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26.01.2023 | Wasserstoff | Interview | Online-Artikel

"Der Trend geht zu niedrigpreisigen wasserstoffbeständigen Werkstoffen"

verfasst von: Thomas Siebel

4 Min. Lesedauer

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Die Wasserstoffwirtschaft verlangt nach geeigneten Werkstoffen. Welche Branchen besonders betroffen sind, wie sich Werkstoffe qualifizieren und wie sich das auf die Produktentwicklung auswirkt, erläutern Christopher Tom Engler und Martin Sekura im Interview.

Springer Professional: Fossile Energieträger werden in naher Zukunft zunehmend durch Wasserstoff ersetzt, was besondere Anforderungen an die eingesetzten Werkstoffe stellt. Welche Branchen sind besonders betroffen?

Sekura: Die Transformation ist eine Herausforderung für eine ganze Reihe von Branchen. Einige Beispiele: Die Automobilindustrie muss neue Antriebsstränge für Wasserstoff und die dafür nötigen Speicher entwickeln und auch die Brennstoffzellentechnologie weiterentwickeln – was natürlich auch Auswirkungen auf die gesamte Zulieferindustrie haben wird …

Engler: … die Netzbetreiber müssen sich um den Transport und die Speicherung von Wasserstoff und die Ertüchtigung von Pipelines, Rohrleitungen und Speichern kümmern. Die Energieversorger müssen beim Bau von neuen Kraftwerken die H2-Readiness berücksichtigen und bestehende Kraftwerke für den Betrieb mit Wasserstoff oder einem Gas-Wasserstoff-Gemisch umrüsten. Besonders spannend ist die Situation in der chemischen Industrie: Hier wird Wasserstoff nicht nur als Edukt für chemische Reaktionen und als Brennstoff für Heizquellen bei chemischen Prozessen genutzt, sondern auch als Reaktionsprodukt aus bestimmten Prozessen für die industrielle Weiterverwendung abgeführt.

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Für welche Art von Bauteilen und Systemen ist der Wandel hin zur Wasserstoffwirtschaft besonders knifflig?

Engler: Eigentlich für alle komplexen Anlagen und Infrastrukturen, in denen Wasserstoff eingesetzt werden soll, die aber nicht einfach ersetzt werden können. Ich denke hier beispielsweise an unsere Erdgasnetze, die auf die zunehmende Beimischung von Wasserstoff oder die alleinige Distribution von Wasserstoff ausgerichtet werden müssen. Dabei spielen die Anpassung bestehender Werkstoff- und Fertigungskonzepte für den Einsatz mit Wasserstoff sowie die entsprechende Qualifikation von Werkstoffen und Komponenten natürlich eine wichtige Rolle.

Welche Tests muss ein Werkstoff über sich ergehen lassen, damit er sich für den Einsatz in der Wasserstoffwirtschaft qualifiziert?

Engler: Bei metallischen Werkstoffen ist ein spezifischer Eignungstest nötig, um die Anfälligkeit eines Werkstoffs für Wasserstoffversprödungsmechanismen auszuschließen. Dafür können mechanisch-technologische Prüfungen und Untersuchungen mit Proben durchgeführt werden, die elektrochemisch oder in einer Druckwasserstoffatmosphäre beladen werden. Bei TÜV Süd bieten wir übrigens beide Beladeverfahren an. Wir prüfen und zertifizieren die H2-Verträglichkeit von Werkstoffen und treiben zudem die Entwicklung und Standardisierung von kundenspezifischen Prüfverfahren aktiv weiter voran.

Sekura: Auch Kunststoffkomponenten müssen auf ihre Wasserstofftauglichkeit überprüft werden. Bei Rohrleitungen geht es vor allem um die minimale Durchlässigkeit beziehungsweise Permeation sowie die Druckbeständigkeit, während bei Dichtungen die Beständigkeit hinsichtlich der Aufnahme von Wasserstoff und die explosive Dekompression im Mittelpunkt stehen. Hinzu kommt bei thermoplastischen Werkstoffen die Prüfung der Resistenz hinsichtlich Blistering und Buckling als mögliche Schadensformen.

Über welche Eigenschaften verfügen H2-verträgliche Werkstoffe?

Engler: Im Wesentlichen muss die Kombination von ausreichender Zähigkeit und ausreichender Festigkeit mit einer mikrostrukturell bedingten niedrigen Diffusionsgeschwindigkeit für Wasserstoff gewährleistet sein. Zudem sollten die Werkstoffe nur eine geringe Anzahl an Fehlstellen oder Inhomogenitäten aufweisen.

Welche heute viel verwendeten Werkstoffe wird man in der Wasserstoffwirtschaft nicht mehr finden?

Engler: Hier wird es zunächst nicht viele Veränderungen geben. Auch in Zukunft werden – in Abhängigkeit von den Betriebsbedingungen – alle bereits jetzt verwendeten metallischen Werkstoffe eingesetzt. Mögliche Veränderungen sind eher auf andere Einflussfaktoren zurückzuführen. So wird man aufgrund der Teuerung bei einigen Werkstoffen wie Nickel und damit bei hochlegierten Stählen aus wirtschaftlichen Gründen vor der Herausforderung stehen, alternative Werkstoffe oder funktionierende Beschichtungen zu finden.

Bei Verwendung unlegierter und niedrig legierter Stähle müssen bei Wasserstoffanwendungen möglichweise die zulässigen Belastungsgrenzen abgesenkt oder festigkeitssteigernde und in diesem Zusammenhang nicht sensibilisierende Maßnahmen entwickelt und geprüft werden.

Sekura: Auch für Kunststoffe gilt: Solange die Wasserstoffbeständigkeit gegeben ist, können sämtliche Kunststoffe weiterhin verwendet werden. Dies verlangt zusätzlich neue Entwicklungen in den Bereichen Compoundierung und Oberflächenmodifikation beziehungsweise Strukturierung von Layern in Verbundbauteilen.

Wie wirkt sich das auf die Produktentwicklung aus?

Sekura: Die Auswahl an Konstruktionswerkstoffen wird vermutlich erst einmal größer, da im Bereich der Werkstoffentwicklung sehr viel geforscht wird. Die Materialkosten für bewährte Werkstoffe werden im Verlauf der Transformation eher sinken, da zum einen zwar die Nachfrage, aber zum anderen auch das Produktionsvolumen zunehmen wird. Aus technischen und wirtschaftlichen Gründen wird sich mit der Zeit wahrscheinlich eine limitierte Auswahl an Werkstoffen herauskristallisieren, die breite Verwendung in unterschiedlichen Branchen finden.

Beobachten Sie, dass sich Werkstoffanbieter auf die Wasserstoffwirtschaft einstellen?

Engler: Ja, es gibt zunehmend Bestrebungen, niedrigpreisige wasserstoffbeständige Werkstoffsysteme zu entwickeln. So erkennen wir beispielsweise einen Trend, hochlegierte und hochpreisige Stähle zu ersetzen. Das ist aus unserer Sicht eine Reaktion darauf, dass bei der Produktentwicklung im Wasserstoffumfeld die wirtschaftlichen Aspekte zunehmend in den Vordergrund rücken.

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