der Bevölkerungsmehrheit (Zelik 2011: 465). Auch hinsichtlich der Außen(wirtschafts)politik verweisen Autoren auf diesen Aspekt: Lapper (2006: 16) schreibt, dass die Außenpolitik an Wirtschaft und Ideologie ausgerichtet ist, während Werz (2007: 10) der Überzeugung ist, dass die Außenpolitik lediglich politischen Zielsetzungen folgt. Gemäß (Schaeffler 2011: 502) ist die Außenwirtschaftspolitik seit Chávez nicht mehr an wirtschaftlichen, sondern an geopolitischen und -strategischen Zielen ausgerichtet (Schaeffler 2011: 502).
 
80
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten die USA mit der Monroe-Doktrin (1823) den Anspruch auf Vormachtstellung in ihrem „Hinterhof“, d. h. auf dem (süd-)amerikanischen Kontinent angemeldet. In der Folge stand die Gewährleistung des Zugangs zu den Märkten Lateinamerikas im Zentrum der Bemühungen der US-Regierungen (Rinke 2005; Scheuzger/Fleer 2009).
 
81
Das Akronym ALCA (Área de Libre Comercio de las Américas) stand für eine temporär geplante „(Gesamt-)Amerikanische Freihandelszone“.
 
82
Diese begriffliche Unterscheidung kennzeichnet einen Bereich diskursiver Deutungskämpfe. Ein Leser eines 2010 erschienenen Artikels von „ZeitOnline“ über die Konzentration von Sondervollmachten in den Händen Chávezʼ echauffierte sich in einem Kommentar darüber, dass im Fall Chávez von einem „Ermächtigungsgesetz“ die Rede wäre, während dieselben parlamentarischen Einschränkungen in den USA als „Notstandsgesetze“ bezeichnet würden (vgl. Wagner 2010).
 
83
Nichtsdestoweniger zeichnete sich auch der chavistische Block durch interne Spannung, Visionen und Interessen aus (Ellner 2013b). Erst unter Nachfolger Maduro sind Risse in der Einheit teils deutlich zu erkennen (Reichenbach 2015: 4–6). Es zeigt sich nun, dass es nicht zuletzt die Person Chávez war, die diese Einheit zu seinen Lebzeiten zusammenzuhalten vermochte.
 
84
Die Verfassung von 1999 sollte in einer prozessualen Dimension, als ein unvollständiger Schritt in einem groß angelegten Transformationsprozess, gesehen werden. Mit der Verfassung von 1999, so Edwards (2010: 189) mit Verweise auf zwei relevante Theoretiker des neuen lateinamerikanischen Konstitutionalismus (Roberto Viciano, Rubén Martínez Dalmau), sollte kein finales (Verfassungs-)Modell etabliert werden, sondern vielmehr Zeit gewonnen werden, um über ein neues Modell nachzudenken.
 
85
Der Einfluss Ceresoles auf Chávez ist umstritten. Autoren wie Boeckh/Graf (2007:153) oder Boscán Carrasquero (2010) deuten einen teils starken Einfluss an, wobei Letzterer selbst erklärte, dass die Idee einer Einheit aus Zivilbevölkerung, Militär und Caudillo in der venezolanischen Geschichte strukturell verankert ist und mindestens bis Bolívar zurückreicht.
 
86
Die neue Militärdoktrin wurde von dem Buch Peripheral Warfare and Revolutionary Islam: Origins, Rules and Ethics of Asymmetrical Warfare von Jorge Verstrynge beeinflusst (Farah 2015: 97–98).
 
87
Im Jahr 2010 wurde ein Gesetz über den widerrechtlichen Umtausch erlassen, das der Regierung im Bereich des Geldumtauschs ein Monopol einräumt (Corrales 2015: 39).
 
88
Die Kontrolle über den Mediensektor erfolgte über drei Techniken: 1. Veränderung der Rechtsgrundlagen, um die […] Vorgehensweisen der privaten Medien zu verbieten; 2. Ausschaltung aller störenden Elemente mittels eines Paktes der Autozensur, der Steuerung von Regierungsaufträgen (Werbung), dem Kauf von Firmen, der Einschüchterung, Zurückhalten von Informationen und dem Konzessionsentzug; 3. Stärkung und Ausbau der sich in Händen der Regierung befindlichen Kommunikationskanäle (Cabrera/Silva-Ferrer 2011: 349).
 
89
Das Verhältnis des Dekonzentrationsprozess von Macht wurde jedoch von einem Rekonzentrations- bzw. Zentralisierungsprozess konterkariert. Die Begründung hierfür aus dem Jahr 2004 lautete nun, dass Dezentralisierung eine imperiale Strategie (der USA) zur Schwächung des revolutionären Prozesses darstellte (Chávez, zit. nach: Harnecker 2004: 69).
 
90
Ein weiteres Element bildeten die Komitees der Stadtböden (Comités de Tierras Urbanas), die ebenfalls eine neue Form der lokalen Partizipations und Organisation bildeten. Ihr zentrales Ziel bestand darin, die Demokratisierung des Bodens und die Transformation der Stadtviertel (barrios) zu erreichen, aber auch, den „revolutionären Staat“ und die Patria Nacional in Eigenverwaltung von unten herauf, also von den barrios aus, aufzubauen (Fernández Cabrera 2012: 64).
 
91
Die CC waren zwar bereits im Jahr 2002 im Rahmen der Consejos Locales de Planificación Pública als partizipative Räume der Zivilgesellschaft konzipiert worden. Aber erst 2006 wurden sie zu staatlichen Entitäten (López Maya 2012: 285). Die CC, die sich im städtischen Bereich aus 200 bis 400 Familien und auf dem Land ab 20 Familien zusammensetzen, haben als oberste Entscheidungsinstanz eine sogenannte Bürgerversammlung (Asamblea de Ciudadanos) (Briceño/Maingon 2015: 14).
 
92
Gemäß López Maya (2014: 37–38) entwickelten sich diverse Basisorganisationen wie Bürgerversammlungen (asamblea de ciudadanos) bereits in den 1980er und 1990er Jahren und forderten eine stärkere Dezentralisierung und direktdemokratische Partizipation. Auch Zelik (2011: 454) verweist darauf, dass diverse „Basisnetzwerke“ bzw. „Basisstrukturen“ schon vor Chávez Bestand hatten und im Kontext der ab 2001 einsetzenden Konfliktperiode die „Durchsetzung eines anderen gesellschaftlichen Modells“ forderten. An anderer Stelle schreibt Zelik (2006: 13–15) hieran anknüpfend, dass viele Aktionen ‚von unten‘, z. B. während des Putschversuchs 2002, (eben) nicht ‚von oben‘ dirigiert wurden. Azzellini (2013: 58) verweist darauf, dass die CC selbst eine Initiative von unten darstellten, die von der Regierung angenommen, gutgeheißen und ausgeweitet wurde. Auch Orhangazi (2011: 14) erwähnt, dass der Druck der Basis Auswirkungen auf das Regierungshandeln zeitigen kann, so z. B. dann, wenn Arbeiter die Regierungen dazu drängen, Unternehmen zu nationalisieren. Ähnliches berichtet de la Torre (2013: 33) am Beispiel eines Zusammenschlusses von Teilen der Bevölkerung, die erfolgreich den von der Regierung geplanten Kohleabbau in ihrem Bundesstaat verhinderten.
 
93
Es war vorgesehen, dass die CC Kommunen und diese wiederum kommunale Städte (Ciudad comunal) gründen (Lalander 2012: 178).
 
94
Ferner profitierten auch ausländische Großunternehmer, die im Importsektor tätig waren, von den rentenbasierten Devisen. Insofern „bedeutete die Bolivarische Revolution nicht notwendigerweise schlechte Zeiten für die wirtschaftlichen Eliten“ (Peters 2019: 142).
 
95
Jährliche Veränderungsrate in konstanten Preisen des Jahres 2010.
 
96
Die Regierung profitierte z. B. über die Steuern, die während dieser Phase zunahmen: Im Jahr 2006 gab es zwei Steuerarten, 2009 waren es bereits vier (PdVSA 2006; PdVSA 2009).
 
97
Diese Verbesserung der Sozialindikatoren war gemäß Álvarez (2013: 336) jedoch ausschließlich auf die rentenbasierte Sozialpolitik zurückführen und nicht auf andere Aspekte der Wirtschaftspolitik. Ungeachtet der messbaren Armutsreduktion konnte die Regierung mit einer weiteren, (eher) immateriellen Errungenschaft, nämlich der „von den Betroffenen selbst gefühlte[n] Armut“ (Reichenbach 2015: 5), punkten. Denn über die Wertschätzung und die Aufmerksamkeit durch die Regierung Chávez wurde den vormals marginalisierten und ‚vergessenen‘ Teilen der venezolanischen Bevölkerung nun das Gefühl zuteil, dass das Land nicht mehr nur zugunsten der oberen Schichten regiert wurde (Boris 2014: 34–35; Welsch/Briceño 2011: 110).
 
98
Nadeau, Bélange, Didier und Lewis-Beck (2012: 23) erklären die Zustimmung zu Chávez anhand von vier Indikatoren: „corruption, inequality […], protection of individual rights, and the economy“. Die Relevanz des „economic voting“ betonen Corrales und Hidalgo (2013: 69–70) auch für die Präsidentschaftswahlen 2012.
 
99
Dies betrifft z. B. die finanzielle Ausstattung von FONDEN ab dem Jahr 2005, die Finanzierung PdVSAs (Kauf von Wertpapieren der Firma) ab 2009 und Kreditgewährungen an produktive Sektoren ab 2010 (Falcón/Noguera 2016).
 
100
Gemäß Ellner (2013b: 67) stellt das ein oft genutztes taktisches Mittel der Opposition dar. Interessanterweise war auch vor der Parlamentswahl 2015 eine derartige Knappheit zu verzeichnen.
 
101
Im Unterschied zur ersten Phase erfolgten die Enteignungen nun nicht mehr ausschließlich reaktiv, sondern basierten auch auf anderen Motiven. Ellner (2013b: 69) argumentiert, dass die Chávez-Regierung hiermit auf die Interessen gewisser Fraktionen innerhalb der chavistischen Bewegung reagierte. Z.B. war mit den Enteignungen der Versuch verbunden, Arbeitsplätze zu sichern und Outsourcing-Maßnahmen zu verhindern, wodurch die Regierung der Arbeitnehmerfraktion innerhalb des Chavismus entgegengekommen wollte. Kritiker erkennen in den Expropriationen hingegen primär (macht-)politische Ziele, nämlich die Konsolidierung der staatlichen Macht und die Bestrafung oppositioneller Kräfte (ebd.: 67).
 
102
Enteignungen werden in Venezuela mittels eines speziellen Gesetzes (Ley de Depabis, 2007) geregelt. Dieses Gesetz wurde in den Jahren 2008 und 2010 verschärft, so dass der Staat nun weitreichende Enteignungsbefugnisse innehält (Pezzella Abilahoud 2011a: 4).
 
103
Aufgrund der Unsicherheit von Unternehmen, die mit diesem “statist stampede” einhergingen, verschlechterte sich das für den Freihandel so zentrale Investitionsklima (Corrales/Penfold 2011: 68).
 
104
Ferner wurden weitere 5,9 Mio. Hektar „regularisiert“, d. h. Eigentumstitel auf Land an Personen vergeben, die das entsprechende Land schon seit Längerem bebauten und einen Besitzanspruch darauf erhoben (Lavelle 2011: 141–142; Wilpert 2014: 7).
 
105
Diese Änderung folgte der Selbstbildung Chávezʼ in sozialistischen Fragen. Konkret knüpft er mit der Fokussierung auf die kommunale Ebene an die Schriften des ungarischen Marxisten Istvan Mészáros an (Wilpert 2007: 81; Purcell 2013: 147).
 
106
„Thus the social production companies emerged as a mechanism of rent distribution to support small agrarian cooperatives […]. [B]y providing a ˈfair priceˈ and new institutional support in the form of a central processing social production company, the cooperative network could be fortified and even expanded through the savings and increased profit made by combining production, marketing, and distribution“ (Purcell 2013: 154–157).
 
107
In diesem Zusammenhang bleibt kritisch zu resümieren, dass viele der mit den EPS und den sozialistischen Unternehmen verbundenen Zielsetzungen nicht eingetreten sind. So stellt Purcell (2013: 154) fest, dass die Verbindung der EPS mit den Agrarkooperativen nicht ausreichend war, um die Wettbewerbsfähigkeit Letzterer gegenüber privaten Firmen zu gewährleisten. Álvarez (2013: 360–361) kritisiert, dass in die neuen Unternehmenstypen zu wenig investiert wurde und stattdessen kapitalistische Produktionsmuster in Form eines bürokratischen Staatskapitalismus reproduziert würden. Noch weiter geht Pezzella Abilahoud (2011b). Demnach produzierten die sozialistischen Firmen weit unterhalb der veranschlagten Ziele, was u. a. an Schwierigkeiten beim Zugang zu Ressourcen, bürokratischen Hürden, und Korruption liege; ferner würde der massive staatliche Einfluss Anreize zu produktivitätssteigernden Projekten ausbremsen und eine neue bürokratische Sozialistenklasse schaffen.
 
108
Dieses Gesetz wurde nur ein Jahr später außer Kraft gesetzt. Nichtsdestoweniger wurde ein neues dahingehendes Gesetz im Dezember 2015 wiederaufgelegt (PWC 2016).
 
109
Nichtsdestoweniger sind auch in Venezuela Dynamiken der Finanzialisierung, v. a. bezüglich des Rohstoffsektors zu konstatieren. Konkret profitierte das Land zwischen 2003 und 2008 von den Finanzialisierungsentwicklungen auf den internationalen Rohstoffmärkten, denn die dahingehenden Preise generell und der Ölpreis speziell folgen nicht nur der Logik von Angebot und Nachfrage, sondern auch spekulativen Bewegungen (Flassbeck 2015a).
 
110
Zu diesen „Nadelstichen“ zählten u. a. die Annäherung der Regierung Chávez an die arabische Welt mit dem Hintergedanken der Reaktivierung der OPEC, die Annäherung an Staaten wie Kuba und Irak, die von der internationalen Gemeinschaft weitgehend ausgeschlossen waren, die Unterstützung diverser Staaten (China, Afghanistan, Irak, Iran, Kuba), die von den USA angesichts der dort begangenen Menschenrechtsverletzungen gebrandmarkt wurden, und das den USA untersagte Überflugsrecht über das venezolanische Territorium zur Kontrolle des kolumbianischen Drogenhandels (Azzellini 2006: 84; Mora Brito 2004: 79–80; Romero 2007; Werz 2007: 8).
 
111
Der Handel der beiden Staaten war bis zum Tod Chávezʼ intensiv, die USA waren Hauptabnehmer des venezolanischen Öls (Werz 2011: 381) und größter ausländischer Investor in Venezuela (Schaeffler 2011: 504). Es liegt hier der Verdacht nahe, dass die diskursive Aufrechterhaltung und Pflege des Feinbildes USA nicht zuletzt der inneren Stabilisierung des Chavismus und damit der Legitimation der Regierung diente (rally around the flag).
 
112
Bereits zuvor waren erste moderate Schritte in die Richtung einer aktiveren, post-hegemonialen Außen- und Regionalpolitik erfolgt. Z.B. bemühte sich die Regierung um eine Aufwertung der Rolle Venezuelas in regionalen und internationalen Organisationen (OAS, Mercosur, UNO) (Mora Brito 2004: 78). Mit dem Beitritt zu Mercosur ging auch der Versuch einher, diese Organisation zu politisieren (Werz 2011: 376). Dezidiertere Aktivitäten eines post-hegemonialen Regionalismus wurden durch die Bildung diverser Organisationen deutlich, wozu z. B. UNASUR (Unión de Naciones Suramericanas) und CELAC (Comunidad de Estados Latinoamericanos y Caribeños) zählen (Tussie/Riggirozzi 2015: 1042–1043). Während es der Regierung Chávez nicht gelang, ihre politischen Vorstellungen innerhalb dieser zwei Organisationen umzusetzen, spielte ALBA für die Chávez-Administration eine besondere Rolle.
 
113
„Cooperation within the Alliance is carried out through bilateral agreements. Venezuela is the main buyer of products and main supplier of energy to the signatory countries“ (SELA 2013: 11).
 
114
Einige Autoren sahen in Kuba den zentralen Ideengeber (Mijares 2015: 80). Nichtsdestoweniger war Venezuela – zumindest seitdem Fidel Castro nicht mehr die Geschicke in Kuba leitete – der entscheidende dahingehende Akteur (Hoffmann 2011: 18–19).
 
115
Venezuela, Kuba, Bolivien, Nicaragua, Ecuador und den Karibikstaaten Antigua und Barbuda, Dominica, St. Lucia, St. Kitts und Nevis, St. Vincent und die Grenadinen, Grenada.
 
116
PetroCaribe und ALBA sind formal unabhängig voneinander. Öllieferungen im Rahmen PetroCaribes sind nicht an eine Mitgliedschaft in ALBA gebunden (Girvan 2011). Nichtsdestoweniger: „[i]t is very difficult to separate ALBA from Petrocaribe […]. Despite being formally independent from ALBA and having a wider reach, one cannot understand ALBA without Petrocaribe. Indeed, the oil cooperation scheme constitutes ALBA’s most important project“ (Eguizábal 2015: 147).
 
117
Einem ähnlichen Ziel diente die Gründung der Bank des Südens (Banco del Sur), womit ein Gegenentwurf zum Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank angedacht war (Maihold 2008: 21–25; Zelik 2011: 472).
 
118
Ferner erhielt der bolivarische Sozialismus eine ökologischere Ausrichtung. Ziel V des Planes betrifft die „Bewahrung des Lebens auf dem Planeten und die Rettung des Menschen“ (RBRV 2013: 107–115). Hier finden sich Ähnlichkeiten zu den Konzepten des Buen vivir bzw. Vivir bien, die in den Nachbarländern Ecuador und Bolivien – zumindest diskursiv – eine größere Wirkung entfalteten.
 
119
Die Betonung des letzten Punktes findet sich ferner in Maduro (2015).
 
120
Das zeigt sich z. B. im Kabinett Maduros, in dem sich viele Weggefährten Chávez᾽ mit je eigenen wirtschaftlichen Interessen befinden (Langer 2017: 31).
 
121
Zusammengezählt wurden auf Basis von vier Notstands- bzw. Ermächtigungsgesetzen unter Chávez 215 Dekret-Gesetze und unter Maduros zwei Notstands- bzw. Ermächtigungsgesetzen 98 Dekret-Gesetze erlassen (Ramírez López 2017).
 
122
Der „Herrschaftszugang“ widmet sich der „Auswahl der Regierenden“. Entscheidend ist hierbei die Frage, ob ein universelles (freies, gleiches, allgemeines und geheimes) Wahlrecht existiert oder ob das Wahlrecht irgendwelchen Einschränkungen unterliegt, die den Zugang zu den politischen Entscheidungsebenen erschweren oder unterbinden (Merkel 2010: 22).
 
123
Die Erklärungen hierfür sind vielfältig und reichen von Veränderungen in Angebot und Nachfrage, Währungsveränderungen bis hin zu spekulativen Bewegungen (Weltbank 2015b: 160–161; Flassbeck 2015a).
 
124
Im August 2018 erfolgte aufgrund der ausufernden Inflation eine Währungsreform. Gegenüber dem Nominalwert der alten Währung wurden bei der neuen Währung, dem Bolívar soberano, fünf Nullen gestrichen (Salmerón 2018). Nichtsdestoweniger ist die Inflation seither wieder enorm gestiegen.
 
125
Weisbrot (2016) erkennt einen Zusammenhang zwischen der Inflation und dem Wechselkurssystem bzw. dem Schwarzmarkt: „The black market for the dollar is especially destructive because it is part of an inflation-depreciation spiral that has been growing since the fall of 2012. When the price of a dollar on the black market rises, importers must pay more for the dollars that they need, and this increases inflation. But then the higher inflation encourages more people to buy dollars on the black market, as a store of value. This pushes up the black market dollar price, which increases inflation, in a continuing spiral.“
 
126
Grundsätzlich hätten dazu massive Investitionen in die nicht rohstoffbasierten Wirtschaftszweige getätigt werden müssen, um eine Steigerung der Produktivität Letzterer erzielen zu können. Eine stärker investive Verwendung der Renteneinnahmen hätte jedoch die Verteilungsspielräume der Regierung verringert und angesichts des rentengesellschaftlichen Charakters der venezolanischen Bevölkerung vermutlich zu einer sinkenden Zufriedenheit geführt. Eine Bearbeitung der wirtschaftlichen Probleme hätte auch über währungspolitische Schritte erfolgen können. Um die Überbewertung der Währung zu bekämpfen, hätte beispielsweise eine Abwertung erfolgen können. Die (Aufrechterhaltung der) Überbewertung der Währung war jedoch zum Teil der Regierung selbst geschuldet. Denn sie verband damit die Zielsetzung, die Inflation einzudämmen und Importe (Kapital- und Konsumgüter) billig zu halten (Peters 2019: 139). Eine Abwertung wäre daher mit hohen politischen Kosten – konkret: rückläufigen (öffentlichen) Einnahmen, einer potentiell importierten Inflation und negativen Verteilungseffekten (verteuerte Importe, sinkender Lebensstandard) – verbunden gewesen. Letzteres zeigte sich z. B. 2010, als sich die Regierung genötigt sah, eine solche Abwertung vorzunehmen. Um die negativen Verteilungseffekte abzumildern, führte die Regierung Preiskontrollen ein (Boeckh 2011a: 419). Diese Kontrollen schufen jedoch wiederum neue Probleme, nämlich Güterknappheit, Schmuggel und Arbitragegeschäfte etc. Ferner bewirkte die Abwertung einen (erneuten) Anstieg der Inflation und darüber eine (erneute) reale Aufwertung (Lampa 2016: 13) und Überbewertung. Auch eine Veränderung des Wechselkurssystems – weg von einem festen und hin zu einem freien Wechselkurs – wäre problematisch gewesen, denn die Logik der holländischen Krankheit entfaltet auch im Kontext freier Wechselkurse ihre destruktive Wirkung.
 
127
Die anhaltende Wirtschaftskrise zeigt sich nicht an allen sozioökonomischen Indikatoren. So konnte die Arbeitslosenquote z. B. auf einem moderaten Stand gehalten werden, zwischen 2013 (7,8 %) und 2016 (7,3 %) blieb sie auf fast demselben Wert (CEPAL 2018b). Eine Verbesserung konnte bei der Ungleichheit gemessen am GINI-Koeffizient erzielt werden, zwischen 2013 (0,409) und 2015 (0,381) sank dieser Wert. Auch der Mindestlohn stieg in dieser Phase nominell rasant, nämlich von 3.880 Bolivares (2013) auf 232.531 Bolivares (2017). Jedoch frisst die parallel verlaufende, vollkommen unkontrollierbare Inflation den Anstieg des Mindestlohns sofort wieder auf (Prosprev 2017; Sutherland 2018: 150–151). Aktuelle und verlässliche Zahlen zu Armutsentwicklung, die stark gestiegen sein dürfte, liegen zurzeit nicht vor.
 
128
Der Begriff „Paradigma“ – geprägt von Thomas Kuhn – wurde von Peter Hall aus der Wissenschaftstheorie in den Bereich der (praktischen) Politik überführt (Bandelow 2009: 329–330; Hall 1993). Der Autor dieser Arbeit knüpft an diese Verwendung des Paradigmenbegriffs an und bezeichnet den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Venezuela ebenfalls als (eigenes) Paradigma (ähnlich: Burchardt 2011: 430). Denn nach Ansicht des Autors erfüllt der venezolanische Fall Peter Halls entscheidendes Charakteristikum für einen Paradigmenwechsel, nämlich die Änderung von Zielhierarchien.
 
Metadaten
Titel
Venezuela unter dem Chavismus, der Bolivarischen Revolution und dem Sozialismus des 21. Jahrhunderts
verfasst von
Raphael M. Peresson
Copyright-Jahr
2021
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-33055-2_3