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2004 | OriginalPaper | Buchkapitel

Verfassung und Nation in der Bundesrepublik

verfasst von : Daniel Schulz

Erschienen in: Verfassung und Nation

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Während sich in der Gründung der V. Republik in Frankreich die Tradition der republikanischen Staatsnation fortschreibt, steht die Bundesrepublik Deutschland in einem gänzlich verschiedenen Entstehungskontext. Vor dem Hintergrund von Nationalsozialismus und Holocaust sowie der Besetzung des Landes durch die alliierten Siegermächte 1945 war eine Gründung als direkte Fortschreibung eigener Traditionen nicht möglich. Eine Gründung konnte demnach nur dann Erfolg versprechen, wenn sie als ein Neuanfang verstanden werden konnte. Aber gleichzeitig gilt für die Gründung der Bundesrepublik, dass sie dennoch Anschluss an die eigene Tradition suchte, was unter den spezifischen Gründungsbedingungen der „Entwertung der Tradition“ eben nur selektiv möglich sein konnte. Die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik ist daher geprägt von der doppelten Selbstbeschreibung als Neugründung und als Erneuerung der „besseren“ Traditionen der deutschen Geschichte. Für beides bot sich die Verfassung als Medium der Zuschreibung an. Das Grundgesetz der Bundesrepublik konnte aufgrund der konstitutionellen Semantik des Neuanfangs nach und nach die Rolle eines Gründungsdokuments erfüllen. Gleichzeitig war es jedoch unter den Bedingungen der deutschen Teilung nicht mehr möglich, Kontinuität durch die Nation sicherzustellen, die aufgrund der Verbrechen des Nationalsozialismus ohnehin als legitime Selbstbeschreibung entwertet war. Diese Leerstelle konnte die Verfassung füllen, die in der Fortschreibung des Konstitutionalismus die Anfänge der Freiheits- und Demokratiebewegung in Deutschland zur Geltung bringen sollte, um sie nach dem Scheitern von Vormärz, 1848 und 1918 unter den Bedingungen der Besatzung erfolgreich zu institutionalisieren. Das Grundgesetz war somit ein Mittel, die Bundesrepublik in den Geltungskontext der westlichen Demokratien einzuschreiben und sie auf diese Weise geläutert von der eigenen Vergangenheit nicht mehr als partikulare Nation, sondern als demokratischen Verfassungsstaat auf der Grundlage von Menschenrechten zu konstituieren. Mit der Verfassung konnte so in der Bundesrepublik die durch den Nationalsozialismus und die anschließende deutsche Teilung als Identitätsgarant ausgefallene Nation erfolgreich substituiert werden, ohne dass es sich dabei lediglich um ein Surrogat, einen „Ersatz“ gehandelt hätte. Anders als in Frankreich der Conseil Constitutionnel konnte das Bundesverfassungsgericht in der Bundesrepublik unmittelbar an die in der deutschen Tradition verankerte Rechtsgläubigkeit anknüpfen und sich so als Stimme des Grundgesetzes etablieren, die die Inhalte der Verfassung im Streit der Parteien zur Geltung bringt. Die Verfassung wurde so spätestens in den 1980er Jahren zu einer von der breiten politischen Mehrheit, von links und von rechts akzeptierten Grundordnung, in deren Rahmen politische Konflikte ausgetragen werden konnten, ohne dass die Grundordnung selber zur Disposition gestanden hätte.

Metadaten
Titel
Verfassung und Nation in der Bundesrepublik
verfasst von
Daniel Schulz
Copyright-Jahr
2004
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-80639-0_9