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2021 | Buch

Von der Mathematisierung in der Ökonomie zur modernen Finanzmathematik

Zeitzeugen berichten

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Über dieses Buch

Unterstützt von vielen historischen Dokumenten und Interviews mit Zeitzeugen geht dieses Werk auf ein bedeutsames Thema der Wissenschaftsgeschichte ein: die Entstehung der modernen Finanzmathematik in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts.Einführend geht der bekannte Finanzmathematiker Hans Föllmer auf die Entstehungsgeschichte dieser neuen akademischen Disziplin ein und berichtet, wie die neoklassische Wirtschaftstheorie in den 1960er Jahren immer weitere Verbreitung findet und mit ihrer Formalisierung junge Mathematiker anzieht. Dieser zunehmende wissenschaftliche Austausch zwischen Ökonomen und Mathematikern, wegweisend hier eine Gruppe um Werner Hildenbrand an der Universität Bonn, der auch Hans Föllmer angehört, führt zu einer Mathematisierung und damit grundlegenden Änderung der Finanzwissenschaft. Vor allem die Theoriebildung erhält einen enormen Aufschwung, stark unterstützt durch neugegründete Fachzeitschriften, was zu einer Festigung der Finanzmathematik als eigenständige akademische Disziplin führt. Das Buch stellt die Entwicklung dieser modernen Wissenschaft anschaulich, verständlich und anhand vieler Zeitzeugenberichte dar, geht am Ende aber auch auf Grundlagenfragen ein: Schon seit den 1990er Jahren, und dann vor allem nach der Finanzkrise 2008, stellen Wissenschaftler die Frage, ob sich gesellschaftliche Prozesse oder das Verhalten von Akteuren an Finanzmärkten überhaupt korrekt mit Methoden der Naturwissenschaften modellieren lassen.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Kapitel 1. Hans Föllmer, Protagonist der ersten Generation von Finanzmathematikern
Zusammenfassung
Hans Föllmer ist Wahrscheinlichkeitstheoretiker. An seinen biografischen Stationen lässt sich nachverfolgen, wie Mathematiker, die sich zunächst für Anwendungen in der Ökonomie interessieren, zu Begründern eines neuen Fachgebiets, der Finanzmathematik, werden. Hans Föllmer beginnt sein Studium der Mathematik in den sechziger Jahren in Göttingen und setzt es zunächst in Paris und dann bei Heinz Bauer und Konrad Jacobs in Erlangen fort. Dort begegnet er einflussreichen Wahrscheinlichkeitstheoretikern wie Robert Blumenthal, Kiyoshi Itō und Paul-André Meyer. Aber vor allem sind die sechziger Jahre eine Zeit des Aufbruchs. Damals gehört Hans Föllmer zu einer Gruppe von Studenten, die die Rolle der Mathematik in der Gesellschaft hinterfragen. In diesem Zusammenhang beginnen sie sich für mathematische Anwendungen in der Ökonomie zu interessieren. Die Wahrscheinlichkeitstheorie und die mathematische Ökonomie werden für Hans Föllmer zwei Gebiete, die sich in den 1980er Jahren zusammenführen lassen und ein neues Fachgebiet begründen: die Finanzmathematik.
Agnes Handwerk
Kapitel 2. Werner Hildenbrand: Von der Mathematik zur Ökonomie
Zusammenfassung
Werner Hildenbrand kommt in den 1970er und 1980er Jahren eine wichtige Schlüsselstellung zu, weil es ihm gelingt, Mathematiker und Ökonomen zusammenzubringen. Zunächst studiert er Mathematik bei Klaus Krickeberg und Gottfried Köthe in Heidelberg. Durch einen Zufall nimmt er am Ersten Weltkongress der „Econometric Society“ 1965 in Rom teil und hört dort einen Vortrag von Gérard Debreu, der zusammen mit Kenneth Arrow das einflussreiche Arrow-Debreu Gleichgewichtsmodell entwickelt hat. Der Vortrag weckt sein Interesse und er bewirbt sich bei Debreu, Professor an der University of California Berkeley, um eine Stelle und wird angenommen. Es beginnt eine langjährige Zusammenarbeit mit Debreu. Sie besteht auch fort, als Hildenbrand an die Universität Bonn berufen wird. Am Institut für Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften macht er die Mathematisierung in der Ökonomie zu einem Schwerpunkt für Forschung und Lehre.
Agnes Handwerk
Kapitel 3. Die Gründung des Journal of Mathematical Economics
Zusammenfassung
Zeitzeugen berichten von der Gründung des „Journal of Mathematical Economics“ auf einem denkwürdigen Workshop 1972 mit Gérard Debreu und Stephen Smale an der Côte d’Azur. Werner Hildenbrand wird Herausgeber der Zeitschrift und kann vor allem Mathematiker für die Mitarbeit gewinnen. Im Beirat sind u. a. Freddy Delbaen und Hans Föllmer. Die Zeitschrift soll den fachlichen Austausch zwischen Ökonomen und Mathematikern verbessern und entwickelt sich zu einem wichtigen Forum für den internationalen Austausch von Forschungsergebnissen. Am Mathematischen Forschungsinstitut Oberwolfach finden erste Workshops über „Mathematical Economics“ mit internationaler Besetzung statt. Hildenbrand ist nicht nur als Herausgeber tätig. Er engagiert sich auch für ein aktives Forschungsumfeld an der Universität Bonn und einen regen Austausch mit Gérard Debreu und seinen Mitarbeitern an der University of California, Berkeley.
Agnes Handwerk
Kapitel 4. Die Mathematisierung in den Wirtschaftswissenschaften
Zusammenfassung
Die neoklassische Wirtschaftstheorie wird in den USA begründet und findet, beginnend in den fünfziger Jahren, internationale Verbreitung. Die Entwicklung wird getragen von dem Optimismus, ökonomische Prozesse mit mathematischen Methoden zu formalisieren. Der amerikanische Wissenschaftshistoriker Philip Mirowski weist den folgenreichen Irrtum nach, dass sich die neoklassische Wirtschaftstheorie als Naturwissenschaft begreift und physikalische Gesetzmäßigkeiten auf soziale Prozesse überträgt. Historisch ist diese Entwicklung nicht ohne die Axiomatisierung in der Mathematik denkbar. Sie führt zu David Hilbert in Göttingen und seinem Grundlagenprogramm von 1899. Darauf geht der Mathematiker und Wissenschaftshistoriker Norbert Schappacher ein und führt aus, wie der Prozess der Axiomatisierung in den dreißiger Jahren von der Gruppe „Bourbaki“, gegründet in Frankreich, weitergeführt wurde.
Agnes Handwerk
Kapitel 5. Von Mathematical Economics zu Mathematical Finance
Zusammenfassung
In den 1980er Jahren, als die Formalisierung in der Ökonomie an ihre Grenzen stößt, entsteht ein neues Gebiet, auf dem mathematische Formalisierungen mit großem Erfolg angewendet werden: die Finanzmathematik. Hans Föllmer berichtet über einen Workshop am Mathematischen Forschungsinstitut Oberwolfach im Jahr 1979, auf dem David Kreps einen Vortrag über die Anwendung der Martingaltheorie zur Preisbestimmung von Derivaten hält. Von ihm und J. Michael Harrison folgt der Aufsatz „Arbitrage and Martingales“ in einer Fachzeitschrift für Ökonomen. Großen Anklang findet der Aufsatz aber besonders unter Mathematikern und er inspiriert viele, auf diesem Gebiet weiterzuarbeiten. Freddy Delbaen und Hans Föllmer nehmen 1989 an einem Workshop an der Cornell University teil, auf dem die Zeitschrift Mathematical Finance gegründet wird. Es gibt damals noch so gut wie keine Fachliteratur zur Finanzmathematik und so entwickelt sich die Zeitschrift zu einem wichtigen Forum für die Theoriebildung. Dokumente zu diesem Workshop werden hier erstmals publiziert. Robert Jarrow hat sie aus seinem Privatarchiv dankeswerterweise zur Verfügung gestellt.
Agnes Handwerk
Kapitel 6. Paul Embrechts – von der Versicherungs- zur Finanzmathematik
Zusammenfassung
Paul Embrechts wird 1989 auf den Lehrstuhl für Versicherungsmathematik an die ETH Zürich als Nachfolger des international bekannten Versicherungsmathematikers Hans Bühlmann berufen. Ausschlaggebend ist, dass er sich auf das Gebiet der Martingaltheorie und Versicherungsmathematik spezialisiert hat. Doch nun soll er den Studiengang Versicherungsmathematik an der ETH um die Finanzmathematik erweitern, wofür es zu dieser Zeit noch keine Lehrprogramme oder entsprechende Lehrbücher gibt. Er hat den Spagat zu bewältigen, einerseits die Interessen Schweizer Banken zu berücksichtigen, die den Anschluss an die internationale Entwicklung suchen, und andererseits den Anforderungen eines akademischen Studiengangs der Finanzmathematik zu genügen. Risiko Management macht er zu einem neuen Forschungsschwerpunkt.
Agnes Handwerk
Kapitel 7. Wie aus mathematischen Annahmen Gewissheiten wurden
Zusammenfassung
Die Internationalisierung des Kapitals, elektronische Kommunikationstechniken, das Internet und neue Finanzprodukte führen zu einem tiefgreifenden Wandel des traditionellen Bankgeschäfts und der Finanzmärkte. Die hohen Währungs- und Zinsschwankungen geben dem Handel mit Optionen ein großes Gewicht. Die Einführung der Optionspreisbestimmung nach dem Black-Scholes-Merton Modell verändert die Finanzmärkte grundlegend. Fischer Black, der das Modell mitentwickelt hat, hält im Sommer 1989 vor Bankern in Frankfurt a. M. einen Vortrag. Er hinterfragt sein Modell und spricht über die „black holes in Black/Scholes“. Aber die Zuhörer damals verstehen nicht die Tragweite seiner Ausführungen. Das trifft nicht zuletzt auch auf Ökonomen zu, die sich mit dem Derivatehandel befassen, aber nicht zugleich über fundierte mathematische Kenntnisse verfügen.
Agnes Handwerk
Kapitel 8. Nach der Finanzkrise
Zusammenfassung
Ausgerechnet von einem Workshop, den Klimaforscher ausrichten, kommt eine erste fundierte Stellungnahme zu den Ursachen der Finanzkrise. Unter dem Titel „Is there a mathematics of social entities?“ findet im Dezember 2008 in Berlin der 98. Dahlem Workshop statt. Die Klimaforscher haben Ökonomen und Finanzmathematiker eingeladen, um der Frage nachzugehen, wie sich Dürren, Überschwemmungen oder daraus entstehende Umbrüche in Industriezweigen an den Finanzmärkten auswirken werden und ob sich mit finanzmathematischen Methoden solche Risiken absichern lassen. Die Wissenschaftler verfassen ein Papier, das die Schwachpunkte der bisherigen Methoden aufzeigt. Sie kritisieren die Modellgläubigkeit und dass die Formalisierung von Risiken an den Realitäten vorbeigehe. Aber die grundlegenden Fragen, die sich mit der mathematischen Formalisierung stellen, haben bisher nur in den Wirtschaftswissenschaften zu einer Theoriedebatte geführt, initiiert von dem „Netzwerk Plurale Ökonomik e. V.“. In der Finanzmathematik hat ein vergleichbarer Prozess bisher nicht stattgefunden.
Agnes Handwerk
Backmatter
Metadaten
Titel
Von der Mathematisierung in der Ökonomie zur modernen Finanzmathematik
verfasst von
Agnes Handwerk
Copyright-Jahr
2021
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Electronic ISBN
978-3-662-62637-5
Print ISBN
978-3-662-62636-8
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-62637-5