In den ersten drei Kapiteln des Buches wurde der Aufbau pflanzlicher Organismen auf der Ebene von Zellen (► Kap.
1), Geweben (► Kap.
2) und Organen (► Kap.
3) dargestellt. In diesem Kapitel geht es nun darum, wie sich dieser komplexe Aufbau über mehrere Systemebenen (Zelle, Gewebe, Organ) entwickelt. Während sich also ► Kap.
1,
2 und
3 mit dem Sein befassten, geht es nun um das Werden. Die Grundfrage der Entwicklung ist also, wie aus einer einzigen Zelle ein vielzelliger, komplex aufgebauter und sich auf dynamische Weise regulierender Organismus entsteht. Unter
Entwicklung versteht man also die Gesamtheit aller Prozesse des Form- und Funktionswechsels im Lebenszyklus eines vielzelligen Organismus (im weiteren Sinne lassen sich auch Veränderungsprozesse einzelliger Organismen als Entwicklung auffassen). Entwicklungsprozesse können auf der Ebene von Molekülen, Kompartimenten, Zellen, Geweben und Organen ablaufen. Die Entwicklungsbiologie befasst sich mit der Kausalanalyse der Entwicklungsvorgänge. Ziel ist es, die molekularen und physiologischen Abläufe zu verstehen, durch welche die genetische Information (der
Genotyp) unter Einwirken der Umwelt als
Phänotyp (griech.
phaíno, ich erscheine;
týpos, Gestalt) sichtbar wird. Der Phänotyp reproduziert die
charakteristischen Eigenschaften der Art, ist jedoch, vor allem bei Pflanzen, stark von den herrschenden
Umweltbedingungen, abhängig. Diese
Plastizität der Entwicklung dient bei Pflanzen vor allem der Anpassung des Organismus an unterschiedliche Standortgegebenheiten. Darüberhinaus zeigt sich auch eine deutliche
individuelle Variabilität. Die Ausprägung des Phänotyps vollzieht sich jedoch immer im Rahmen der durch den Genotyp festgelegten Grenzen: Vergleicht man unterschiedliche Weinblätter, wird man feststellen, dass sich das Muster der Blattnervatur im Detail, ähnlich wie der Fingerabdruck des Menschen, von Blatt zu Blatt unterscheidet, aber dennoch für die Weinrebe typisch ist. Eine beschreibende Darstellung der Entwicklungszyklen von Pflanzen unterschiedlicher systematischer Stellung findet sich in ► Kap.
24. In diesem und den beiden folgenden Kapiteln geht es nun darum, die Prinzipien der Entwicklung darzustellen. Um diese Prinzipien verstehen zu können, muss man sich zunächst einmal klarmachen, inwiefern sich die Entwicklung von Pflanzen und Tieren unterscheidet. Danach werden, so wie dies in den ersten drei Kapiteln für die pflanzliche Struktur umgesetzt wurde, die Mechanismen der Entwicklung über die verschiedenen Systemebenen (Zelle, Gewebe, Organ, Organismus) hinweg beispielhaft vorgestellt.