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Erschienen in:

Open Access 14.06.2022 | Spektrum

Viel Software für wenig Code

No-Code-Lösungen versprechen, das Verhältnis von IT und Personal in ein neues Gleichgewicht zu rücken – eine aufregende Perspektive

verfasst von: Thorsten Winternheimer

Erschienen in: Wirtschaftsinformatik & Management | Ausgabe 3/2022

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Besondere Zeiten erfordern manchmal besondere Maßnahmen. Und die finden wir selten in unserer mit Prinzipien gepolsterten Komfortzone. Stattdessen ist es oft ein mühsamer Weg, zu erkennen, welche Lösungsansätze uns wirklich weiterbringen. Aber in was für einer Zeit leben wir? In einer, in der für viele nur stattfindet, was digital ist; einer Zeit, in der schon nicht mehr zählt, wie digital ein Business ist, sondern wie automatisiert. Wir leben in einer Zeit, in der Programmierkenntnisse als Spezialfähigkeit einiger weniger Auserwählter gelten; einer Zeit, in der das Wort „Fachkräftemangel“ schon öfter HR- und IT-Publikationen geziert hat, als dass schaffbare Lösungsansätze diskutiert wurden. Dabei gibt es sie schon längst.
An unserer Abhängigkeit von passender Software für die unterschiedlichsten Belange wird sich in dieser digitalen Welt so schnell nichts mehr ändern. Was sich aber ändern kann, ist, wer sie entwickelt. Dafür muss man „nur“ die Einstiegshürde zur Softwareentwicklung verringern. Zu genau diesem Zweck gibt es sogenannte No-Code-Plattformen – ein Begriff, der bei vielen Informatikern offenbar immer noch eine gewisse Skepsis erregt. Dafür gibt es aber keinen Grund. Lassen Sie mich erklären, warum.

Drag-and-drop und Individualität sind kein Widerspruch

Technisch gesehen sind No-Code-Plattformen Entwicklungsumgebungen, die auch von Nichtprogrammierern genutzt werden können. Eine Benutzeroberfläche erlaubt es, verschiedene grafische Elemente per Drag-and-drop zu individuellen Applikationen zusammenzusetzen. Im Backend der Plattform wird dabei aus in sich getesteten Codeschnipseln ein sauberer Anwendungscode gebildet, der über Datenmasken der einzelnen Elemente weiter individualisiert werden kann. Auf dieser Basis entstehen Minimum Viable Products oft schon in wenigen Tagen oder gar Stunden. Das entspricht einer bis zu zehnmal schnelleren Entwicklung im Vergleich zu herkömmlicher Programmierung.
Ein häufiger Vorwurf, den sich der No-Code-Ansatz gefallen lassen muss, ist, die Ergebnisse seien nicht individuell genug. Das mag für einzelne Plattformen gelten, die gezielt für unkomplizierte Anwendungsgebiete entwickelt wurden und in ihren Funktionalitäten entsprechend beschränkt sind. Häufig erfordert der Anspruch an eine professionelle No-Code-Plattform aber den Einsatz für komplexe Szenarien im Backoffice sämtlicher Unternehmensbereiche. Mittlerweile können das einige Plattformen auch erfüllen, die Anwendungsmöglichkeiten wurden in den letzten Jahren stark erweitert: So entstehen heute nicht nur kleine Unternehmensanwendungen für Rechnungsprozesse, Orderannahme oder Lieferwegplanung. Auch hochkomplexe und individuelle ERP- und CRM-Systeme sind mit No Code möglich.

Das Problem mit der Standardsoftware

Wie sehen aber die Alternativen aus, wenn man nicht die Ressourcen für monatelange Programmierarbeiten hat? Wie individuell ist Standardsoftware von der Stange, die es für teuer Geld von namhaften Firmen zu kaufen gibt? Die Antwort liegt eigentlich auf der Hand. Man erwirbt mit solch einer Software keinen Rohdiamant, sondern einen Kohlebrocken, den es überhaupt erst in die richtige Form zu pressen gilt. Wenn das System nur halbwegs zu agilen Unternehmensprozessen und Strukturen passen soll, sind aufwendige Anpassungen durch Fachleute notwendig – immer wieder aufs Neue. Die Ersparnis gegenüber herkömmlich programmierter Individualsoftware hält sich somit in Grenzen.
In einer Studie des IT-Analysten Techconsult im Auftrag von Dr. Eckhardt + Partner wurden vergangenes Jahr IT-Entscheider deutscher Unternehmen zum Einsatz von Individualsoftware befragt: Von 201 Unternehmen setzen demnach mehr als die Hälfte auf maßgeschneiderte Applikationen. Wiederum etwa drei Viertel davon führen ihren Unternehmenserfolg auf den Einsatz eben dieser individuellen Lösungen zurück. Standardsoftware bedeutet hingegen in vielen Fällen Verzicht – an Funktionalität und Flexibilität. Mit der Entscheidung für No Code muss man sich aber nicht grundsätzlich festlegen, sondern hat die Chance auf das Beste aus beiden Welten. So kann man zwar einerseits unkompliziert Individualsoftware entwickeln, aber auch Bestandssysteme erweitern, individualisieren und leichter in die Infrastruktur eingliedern. Wichtig ist dabei nur, dass die Plattform entsprechende API-Fähigkeiten an Bord hat.

Keine Automatisierung ohne Schnittstellen

Der Umgang mit Anwendungsschnittstellen (API) ist in digitalisierten Unternehmen eine notwendige, wenn auch komplizierte Angelegenheit. Um einen hohen Automatisierungsgrad beim Datenaustausch zwischen Anwendungen, Datenbanken und Fremdsystemen zu erreichen, sind APIs als Knotenpunkte unabdingbar. SaaS-Angebote für ein schnelleres Management der Schnittstellen sind vielerorts bereits gängige Praxis. Das ist auch mit No-Code-Plattformen möglich, nur dass man sich damit eben nicht auf diese eine Funktion beschränken muss. Damit nach der schnellen Entwicklung einer No-Code-Anwendung keine stundenlange API-Konfiguration zur Eingliederung in die Infrastruktur folgt, ist auch diese bei einigen Plattformen vereinfacht per Drag-and-drop mit dazugehörigen Datenmasken möglich.
Dabei kommen überwiegend die flexiblen REST-APIs zum Einsatz, deren populärstes Datenformat JSON nicht nur von No-Code-Applikationen, sondern auch von vielen Fremd- oder Legacy-Systemen gelesen werden kann. Das erleichtert einerseits die Datenmigration bei Umstrukturierungen der IT-Landschaft. Andererseits werden Anwendungen zu einem automatisierten Datenaustausch untereinander und auch mit Systemen externer Partner befähigt. Das kann den Verwaltungsaufwand im Backoffice drastisch reduzieren und minimiert Fehler.
Informatiker in Unternehmen können dabei jederzeit entscheiden, wofür und in welchem Ausmaß sie die No-Code-Plattform nutzen möchten. Im Sinne einer Middleware kann sie auch rein zur Vernetzung herkömmlich programmierter Applikationen eingesetzt werden. Für die Softwareentwicklung bekommen Programmierer mit No Code eine neue Ausdrucksform, mit der sie beliebige Prozesse beschleunigen oder ergänzen können. Zudem müssen sie sich weniger um die IT-Probleme ihrer Kollegen in den Fachabteilungen kümmern – weil diese selbst dazu befähigt werden.

No Code demokratisiert die Softwareentwicklung

Mittlerweile hat Software als Ressource fast einen ebenso hohen Stellenwert in Unternehmen erreicht wie das Personal. Es sollte Verantwortlichen also viel daran gelegen sein, beides in Einklang zu bringen. Das ist aber nur möglich, wenn Softwareentwicklung zu einer Kernkompetenz wird, an der möglichst viel Personal Anteil nehmen kann. Schließlich wird Software überall im Unternehmen benötigt – aber nicht überall gibt es Programmierer. Das wird mit Sicherheit auch in den kommenden zehn Jahren so bleiben. Für no-code-basierte Entwicklung ist in der Regel aber eine grundsätzliche IT-Affinität ausreichend. Wer mit Excel oder Datenbanken umgehen kann, wird auch mit No Code keine Schwierigkeiten haben. Zugegeben: Das muss nicht auf jede einzelne Person in einem Unternehmen zutreffen. Aber in jeder Fachabteilung wird es Mitarbeiter geben, die auf diesem Weg Anteil an der Prozessoptimierung nehmen können.
Zudem gibt es üblicherweise auch Unterstützung des Anbieters bei der Einführung, die bei manchen Plattformen sowohl über die Cloud als auch On-Premises im eigenen Rechenzentrum erfolgen kann. Auf lange Sicht werden Unternehmensprozesse dann von jenen Menschen digitalisiert und optimiert, die sie am besten kennen. Personal in den Fachabteilungen kann somit den eigenen Tagesablauf effizienter gestalten, weil generische Prozesse automatisiert werden und notwendige Daten schneller verfügbar sind. Dadurch, dass keine unübersichtlichen Excel-Dateien oder ohne Absprache mit der Firmenkreditkarte lizenzierten Internetangebote mehr nötig sind, wird auch der berüchtigten Schatten-IT vorgebeugt. Informatiker können sich indessen mehr auf ihre Kernprozesse konzentrieren, sind zugleich aber eng mit den Fachabteilungen vernetzt. Die oft problematische Verzahnung von technischer und fachlicher Kompetenz wird dadurch erleichtert und eine cross-funktionale Zusammenarbeit unterstützt.

Keine vorübergehende Erscheinung

Auch wenn der No-Code-Ansatz noch nicht überall Einzug gehalten und in manchen Fachkreisen gerade im Hinblick auf die Kernsysteme von Unternehmen noch mit einem gewissen Imageproblem zu kämpfen hat, so gibt er doch einen klaren Ausblick auf das, was in der Business-IT noch kommen mag. Der Trend geht ganz klar zur Cloud – der Antwort auf die Frage nach mehr Flexibilität, Vernetzung und Modernisierung. Der dazugehörige Markt soll 2022 um 16 % wachsen und bis 2025 werden 85 % der Unternehmen einem „Cloud-first-Konzept“ folgen, prognostiziert IT-Marktforscher Gartner Inc. No-Code-Lösungen bedienen sich dieses Konzepts und befriedigen zugleich das wachsende Bedürfnis nach größerer Benutzerfreundlichkeit. In einer weiteren Techconsult-Studie in Zusammenarbeit mit mgm technology partners gaben deshalb 78 % der Unternehmen an, sich bereits aktiv mit No-Code- und Low-Code-Lösungen zu beschäftigen.
Die Notwendigkeit, möglichst einfach und effizient Software zu entwickeln, wird künftig immer mehr Unternehmen zur Nutzung entsprechender Lösungen bewegen. Bis 2025 könnten bereits 70 % aller neuen Businessanwendungen auf No Code und Low Code basieren, schätzt Gartner. Letztlich geht es dabei darum, Programmierer zu entlasten und ihre Möglichkeiten zu erweitern. Ihre fachliche Expertise wird dadurch nicht überflüssig, sondern findet in engerer Zusammenarbeit mit IT-fremden Angestellten eine neue Entfaltung.
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Metadaten
Titel
Viel Software für wenig Code
No-Code-Lösungen versprechen, das Verhältnis von IT und Personal in ein neues Gleichgewicht zu rücken – eine aufregende Perspektive
verfasst von
Thorsten Winternheimer
Publikationsdatum
14.06.2022
Verlag
Springer Fachmedien Wiesbaden
Erschienen in
Wirtschaftsinformatik & Management / Ausgabe 3/2022
Print ISSN: 1867-5905
Elektronische ISSN: 1867-5913
DOI
https://doi.org/10.1365/s35764-022-00408-4

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