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2000 | Buch

Vertrauen durch Partizipation

Strategien zum Umgang mit riskanten Technologien

verfasst von: Dr.-Ing. Wolfgang Holeschak

Verlag: Deutscher Universitätsverlag

Buchreihe : DUV: Sozialwissenschaft

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Zwischen Faszination und Angst
Zusammenfassung
Die Einstellung der Menschen zur technischen Zivilisation schwankt zwischen Faszination und Angst; es sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, die den Glauben an die Beherrschung der Natur und der Gesellschaft mit Hilfe von Naturwissenschaft und Technik ebenso verabsolutiert wie den Glauben an den Untergang. Diese Ambivalenz gegenüber Technik und Kultur ist so alt wie die Mythen der Menschheit. Für den Sophisten Protagoras im gleichnamigen Dialog Platons bedeuten die Taten des Prometheus eine stetiges Fortschreiten der Menschheit zu einer höheren Stufe aus einem primitiven Urzustand. Hans-Georg Gadamer weist jedoch darauf hin, daß es zur gleichen Zeit auch eine kynische Deutung dieses Mythos gab: Prometheus ist darin nicht der Retter der Menschheit, sondern ihr Verderber, der mit Recht von Zeus bestraft wird. Denn die Gaben des Feuers und der Künste seien doch nichts anderes als eine ständige Veführung der Menschheit zur Verweichlichung und zum Luxus; die prometheische Gabe der Vorausschau und der Vorsorge das Unheil der Kultur, weil ihre Anwendung halt- und ziellos sei (Gadamer, 1967, S. 72). Solche mythischen Vorstellungen und ihr Wirken in der Gesellschaft sind auf Krisen und Probleme der realen Welt der Menschen zurückzuführen. In unsere Zeit übersetzt bedeuten sie: Vertrauen und Ängste gegenüber der Technik sind keine Phantomgebilde, sondern es ist die Art und Weise, wie wir die technische Zivilisation erleben.
Wolfgang Holeschak
2. Die Industrialisierung und die Abwehr ihrer Gefahren
Zusammenfassung
Ein Bündel materieller und sozialer Probleme hat in Europa die Industrialisierung ausgelöst; kurze Rückblicke auf diese Epoche, auf technische Entwicklungen sowie die damit einhergehenden neuartigen Gefahren sollen dies belegen. Danach sollen die Strategien erläutert werden, mit denen die Initiatoren des technischen Wandels und die staatliche Verwaltung durch normative Anforderungen diesen Gefahren begegnet sind. Das nachfolgende Kapitel beleuchtet die sozialen Probleme und die kulturgeschichtlichen Wirkungen der Industrialisierung.
Wolfgang Holeschak
3. Die Industrialisierung im Spiegel der Kulturgeschichte
Zusammenfassung
Die industrielle Technik trat einen unvergleichlichen Siegeszug an; sie drang in alle Gebiete des menschlichen Wirtschaftens ein. Die Dampfkraft galt in ihrer Frühzeit als Freund des Bergmanns; dann drang sie auch in alte Gewerbe ein, riß Menschen von dem erlernten Beruf weg, den schon ihre Väter ausgeübt hatten und führte sie zu ungewohnten Tätigkeiten. Die Geschichte der Baumwollindustrie zeigt diese gewaltigen Wirkungen, die den neuen Arbeitsmaschinen für das Spinnen und Weben erst ihre Bedeutung gab. Der Arbeitsvorgang wurde unabhängig von der physischen Kraft und der Handfertigkeit des einzelnen; Frauen und Kinder ersetzten Männer Ohne die vorhandenen sozialen Probleme, für die die Industrialisierung eine Lösung versprach, wäre die industrielle Technik jedoch nicht erfolgreich gewesen.
Wolfgang Holeschak
4. Technik in Vor- und Nachkriegszeiten
Zusammenfassung
Die beiden Weltkriege offenbarten die mörderischen Seiten der Technik; sie zeigten auch die düstere, unausweichliche Seite des technischen Fortschritts, denn die meisten technischen Innovationen sind auch als Waffen, Kriegsmaterialien oder Transportsysteme zu gebrauchen. In den Weltkriegen wurde durch den Einsatz von fernwirkenden Waffen der Kampf anonym. Der Gegner wurde unkenntlich, ja unsichtbar. Kein Mitleid, kein Haß trat mehr in das Bewußtsein beim Töten; die Toten wurden zu statistischen Größen bei den Erfolgsmeldungen. Ernst Jünger beschreibt dieses Sterben anhand des berühmten Angriffs der Kriegsfreiwilligen-Regimenter bei Langemarck. Dieses Ereignis hat weniger kriegs- als geistesgeschichtliche Bedeutung, weil es die Frage stellt, welche Haltung in dieser Zeit und in diesem Raum überhaupt möglich ist:
„Freier Wille; Bildung, Begeisterung und der Rausch der Todesverachtung reichen nicht zu, die Schwerkraft der wenigen hundert Meter zu überwinden, auf denen der Zauber des mechanischen Todes regiert. ...So ergibt sich das einzigartige, wahrhaft gespenstische Bild eines Sterbens im Raume der reinen Idee, eines Untergangs, bei dem, wie in einem bösen Traum, selbst die absolute Anstrengung des Willens einen dämonischen Widerstand nicht zu erzwingen vermag. ... Das Hemmnis, das hier auch dem Schlage des kühnsten Herzens Einhalt gebietet, ist nicht der Mensch in einer qualitativ überlegenen Tätigkeit — es ist das Auftreten eines neuen, furchtbaren Prinzips, das als Verneinung erscheint. ... Empfindungen des Herzens und die Systeme des Geistes sind widerlegbar, während ein Gegenstand unwiderlegbar ist — und ein solcher Gegenstand ist das Maschinengewehr.“ (Jünger, 1982, S. 109 f.)
Wolfgang Holeschak
5. Resümee der historischen Erfahrungen
Zusammenfassung
Im Verlauf des 19. Jahrhundert hat die Industrialisierung überlieferte Arbeitsverfahren durch neue abgelöst, die die menschliche Arbeitskraft in vielen Bereichen durch technischen Geräte entlasten oder gar ganz ersetzen. Den damit einhergehenden neuartigen Gefahren für die Beschäftigten und auch unbeteiligte Dritte begegnete die Gesellschaft mit Strategien, die in ihrem Zusammenwirken zur großen Akzeptanz des technischen Wandels beitrugen: mit normativen Anforderungen für die Gestaltung, den Betrieb und die regelmäßige Überwachung technischer Einrichtungen, mit einer Unfallforschung auf der Basis wissenschaftlicher Methodik, mit der Ausweitung des Versicherungswesens auf die Folgen technischer Gefahren und mit einem Netz sozialer Pflichtversicherungen.
Wolfgang Holeschak
6. Risiken der modernen Industriegesellschaft
Zusammenfassung
Seit den 70er Jahren hat sich in Deutschland eine ablehnende Haltung für bestimmte industrielle Großtechniken ausgebreitet. Die Hoffnung, daß dank der Technik die Probleme der Ernährung, der Arbeit und der Armut in der Welt insgesamt zu beseitigen wären, erwies sich als Illusion. Darüber hinaus ist es in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher geworden, daß Wissenschaft und Technik bei der Lösung vorhandener Probleme auch neue schaffen, die neuartige Gefahren im Gefolge haben. Je deutlicher diese Zweischneidigkeit der technischen Entwicklung zutage tritt, desto stärker wird die Forderung nach verantwortbarer Nutzung des technischen Fortschritts. Die Gefahren der neuzeitlichen Zivilisation erfahren aber unterschiedliche Bewertungen. Katastrophenmeldungen über Unfälle in der industriellen Technik begreifen immer mehr Menschen als Warnzeichen einer Entwicklung, die nicht mehr beherrschbar ist; in der Chemie stehen dafür die Namen Sevezo, Bophal, Sandoz-Basel, bei der Nutzung der Kernenergie der Schadenfall des Reaktors bei Harrisburg, der Unfall von Tschernobyl. Immer weniger Bürger schätzen den Nutzen, der ihnen aus diesen Techniken erwächst so hoch ein, daß ihnen die damit verbundenen Gefahren noch vertretbar erscheinen. Es gibt andererseits Ereignisse mit zahlreichen Todesopfern, die keine Emotionen wecken oder nach kurzer Zeit vergessen werden: die Unfälle im Straßenverkehr, im Schienenverkehr, im Luftverkehr, in der Schiffahrt oder bei den verschiedensten Freizeitaktivitäten. Offensichtlich gibt es eine Gewöhnung an bestimmte Gefahren und auch Unterschiede zwischen selbst auferlegten und zugemuteten Gefahren.
Wolfgang Holeschak
7. Verantwortung und Vertrauen
Zusammenfassung
Bei der Frage, ob und wie es sich rechtfertigen läßt, Risiken für die Allgemeinheit einzugehen, stößt man auf die soziologischen Phänomene „Verantwortlichkeit” und „Vertrauen”. Beide Phänomene fiihren im Falle der Legitimation großer technischer Systeme aus dem Bereich der Individualethik hinaus in kollektive Verantwortlichkeit und in den Bereich des Vertrauens in Experten. Über diese Problemstellung gibt es in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl von Veröffentlichungen, die jedoch keine einhellige Ansicht vertreten: Einige Soziologen vertreten die Ansicht, Risiken seien in einem bestimmten Umfang dadurch gerechtfertigt, daß sie der Allgemeinheit wirtschaftlichen und zivilisatorischen Fortschritt oder Nutzen bringen; andere berufen sich bei der Festlegung einer zumutbaren Akzeptabilität auf Vergleiche mit bereits akzeptierten Risiken; wieder andere wollen jegliches Risiko vermieden wissen, solange die Ungefährlichkeit einer technischen Entwicklung nicht zweifelsfrei erwiesen ist. Bevor Überlegungen zum Diskurs über neu einzugehende Risiken angestellt werden können, der Experten und Öffentlichkeit gleichermaßen einschließt, sollen die Phänomene Verantwortung und Vertrauen in einem systematischen Rahmen dargestellt werden.
Wolfgang Holeschak
8. Beteiligungsverfahren — Ein neuer Vorschlag
Zusammenfassung
Bevor über bekannte Beteiligungsverfahren und deren Mängel berichtet wird, um dann ein Instrumentarium vorzuschlagen, das Informiertheit der Laien als auch Repräsentanz von Laien und Experten in entsprechenden Gremien miteinander verbindet, soll die bisherige Rolle von Laien und Experten zusammmenfassend dargestellt werden. Es soll von der Position des Laien ausgegangen werden, weil aus dieser Sicht vielerlei an der Herrschaft der Experten in Wissenschaft und Technik auszusetzen ist. Engagierte Laien entwickeln den Ehrgeiz, sich in den wissenschaftlichen Diskurs von Experten einbeziehen zu wollen. Aber welche Möglichkeiten stehen ihnen zur Verfügung, um ernst genommen zu werden, um sich durchzusetzen? Stellt man eine Liste riskanter Technologien auf, etwa aus dem Bereich der Biotechnologie, der Energiewirtschaft, der Entwicklung und Herstellung chemischer Stoffe oder einer neuartigen Technologie wie der Magnetschwebebahn, und legt sie einer repräsentativen Bevölkerungsgruppe vor, so wird sich doch vermutlich zeigen, daß sich die Befragten bei den meisten Themen sachlich für inkompetent halten, weil naturwissenschaftlich-technische Grundkenntnisse fehlen. Sie können nur ein Unbehagen, eine Besorgnis äußern und mangelndes Vertrauen in die sachlichen Zwänge, die angeblich nur diese oder jene Möglichkeit offen lassen. Als durchschnittlich informierte Bürger sind wir uns bewußt, daß außerhalb des angestammten Fachbereiches eine umfassende sachliche Beurteilung nicht möglich ist. Wir sind in der vielschichtigen Welt unserer Zivilisation im wesentlichen Laien. Wo wir von den Dingen mehr verstehen, haben wir meist nicht in dem Maße mitzureden, wie es uns unserer Meinung nach zustünde. Beides ist eine Folge der arbeitsteiligen Gesellschaft in der modernen Zivilisation. Für einen neuen Ansatz sollten wir aus der bisherigen Entwicklung den Schluß ziehen, zu unserer Rolle als Laien zu stehen, wo wir Laien sind; d.h. wir haben Unkenntnis in den meisten Sachfragen, wir können das Gespaltensein einer Gemeinschaft von Experten in wissenschaftlichen Fragen nicht nachvollziehen, wir können schlimme Szenarien beider Seiten nicht beurteilen, aber diese Szenarien machen uns Angst. Dies alles führt zu Mißtrauen gegenüber Experten, den politischen Entscheidungsstrukturen und letztlich den Technologien und Infrastrukturen im Hintergrund, die für das reibungslose Funktionieren unserer Alltagswelt unerläßlich sind.
Wolfgang Holeschak
9. Zusammenfassung der Ergebnisse
Zusammenfassung
Vertrauen zum Wandel in der Technik ist in der modernen Industriegesellschaft ein zwiespältiges Phänomen. Wir setzen nahezu unbegrenztes Vertrauen in die Technik der uns vertrauten Alltagswelt im Beruf und im privaten Bereich, auf den reibungslosen Ablauf technischer Vorgänge und auf das Zusammenwirken technischer Artefakte. Daran ändert auch katastrophales Versagen nichts, wie der Untergang von Seefähren, der Absturz von Großflugzeugen oder schwere Eisenbahnunfälle. Auch die zahlreichen Unfälle im Straßenverkehr mit vielen tausend Toten und Verletzten jährlich haben das Vertrauen in das private Verkehrsmittel nicht beeinträchtigen können. Dieses Vertrauen beruht auf Strategien, die mit der Industrialisierung entstanden sind: ein System von Nonnen und Regeln, denen technische Geräte entsprechen müssen, ein kollektives Versicherungswesen, das die Haftung aus Verschulden und die Gefährdungshaftung abdeckt sowie ein Netz sozialer Pflichtversicherungen gegen die Wechselfälle des Lebens. Die mit der Alltagstechnik eingegangenen Risiken sind individuell und sozial abgesichert; das genügt uns, um das Versagen der Artefakte verträglich zu gestalten. Die Artefakte und ihre soziale und technische Sicherungssysteme sind so komplex, daß wir als Laien ihre inneren Abläufe kaum verstehen und dies in der uns gewohnten arbeitsteiligen Gesellschaft auch gar nicht beanspruchen. Wir vertrauen dem Experten für den jeweiligen Bereich, und wir vertrauen darauf, daß er uns unabhängig von anderen gesellschaftlichen Akteuren mit seinem anerkannten Sonderwissen neutral berät oder behandelt.
Wolfgang Holeschak
10. Abschließende Bemerkungen
Zusammenfassung
Die westliche Industriegesellschaft hat seit den 60er Jahren unseres Jahrhunderts erstmals einen relativen hohen Wohlstand, soziale Sicherheiten und politische Grundrechte erreicht — all das, was immer einen Teil der sozialen Utopie ausgemacht hat. Aber zugleich ist diese Ordnung auch fragil; sie bietet nicht die Sicherheiten der traditionellen Gesellschaftsordnung: Verlust des Arbeitsplatzes, Ehescheidung und nach wie vor auch Krankheiten sind Falltüren, durch die der Betroffene plötzlich abstürzen kann; nicht ins Bodenlose, davor bewahrt ihn in einer entwickelten Zivilisation das soziale Netz oder Versicherungen gegen die Fährnisse des Lebens, aber doch an den Rand dieser Gesellschaft. Hinter der Fassade der Sicherheit steht also gleichwohl die Erfahrung dieser Fährnisse oder die Angst davor. Und mancher ist schnell bereit, dafür einen Sündenbock zu finden: die am Wachstum orientierte Industriekultur. In traditionellen Gesellschaften war es eine wesentliche Aufgabe der Kultur gewesen, alles möglichst beständig, ruhig und unveränderlich zu erhalten. Deshalb beklagen die Kritiker, die Kontinuität der Industriekultur liege im steten Wandel und in der Veränderung. Erinnert sei an die Ergebnisse der Meinungsumfragen zum Tempo der Veränderungen: einer Mehrheit geht alles zu schnell, die Menschen fühlen sich bedrängt und das erzeugt Besorgnisse und Ängste. Heutzutage sollten Kultur und Tradition einen andersartigen intellektuellen und gesellschaftlichen Zweck haben: Es sollte ihre Aufgabe sein, die Menschen dazu zu bringen, lebenswichtigen Verhaltensweisen für den Wandel einzuüben.
Wolfgang Holeschak
Backmatter
Metadaten
Titel
Vertrauen durch Partizipation
verfasst von
Dr.-Ing. Wolfgang Holeschak
Copyright-Jahr
2000
Verlag
Deutscher Universitätsverlag
Electronic ISBN
978-3-322-83452-2
Print ISBN
978-3-8244-4426-7
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-83452-2