Zum Inhalt

13.06.2022 | Verkehrspolitik | Kommentar | Online-Artikel

Pro: Scheuklappen ab, Autoindustrie!

verfasst von: Thomas Siebel

3:30 Min. Lesedauer

Aktivieren Sie unsere intelligente Suche, um passende Fachinhalte oder Patente zu finden.

search-config
print
DRUCKEN
insite
SUCHEN
loading …

««« Gelangen Sie hier zurück zu den beiden Pro-Contra-Kommentaren zum Thema 

Das EU-Parlament hat sich gegen die Nutzung von synthetischen Kraftstoffen in Pkw und Lieferwagen ausgesprochen. Das erschwert den Weg hin zur klimaneutralen Pkw-Mobilität. Trotzdem ist die Entscheidung richtig.

Dipl.-Ing. Thomas Siebel


Neue Pkw und leichte Nutzfahrzeuge dürfen ab 2035 keine Treibhausgase mehr ausstoßen. So will es die Mehrheit des EU-Parlaments, und es präzisiert: Auch synthetische Kraftstoffe bleiben diesen Fahrzeugklassen verwehrt. Damit stirbt der Verbrennungsmotor im Pkw ab Mitte des nächsten Jahrzehnts aus.

Während sich die deutsche Automobilindustrie nach Jahren des Widerstands mittlerweile auf den batterieelektrischen Antrieb eingelassen hat und beträchtliche Investitionen tätigt, laufen Interessensverbände wie der VDA oder der ADAC gegen die Entscheidung contra E-Fuels Sturm. Damit tun sie das, was man von Verbänden erwartet: Sie setzen sich für ihre Mitglieder, ihre Industrie ein. Autofahrer wollen nicht als Umweltsünder stigmatisiert werden, Mitgliedsunternehmen wollen möglichst lange am Verbrennungsmotor verdienen und der Industrie muss es gelingen, die Verkehrsemissionen innerhalb dieser Dekade um 40 % zu senken. Zur Erinnerung: Zwischen 1995 und 2019 sind die absoluten Emissionen im Pkw-Verkehr um 5 % gestiegen.

Geschickt oder unsolidarisch – oder beides?

Da wäre der Weg über klimaneutrale synthetische Kraftstoffe nur folgerichtig. Hergestellt werden sie aus Wasserstoff, der bekanntlich baldmöglichst in großen Mengen mithilfe von erneuerbaren Energien erzeugt werden soll, und Kohlenstoff, der beispielsweise aus unvermeidbaren Industrieemissionen gewonnen werden könnte. Synthetische Kraftstoffe wären ein wirksamer Hebel, um auch den im Jahr 2035 noch großen Bestand an Verbrennern weniger umweltschädlich zu machen. Diese Argumentation ist schlüssig, sie ist richtig – und sie ist geschickt! Denn bei genauerem Hinsehen entlarvt sie, was die Interessensvertretung dieser wichtigsten Industrie in Deutschland tatsächlich ist: unsolidarisch.

Dass für den Wandel hin zur klimaneutralen Wirtschaft innerhalb kürzester Zeit gewaltige Mengen an Wasserstoff gebraucht werden, weiß man selbstverständlich auch in der Automobilindustrie. Ebenso, dass die Nachfrage nach grünem Wasserstoff das Angebot über Jahre übersteigen dürfte.

Vorrang für Stahl und Schwerlastverkehr

Priorität hat deswegen der Einsatz von Wasserstoff und seinen Syntheseprodukten im Flug- und Schiffsverkehr, im Lkw-Schwerlastverkehr, in der Stahl- und in der chemischen Grundstoffindustrie. Warum? Weil diese treibhausgasintensiven Sektoren keine Alternative auf dem Weg zur Klimaneutralität haben. Die Stahlindustrie, die ein Drittel der Industrie-Treibhausgase in Deutschland verursacht, rechnet damit, dass 1 t eingesetzter Wasserstoff bis zu 28 t CO2-Ausstoß vermeidet. Und sie stellt sich darauf ein, dass sie ihre neuen Anlagen ab 2030 zunächst teilweise mit Erdgas wird betreiben müssen, da zu wenig grüner Wasserstoff verfügbar sein wird.

Der Ausbau der Wasserstoffproduktion stellt die Industrie vor die größte Herausforderung. Allein in Deutschland brauchen wir bis 2030 eine Erzeugerkapazität von 5 GW, dazu Importe aus dem Ausland. Die stärksten Elektrolyseure haben heute aber Kapazitäten von gerade einmal 24 MW. Aus einer Branche von Manufakturbetrieben muss innerhalb kürzester Zeit eine Gigawattindustrie erwachsen. Welchen Anspruch hat hier eine Automobilindustrie, die über einen batterieelektrischen Antrieb verfügt, der Wind- und Sonnenenergie fünf Mal effizienter in Fahrleistung umsetzt als ein E-Fuel-Verbrenner?

Ohne Umwege zum E-Antrieb

Spinnen wir einmal weiter, was passieren würde, wenn sich das EU-Parlament nicht gegen synthetische Kraftstoffe für Pkw und Lieferwagen ausgesprochen hätte. Der Druck auf die Hersteller bei der Umstellung auf E-Antriebe würde sinken, die Menge an Verbrennungsmotoren im Straßenverkehr bliebe im Jahr 2035 entsprechend hoch, aber: Die absoluten Pkw-Emissionen wären gegenüber heute möglicherweise deutlich geringer. Ein Erfolg für die Automobilindustrie wäre das. Ein teuer erkaufter Erfolg, denn gleichzeitig müssten die Stahlerzeugung oder die Luftfahrt länger fossile Brennstoffe einsetzen, während E-Fuel-Verbrenner kostbare erneuerbare Energie mit einem Gesamtwirkungsgrad von 13 % verfeuern.

Der Automobilindustrie bleibt nichts Anderes übrig, als den steinigen Pfad zu gehen. Sie muss ihre Scheuklappen ablegen und ihre Argumente für einen klimaneutralen Pkw-Verkehr in eine gesamtwirtschaftliche Betrachtung einbetten. Dann bliebe ihr nur ein einziger Schluss: Schnellstmöglich die Pkw-Produktion auf E-Antriebe umstellen.

««« Gelangen Sie hier zurück zu den beiden Pro-Contra-Kommentaren zum Thema 

print
DRUCKEN

Weiterführende Themen