10.1 Einführung
Die Vereinbarung der abstrakten Verweisung (vgl. auch den Abschnitt „Entwicklung des Bedingungswerks und der Rechtsprechung“) ist in § 172 (3) VVG ausdrücklich zugelassen.„Berufsunfähig ist, wer seinen zuletzt ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, infolge Krankheit, Körperverletzung oder mehr als altersentsprechendem Kräfteverfall ganz oder teilweise voraussichtlich auf Dauer nicht mehr ausüben kann.“
10.2 Vergleich der Tafeln DAV 1997 I und DAV 2021 I
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Aktivensterblichkeit: Wahrscheinlichkeit eines Aktiven des Alters x + m (der im Alter x versichert wurde) im folgenden Jahr als Aktiver zu sterben.
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Invalidisierungswahrscheinlichkeit: Wahrscheinlichkeit eines Aktiven des Alters x + m (der im Alter x versichert wurde) im folgenden Jahr berufsunfähig zu werden.
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Invalidensterblichkeit: Wahrscheinlichkeit eines Berufsunfähigen des Alters x + m (der im Alter x berufsunfähig wurde) im folgenden Jahr als Invalider zu sterben.
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Reaktivierungswahrscheinlichkeit: Wahrscheinlichkeit eines Berufsunfähigen des Alters x + m (der im Alter x berufsunfähig wurde) im folgenden Jahr reaktiviert zu werden.
10.2.1 Sterbewahrscheinlichkeiten
10.2.1.1 Aktivensterblichkeit
10.2.1.2 Invalidensterblichkeit
10.2.2 Reaktivierungswahrscheinlichkeiten
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Im 1. und 2. Jahr der Berufsunfähigkeit ist die rohe, unmittelbar aus den vorliegenden Daten abgeleitete Reaktivierungswahrscheinlichkeit über alle Alter hinweg gestiegen.
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Ab dem 3. Invaliditätsjahr ändert sich das Bild. Dann stellt man einen Rückgang der Reaktivierungswahrscheinlichkeiten in den jüngeren Altersgruppen fest (etwa bis zum Alter 40), in den höheren Altersgruppen gleichen sich die Wahrscheinlichkeiten in etwa an. Diese Entwicklung ist für Männer und Frauen gleichermaßen zu beobachten.
10.2.3 Berufsunfähigkeitsinzidenzen
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der medizinische Fortschritt,
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die Veränderung der Berufsstruktur in den Beobachtungsbeständen und
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die positive wirtschaftliche Lage im Beobachtungszeitraum 2011–2015
10.3 Schlussfolgerungen für das versicherungstechnische Risiko
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Schwankungsrisiko (Zufallsrisiko): Das Schwankungsrisiko beschreibt das Risiko, dass aufgrund zufälliger Schwankungen im Schadenverlauf das Ziel verfehlt wird, die Auszahlungen für Versicherungsleistungen aus den eingehenden Prämien und den gebildeten Vermögenswerten finanzieren zu können (technischer Ruin). In der vorliegenden konkreten Situation sollen Zuschläge oder Abschläge für das Schwankungsrisiko die Zufallsschwankungen bei den Ausscheidehäufigkeiten auffangen sowie zufällige Streuungen beispielsweise zwischen verschiedenen Unternehmensgrößen und Tarifen (vgl. DAV 2021, S. 80 ff.).
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Irrtumsrisiko (Prognoserisiko): Das Irrtumsrisiko wird hier dahin gehend verstanden, dass die ermittelten Rechnungsgrundlagen nicht ausreichend vorsichtig sind aufgrund von Lücken im Datenmaterial, einer ungeeigneten Auswahl der Daten oder von Fehlern bei der Auswertung des Materials (vgl. DAV 2021, S. 81).
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Änderungsrisiko: Aufgrund von unvorhergesehenen Änderungen in den schadenbestimmenden Gesetzmäßigkeiten kann eine Fehleinschätzung der Zufallsgesetzmäßigkeit der Versicherungsleistungen erfolgen, was zu einem Ansatz falscher Kalkulationsgrundlagen führt. Die Folge ist wieder eine falsche Abschätzung der Wahrscheinlichkeit eines technischen Ruins (vgl. Albrecht 2017).
10.3.1 Schwankungs- und Irrtumsrisiko
10.3.1.1 Schwankungsrisiko
Zuschlag/Abschlag für das Schwankungsrisiko | DAV 1997 I | DAV 2021 I |
---|---|---|
BU- Inzidenzen (Zuschlag) | + 7,6 % für Männer, + 11,3 % für Frauen | + 6,3 % |
Aktivensterblichkeit (Abschlag) | wie bei der Tafel DAV 1994 T; additiv und altersabhängig | − 15,2 % |
Invalidensterblichkeit (Abschlag) | − 22 % für Männer, − 26 % für Frauen | − 24,3 % |
Reaktivierung (Abschlag) | − 21 % für Männer, − 17 % für Frauen | − 13,7 % |
10.3.1.2 Irrtumsrisiko
10.3.2 Änderungsrisiko
10.3.2.1 Medizinische Entwicklungen
Ursachen für den Eintritt der Berufsunfähigkeit (Diagnosehauptgruppen) | 1995 Männer (Angaben in %) | 2019 Männer (Angaben in %) |
---|---|---|
Skelett/Muskeln/Bindegewebe | 28,4 | 12,2 |
Herz-/Kreislauferkrankungen | 21,9 | 13,2 |
Stoffwechsel/Verdauung | 5,5 | 4,1 |
Neubildungen (Krebs) | 9,5 | 14,0 |
Psychische Störungen | 15,3 | 35,3 |
Atmung | 4,1 | 4,1 |
Nerven/Sinne | 5,7 | 7,3 |
Haut | 0,3 | 0,3 |
Sonstige/keine Zuordnung möglich | 9,3 | 9,6 |
Ursachen für den Eintritt der Berufsunfähigkeit (Diagnosehauptgruppen) | 1995 Frauen (Angaben in %) | 2019 Frauen (Angaben in %) |
---|---|---|
Skelett/Muskeln/Bindegewebe | 29,7 | 12,8 |
Herz-/Kreislauferkrankungen | 12,0 | 5,7 |
Stoffwechsel/Verdauung | 4,8 | 2,7 |
Neubildungen (Krebs) | 11,9 | 14.3 |
Psychische Störungen | 24,1 | 47,8 |
Atmung | 2,8 | 2,8 |
Nerven/Sinne | 6,7 | 7,2 |
Haut | 0,4 | 0,4 |
Sonstige/keine Zuordnung möglich | 7,7 | 6,3 |
10.3.2.2 Gesetzliche Änderungen
10.3.2.3 Änderungen des VVG im Jahr 2008
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Es besteht keine Anzeigepflicht für nicht in Textform gefragte Risikoumstände.
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Eine Nachmeldepflicht für Gefahrumstände, die nach der Vertragserklärung des VN, aber vor Vertragsannahme bekannt werden, besteht nur dann, wenn der Versicherer ausdrücklich danach gefragt hat.
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Die Folgen der Anzeigepflichtverletzung wurden neu geregelt in Abhängigkeit von der Verschuldensform (Arglist, Vorsatz, grobe Fahrlässigkeit, einfache Fahrlässigkeit sowie schuldlose Anzeigepflichtverletzung) und davon, ob bei der Antragstellung vertragsverhindernde oder vertragsverändernde Umstände verschwiegen worden sind.
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Weiterhin ist die Vereinbarung einer Schweigepflichtentbindungsklausel im Zusammenhang mit der Vertragserklärung (Antragsstellung) möglich.
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Allerdings ist der Kreis der Personen und Institutionen, die befragt werden dürfen, abschließend in § 213 Abs.1 VVG festgelegt. Dabei umfasst § 213 aber nicht alle relevanten Gruppen − beispielsweise fehlen in dem Katalog Rentenversicherungsträger, Psychologen, Psychotherapeuten, Heilpraktiker u. a. Ferner ist eine betroffene Person vor einer Erhebung personenbezogener Gesundheitsdaten durch den Versicherer zu unterrichten und kann der Erhebung widersprechen (§ 213 Abs. 1 VVG). Sie kann darüber hinaus jederzeit verlangen, dass eine Erhebung von Daten nur erfolgt, wenn jeweils in die einzelne Erhebung eingewilligt worden ist (§ 213 Abs. 3 VVG).
10.3.2.4 Anhebung der Regelaltersgrenze in der Gesetzlichen Rentenversicherung
10.3.2.5 Entwicklung des Bedingungswerks und der Rechtsprechung
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Beschränkung des Prognosezeitraums (in der Regel sechs Monate statt „voraussichtlich auf Dauer“).
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Rückwirkende Leistungen nach sechsmonatiger Berufsunfähigkeit auch bei fehlender ärztlicher Prognose.
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Meldefrist für den Eintritt der Berufsunfähigkeit (entfällt im Idealfall; andernfalls wird die Leistung rückwirkend auch bei verspäteter Meldung erbracht).
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Abstrakte Verweisung (Leistungspflicht des Versicherers entfällt, wenn die versicherte Person eine andere Tätigkeit ausüben kann, die zu übernehmen sie auf Grund ihrer Ausbildung und Fähigkeiten in der Lage ist und die ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht, § 172 (3) VVG). Der Verzicht auf die abstrakte Verweisung ist mittlerweile Marktstandard.
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Konkrete Verweisung (Berufsunfähigkeit liegt nicht vor, wenn die versicherte Person eine andere Tätigkeit konkret ausübt, die entsprechend ihren Kenntnissen, Fähigkeiten und ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung ausgeübt werden kann und die wirtschaftlich und in ihrer gesellschaftlichen Wertschätzung der Lebensstellung entspricht, die vor Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung bestanden hat.)
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Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht ohne Verschulden des VN.
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Klauseln für bestimmte Berufsgruppen (zum Beispiel Piloten, Ärzte).
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Möglichkeit der Beitragsstundung während der Leistungsprüfung.
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Anerkennung der Leistungsentscheidung externer Versorgungsträger (GRV, Beamtenversorgung).
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Verzicht auf die Arztanordnungsklausel.
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Optionen für den Versicherungsnehmer wie zum Beispiel das Recht, den Versicherungsschutz bei bestimmten Anlässen auch ohne Gesundheitsprüfung anzupassen,
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sowie das Recht auf die Dynamisierung laufender Renten.
10.3.2.6 Berufsgruppendifferenzierung
10.3.2.7 Weitere Einflussfaktoren auf die BU-Häufigkeiten
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Konjunkturabhängigkeit (höhere Leistungsinanspruchnahme bei schlechter wirtschaftlicher Lage),
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Faktoren, die in die subjektive Wahrnehmung oder die persönliche Lebensgestaltung des VN fallen (zum Beispiel gefährliche Sportarten, soziale Stellung und Lebensgewohnheiten),
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Verschiebungen in den Umweltfaktoren, welche eine Verschiebung der Invaliditätsursachen in der Zukunft nach sich ziehen können sowie
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Managemententscheidungen (Annahmepolitik, Leistungsprüfung etc.).
10.3.2.8 Zuschläge für das Änderungsrisiko in den Tafeln DAV 1997 I und DAV 2021 I
Zu- und Abschläge | DAV 1997 I (Irrtums- und Änderungsrisiko) | DAV 2021 I (Irrtumsrisiko) | DAV 2021 I (Änderungsrisiko) |
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BU- Inzidenzen (Zuschlag) | + 10 % (M und F) | + 10 % | + 25 % |
Aktivensterblichkeit (Abschlag) | − 10 % (M und F) | − 5 % | − 10 % |
Invalidensterblichkeit (Abschlag) | − 10 % (M und F) | − 5 % | − 10 % |
Reaktivierung (Abschlag) | − 10 % (M und F) | − 5 % | − 10 % |