Skip to main content

2008 | Buch

Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien

Motivlagen und Aushandlungsmuster

verfasst von: Astrid Lorenz

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

insite
SUCHEN

Über dieses Buch

Verfassungen sind Macht-Ordnungen. Sie befugen und bändigen, verleihen Rechte und setzen Grenzen – den Bürgern ebenso wie dem Staat. Ihre Kombination mit dem demok- tischen Prinzip regelmäßiger Wahlen gilt als intelligenteste Methode, das menschliche Zusammenleben zum Vorteil aller langfristig zu organisieren und heterogene Interessen in einer Gemeinschaft zu integrieren. So einleuchtend die Relevanz von Verfassungen, so wenig wissen wir doch über ihr Schicksal nach der Verabschiedung. Die Politikwiss- schaft fiel offensichtlich auf ihre eigenen Deutungen herein: Es war ja sie selbst, die seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts nach überstandenen Weltkriegen und der Anomie des Neuanfangs die Systeme des Westens als besonders fest gefügt bewertete und im Eindruck der Blockkonfrontation den hohen Respekt vor den Verfassungen als wesensbestimmend für die Demokratie. Als die Akteure längst flügge geworden waren und die Verfassungen bereits viel häufiger änderten, als angenommen, banden dann der weltumspannende for- le „Triumph des Konstitutionalismus“ (Kay 2001: 16; Herrmann/Schaal/Vorländer 2003) und die Debatte um eine europäische Verfassung die Aufmerksamkeit und lenkten von klassisch-nationalen Verfassungsentwicklungen ab. Solche klassisch-nationalen Verfassungsänderungen können als größere Reformen - fentliche Aufmerksamkeit erregen, wie die deutsche Föderalismusreform im Jahr 2006. Sie können sich sogar in der Einführung einer neuen Verfassung manifestieren, sofern diese die Identität bzw. Legitimationsgrundlage des politischen Systems nicht völlig abschafft (denn dann wäre von einer Revolution zu sprechen). Sie können aber auch marginal erscheinen und trotzdem als „steter Tropfen den Stein höhlen“, also in ihrer Summe unbemerkt Inhalt und Funktionsweise einer Verfassung erheblich verändern.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Einleitung
Auszug
Verfassungen sind Macht-Ordnungen. Sie befugen und bändigen, verleihen Rechte und setzen Grenzen — den Bürgern ebenso wie dem Staat. Ihre Kombination mit dem demokratischen Prinzip regelmäßiger Wahlen gilt als intelligenteste Methode, das menschliche Zusammenleben zum Vorteil aller langfristig zu organisieren und heterogene Interessen in einer Gemeinschaft zu integrieren. So einleuchtend die Relevanz von Verfassungen, so wenig wissen wir doch über ihr Schicksal nach der Verabschiedung. Die Politikwissenschaft fiel offensichtlich auf ihre eigenen Deutungen herein: Es war ja sie selbst, die seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts nach überstandenen Weltkriegen und der Anomie des Neuanfangs die Systeme des Westens als besonders fest gefügt bewertete und im Eindruck der Blockkonfrontation den hohen Respekt vor den Verfassungen als wesensbestimmend für die Demokratie. Als die Akteure längst flügge geworden waren und die Verfassungen bereits viel häufiger änderten, als angenommen, banden dann der weltumspannende formale „Triumph des Konstitutionalismus“ (Kay 2001: 16; Herrmann/Schaal/Vorländer 2003) und die Debatte um eine europäische Verfassung die Aufmerksamkeit und lenkten von klassisch-nationalen Verfassungsentwicklungen ab.
1. Verfassungsänderungen — ein erster Zugang
Auszug
Dieses Kapitel bereitet die Hauptanalyse des Buches vor, indem es deren spezifischen Zugang zur Problematik begründet: Es umreißt zunächst aus politikwissenschaftlicher Sicht Sinn und Funktionen von Verfassungen, ihr normativ-konzeptionelles Verhältnis zur Demokratie, den Wandel der inhaltlichen Ansprüche an Verfassungen und Verfassungspolitik sowie den Begriff der Verfassungsänderung. Es gibt dann einen Überblick über die Häufigkeit, inhaltliche Reichweite, thematische Ausrichtung, regionale und temporale Verteilung von Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien. Beide Abschnitte unterstreichen die Relevanz der Forschung zur Verfassungsänderungspolitik. Der nachfolgende Teil systematisiert die Ansätze zur Erklärung von Verfassungsänderungen und bewertet ihren Nutzwert hinsichtlich der die Studie anleitenden Kerninteressen.
2. Akteure und Interaktionen — Erklälungsansatz und Fallauswahl
Auszug
Dieses Kapitel stellt den Untersuchungsansatz genauer vor. Der erste Abschnitt erläutert die Grundannahmen, die auf eine Erweiterung des rationalistischen Ansatzes ausgerichtet sind. Der zweite begründet die Wahl einer teilinduktiven, prozessorientierten Vorgehensweise sowie der Konkordanzmethode und formuliert Analysekriterien. Der dritte Abschnitt prüft mithilfe quantitativer Verfahren theoretisch abgeleitete Hypothesen zum Einfluss (für die Erklärung nicht herangezoger) institutioneller und Kontextvariablen auf die Überwindung der Änderungsschwelle von Verfassungen, um das Risiko einer verzerrten Fallauswahl zu senken. Im vierten Abschnitt werden dann auf Basis der Befunde jene Beispiele für Verfassungsänderungen ausgewählt, die später einem Vergleich unterzogen werden sollen.
3. Der Start der individualistischen Phase: Dominanz „normalpolitischer“ Eigeninteressen und Änderungsminimalismus in komplexen Strukturen
Auszug
Dieses Kapitel erläutert, wie es in den vier Untersuchungsfällen zur Verdichtung von Aktivitäten kam, die später in Verfassungsänderungen mündeten. Es verknüpft diese Darstellung gezielt mit einer Skizze der Problemhorizonte dieser Politik und der in Aussicht stehenden Wege zur Verfassungsänderung, denn beide bilden wichtige Parameter einer rationalen Entscheidungsfindung. Vermittelt wird so ein Eindruck von der ursprünglichen Handlungssituation der initiierenden und der später hinzutretenden Akteure, die in zwei von vier Fällen deutlich vor der formalen Initiierung des Verfassungsänderungsverfahrens lag.
4. Die Fortsetzung der individualistischen Phase: Abwehr, Positionsformierung und Bemühung des Initiators um Kooperationsbereitschaft des (nächst-)wichtigsten Akteurs
Auszug
Dieses Kapitel zeigt auf, wie die Mitspieler auf die verfassungspolitischen Initiativen reagierten, wie sie sich inhaltlich positionierten und wie es den Initiatoren gelang, trotz der unübersichtlichen mehrdimensionalen Konfliktpotenziale, uneindeutiger Kosten-Nutzen-Bewertungen sowie der Einbeziehung oder Betroffenheit unterschiedlicher Akteure und Handlungsebenen Aushandlungsprozesse in Gang zu setzen.
5. Die kooperative Phase: Veränderte Entscheidungsperzeption, soziales Handeln und Selbstläuferprozesse
Auszug
Dieses Kapitel zeichnet eine auf den ersten Blick verblüffende Entwicklung nach: In allen untersuchten Fällen kontrastierten die Interaktionsorientierung und Entscheidungsperzeption der Akteure deutlich mit der vorangegangenen Aushandlungsphase. Es wird beschrieben und erklärt, wie es trotz der unaufgelösten Konflikte, der teils hohen Zahl involvierter und betroffener Akteure auf unterschiedlichen Handlungsebenen und uneindeutiger Kosten-Nutzen-Bewertungen dazu kam, dass die Mitspieler sich den Initiatoren annäherten und mit diesen auf Entscheidungsvorlagen verständigten.
6. Die kompetitive Phase: „Fehlerkorrektur“ durch die Kollektivakteure, Kontextsensitivität und Verschiebung von substanziellen zu nichtsubstanziellen Nutzenkalkülen
Auszug
Dieses Kapitel erläutert, wie sich die nun kompetitive Interaktionsorientierung der Akteure äußerte und zu welchen verfassungspolitischen Effekten sie führte. Es beobachtet dabei, inwieweit suboptimale Ertragsaussichten thematisiert und verbessert wurden und ob der Abschluss der Aushandlungen durch das Wettbewerbsverhalten gefährdet war.
7. Verfassungsänderungen als Ergebnisse rational-sozialen Handelns — Erkenntnisse, Modell und Test
Auszug
Dieses Kapitel resümiert zunächst, welche Akteure wann, wie und wie stark in die Aushandlungsprozesse involviert waren. Im zweiten Abschnitt werden wesentliche Befunde der Hauptanalyse mit Blick auf die Frage nach der Rationalität verfassungspolitischen Handelns wiedergegeben. Danach wird das entwickelte Phasenmodell vorgestellt, das auf den Befunden zur Rationalität des Handelns aufbaut und ohne sie nicht verständlich wäre. Im vierten Abschnitt werden die mit ihm verbundenen Annahmen anhand nicht verabschiedeter Verfassungsänderungen gegengeprüft. Dieser Test komplettiert die Hauptuntersuchung methodisch. Der fünfte Abschnitt diskutiert, ob die beobachtete Verfassungsänderungspolitik dem Idealtypus „normaler Politik“ oder demokratischer Verfassungspolitik entspricht.
8. Resümee und Ausblick
Auszug
Der Begriff „Verfassungsdemokratie“ könne entweder als Tautologie oder als Oxymoron interpretiert werden, schrieb Richard Bellamy vor einiger Zeit (2006: xi). Er hat recht: Für die Tautologie spricht, dass Konstitutionalismus und Demokratie nach weit verbreiteter Ansicht nur gemeinsam verwirklicht werden können, weshalb sich beide Konzepte heute so deutlich überlappen. Auf ein Oxymoron deutet, dass sich ihre latente Rivalität trotzdem nie ganz aufheben lässt (Rosenfeld 2001: 1308; Murphy 1993, 1995: 173, 187; Gerstenberg 1997; Kapitel 1.1). Gerade daran, wie Akteure mit den Verfassungen umgehen, sie konservieren oder abändern, lassen sich Interdependenz und Spannung zwischen beiden Konzepten gut beobachten, und so ist es nur als erfreulich zu bezeichnen, dass die Verfassungsänderungspolitik in etablierten Demokratien in den letzten Jahren eine merklich höhere Aufmerksamkeit von Seiten der Politikwissenschaft erlangte. Sie ist notwendig, um die noch erheblichen Lücken in der systematischen Erfassung und Interpretation konstitutionellen Wandels zu schließen.
Backmatter
Metadaten
Titel
Verfassungsänderungen in etablierten Demokratien
verfasst von
Astrid Lorenz
Copyright-Jahr
2008
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-91193-9
Print ISBN
978-3-531-15667-5
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-91193-9