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2017 | OriginalPaper | Buchkapitel

5. Vergessen in konfliktreichen Schnittbereichen kollektiven Erinnerns am Beispiel mittelalterlichen Weistums

verfasst von : Monika Pritzel, Hans J. Markowitsch

Erschienen in: Warum wir vergessen

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Zusammenfassung

Am Beispiel des Weistums, das man sich als mündlich tradierte Weitergabe eines sehr komplexen, verschiedene Widersprüche in sich tragenden Überlieferungsgeschehens vorstellen kann, soll Vergessen als eine Vermischung von Individual- und Kollektivgedächtnis hinsichtlich des öffentlich Akzeptierten einerseits und des persönlich Erlebten andererseits dargestellt werden. Denn jedem Weisungsritual wohnt eine Fülle von gedächtnisverfälschenden und unterdrückenden Komponenten inne, die, beabsichtigt oder nicht, eine mögliche Rekonstruktion der Realität erschweren: Es wird gedroht und verschwiegen, Erinnerung werden erzwungen, Vergessen „verboten“ und nicht zuletzt die physikalisch messbare Zeit zwischen Gegenwart und einem Ereignis in der Vergangenheit nach Belieben gestreckt oder gestaucht. Die daraus resultierenden von einer Generation zur nächsten weitergegebenen Inhalte spiegeln einen komplexen sozialen, politischen und rechtlichen Prozess wider, der unterschiedliche Spielarten des Vergessens zum Ausdruck bringt.

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Fußnoten
1
Auf diesen Sachverhalt weist u. a. Wenzel (1995, S. 30 ff.) hin. Dass bei illiteraten Menschen die Achtung vor dem geschriebenen Wort gleichwohl sehr hoch war, zeigt u. a. Algazi (1995). Folgt man seinen Ausführungen, so versuchten z. B. Aufständische 1534 den Abt von Volkenrode zur Selbsterkennung zu veranlassen, indem sie ihn zwangen, ihre aufrührerische Lehre selbst vorzulesen, weil sie annahmen, „wann der abt sie vorlise, vielleicht mocht er sich erkennen“ (Algazi 1995, S. 400).
 
2
Schöffen waren in diesem Fall aus dem Kreis der unfreien Bauern stammende Personen, die über eine hohe Lebenserfahrung und genügend Ansehen verfügten.
 
3
Allgemeines Kennzeichen unfreier Menschen des Mittelalters, z. B. zu Frondiensten verpflichteten Bauern, war, dass sie keine Freizügigkeit besaßen. Sie mussten z. B. auf den Besitzungen des jeweiligen Grundherrn wohnen bleiben und konnten nach Erlaubnis des Grundherrn nur innerhalb des Hofverbands eine Ehe eingehen.
 
4
Dessen ungeachtet konnten vermeintliche oder tatsächliche Ungerechtigkeiten gleichwohl in einem der für das Mittelalter nicht ungewöhnlichen Aufstände münden; dieser Aspekt mittelalterlicher Auseinandersetzungen wird hier jedoch nicht weiter thematisiert.
 
5
Beispielsweise im Hinblick auf Dienste, die zwei- oder einmal pro Woche erbracht werden mussten oder nur im Herbst oder/und im Frühling fällig waren etc.
 
6
So z. B. Transportdienste durch eigene Fahrzeuge sowie gewerbliche Tätigkeit, wie etwa Bier- und Brotzubereitung, und landwirtschaftliche Tätigkeit, wie etwa Arbeiten in Haus und Garten.
 
7
Letzteres geschah z. B. in Form von Stückzins für überlassene Grundstücke.
 
8
Dazu gehörte z. B. die Einhaltung einer bestimmten tradierten Art und Weise, in der Weisungen zu übermitteln waren (Krämer und Spieß 1986, S. 274; Algazi 1996, S. 59).
 
9
Die dazu notwendige aktive Umwidmung vermochte aber, wie weiter unten noch zur Sprache kommen wird, der Grundherr sehr wohl vorzunehmen.
 
10
Gemeint ist die Vogtei des Klosters, die zur zwischen Rhein, Nahe und Mosel gelegenen Grafschaft Sponheim, auch Spanheim genannt, gehörte. Im Zusammenhang mit dem Kloster wurde 1224 der Ort Sponheim zum ersten Mal urkundlich erwähnt.
 
11
Im Bezirk des Amtes Cochem z. B. wurden als Entschuldigungsgrund für Nichterscheinen lediglich Krankheit und Wallfahrt akzeptiert (Krämer und Spieß 1986, S. 12).
 
12
Das Verb „erklären“ wurde hierbei in etwa der Weise verwendet, wie wir es heute gebrauchen, wenn davon die Rede ist, dass ein Volk einem anderen „den Krieg erklärt“. Man nimmt damit ebenfalls auf ein sehr komplexes Geschehen Bezug.
 
13
Die dazu einberufenen Versammlungen hatten rituellen Charakter. Die erklärungspflichtigen Bauern, d. h. die rechtschaffenden Personen (Schöffen), nahmen in einem öffentlichen, für alle beteiligten Gehöfer zugänglichen Raum eine bestimmte traditionelle Aufstellung ein, aus der auch abzuleiten war, wer, wenn überhaupt, sprechen durfte (Krämer und Spieß 1986, S. 7).
 
14
Heute ist dies z. B. vor Gericht der Fall, wenn etwa der Einwurf einer nicht redeberechtigten Person in der juristischen Argumentationsführung als nicht erfolgt gewertet wird.
 
15
Man kann sich das mittelalterliche Gesellschafts- bzw. Weltbild in etwa so ähnlich konstant vorstellen, wie wir noch heute die Nachbarschaft von Sternen unseres nächtlichen Himmels als konstant ansehen, obwohl wir wissen, dass sich das Universum laufend ausdehnt, ihre Entfernung voneinander sich also beständig ändert. In beiden Fällen ist für den Einzelnen die Beobachtungszeit jedoch zu kurz, um die Dynamik des Netzwerkes und die daraus entstehenden Folgen erkennen zu können.
 
16
Heute würde man Selbstvergessenheit vermutlich eher als aufmerksame, aber weltabgewandte Vertiefung in eine bestimmte Angelegenheit, nicht aber als Vergessen bezeichnen. Eine gewisse Ausblendung des eigenen Ich wurde z. B. von Goldberg und Kollegen (2006) im Gehirn festzumachen versucht.
 
17
Algazi (1995) gibt dafür als Beispiel an, dass der Graf von Sponheim in einer Weisung von 1422 von den Schöffen verlangte, als Regelwidrigkeit anzuerkennen, dass seine gräflichen Rechte in einer bestimmten Angelegenheit missachtet worden waren. Die Juroren schworen das zwar, es blieb aber auch der Inhalt der Weisung vor diesem Bestehen auf Anerkennung einer Regelwidrigkeit im Gedächtnis der Bauern. Die „richtige“, weil durch Schwur erzwungene Weisung und die Fassung, die von „Vätern und Vorvätern“ bekannt war, existierten fortan nebeneinander her.
 
18
Dem dadurch zum Ausdruck kommenden Drang nach Durchsetzung eigener Interessen seitens der Herrschaft waren u. a. dadurch Grenzen gesetzt, dass Bauern, die sich ungerecht behandelt fühlten, ggf. das Hofgut verlassen konnten, wodurch das Funktionieren des Wirtschaftsverbands infrage gestellt worden wäre. Dadurch waren auch einem „verordneten Vergessen“ bestimmte Grenzen gesetzt.
 
19
Zur feierlichen Proklamation des Versammlungsfriedens für die Zeit der Weisung gehörte z. B. auch das Wissen darüber, dass auch den grundherrlichen Machtbefugnissen bestimmte Grenzen – hier der Frieden – aufgezeigt waren.
 
20
An manchen Orten wurde z. B. ein verspätetes Erscheinen auf diesen Versammlungen mit einer Strafgebühr bedacht, die in Wein zu entrichten und sofort zu genießen war. Auch war, da die Anwesenden in Alkohol umzurechnende Vorteile davon hatten, damit zu rechnen, dass fehlende Mitglieder denunziert wurden, um die fällige Strafgebühr bereits im Vorhinein konsumieren zu können.
 
21
Man bezeichnet dies als stimulus-bound behaviors, womit nicht gesagt ist, dass generell eine wein- oder bierselige Erinnerung die verdeckte Bedrohung durch das Herrschaftsgefüge verschleierte.
 
22
Im öffentlichen Raum war es gleichwohl wichtig, ehemals mündliche Weisungen zu einem bestimmten Zeitpunkt im Rahmen eines Weistums zu verschriftlichten. Sie zeugten von da an von einem bestimmten Herrschaftsanspruch, der unter Umständen auch als Beweismittel vor Gericht verwendet, verändert bzw. korrigiert und erweitert werden konnte (Krämer und Spieß 1986, S. 18).
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Vergessen in konfliktreichen Schnittbereichen kollektiven Erinnerns am Beispiel mittelalterlichen Weistums
verfasst von
Monika Pritzel
Hans J. Markowitsch
Copyright-Jahr
2017
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54137-1_5