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Open Access 2023 | OriginalPaper | Buchkapitel

„We should all be feminists“ – Kapitalismuskritik als sozial-emanzipatorisches Projekt

verfasst von : Ingrid Kurz-Scherf

Erschienen in: Transformation und Emanzipation

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Die Politische Ökonomie moderner Gesellschaften steht in engen Wechselbeziehungen mit ihrer politischen Kultur. Wenn sich große Teile „der Wirtschaft“, der Wirtschaftspolitik wie auch der Wirtschaftswissenschaften (ähnlich wie die Außen- und Sicherheitspolitik) immer noch als bestens gesicherte Reservate „hegemonialer Männlichkeit“ präsentieren, dann geht es sowohl um Macht und Reichtum wie aber auch um die Kodifizierung und Normativierung von Sprache, Gebaren, Kleidung, Sexualität, Freizeit, Hobbies etc. Dabei ist durchaus offen, welche Seite der Befestigung von Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnissen – die materielle oder die immaterielle, die systemische oder die symbolische, die soziale oder die kulturelle – diesen zu mehr Stabilität und Immunität gegen Veränderungsdruck verhilft. Mitzudenken ist: Wenn Arbeit und Individualität, Leben, Politik, Kultur etc. als vollständig bestimmt von der kapitalistischen Wirtschaftsweise betrachtet werden, schlägt Kritik um in Affirmation, weil sie die Möglichkeit widerständigen Denkens und Handelns noch nicht einmal mehr theoretisch erkennen kann. Es gilt, das emanzipatorische Versprechen der Moderne von seinen androzentrischen Verzerrungen und Verkürzungen zu befreien – allerdings ohne die Notwendigkeit von Arbeitskämpfen, Sozialpolitik, Verteilungskonflikten sowie armuts- und ethnizitätssensiblen Aktualisierungen der sozialen Frage zu verleugnen.

„We should all be feminists!“

… spätestens seit der Modeschöpfer Dior T-Shirts mit dem Schriftzug dieses Aufrufs der Nigerianerin Chimamanda Ngozi Adichie kreierte, die dann von Luxusmodels über die Laufstege der Haute Couture getragen und im Internet für 650 € zum Kauf angeboten wurden, wissen wir: Feminismus ist en vogue. Dass es sich dabei um einen eher oberflächlichen Hype handeln könnte, hatten wir 2008/9 schon vorausgeahnt angesichts der Tendenzen zur Bewältigung der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise „auf Kosten von Frauen“. Diesen Tendenzen folgte und folgt das Krisenmanagement in der Corona-Pandemie in noch ausgeprägterer Weise. Seit dem 24. Februar 2022, also seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine, sind wir nicht nur mit dem furchtbaren Leid, das der Krieg über die ukrainische und die russische Bevölkerung gebracht hat, konfrontiert. Wir erleben auch eine – dieses neuerliche Scheitern der Zivilisation „nebenbei“ begleitende – Inszenierung tradierter Geschlechterstereotypen mit der darin enthaltenen hegemonialen Männlichkeit in ihrer archaischen Form des Kriegers und der damit korrespondierenden „subalternen Weiblichkeit“ in der Form des Opfers. Dennoch: Vielleicht ist der gender code dieses Krieges und seiner medialen Vermittlung wirklich nur ein „Nebenwiderspruch“ des furchtbaren Geschehens, denn wir wissen spätestens seit der Studie von Margarete Mitscherlich aus 1985 über „die friedfertige Frau“, dass es sich dabei um einen Mythos handelt.
Andererseits zeugt die Prominenz des Slogans von Chimamanda Ngozi Adichie tatsächlich auch von einem seit Jahren zu beobachtenden weltweiten Aufschwung von Frauenbewegungen, wie er sich nicht nur durch #Metoo, sondern auch in vielfältigen mehr oder minder eindrucksvollen Kämpfen und Aktivitäten manifestiert – wie zum Beispiel in anhaltenden Protesten und Frauen*Streiks gegen sexistische Gewalt, gegen die Diskriminierung von Frauen beim Zugang zu Macht, gesellschaftlicher Teilhabe und Einkommen. Der Aufschwung lässt sich nicht zuletzt auch an der exponierten Rolle von Frauen in ganz unterschiedlichen sozialen Konflikten wie aber auch auf vielen anderen Feldern der Innovation und Transformation ablesen. Feminismus gilt schon seit einiger Zeit in der Kunst und im Kulturbetrieb als weithin akzeptierte Avantgarde. In Teilen der Wissenschaft und der Politik fungieren Feminismus und kritische Genderkompetenz längst als Gütesiegel von Progressivität – wie z.B. aktuell im Iran und den dortigen Bürgerbewegungen.
In der Bundesrepublik Deutschland hat Feminismus neuerdings laut Koalitionsvertrag der amtierenden Regierungsparteien sogar den Status einer neuen Staatsräson in der Außenpolitik. Die zuständige Ministerin begründete das Konzept mit einem erweiterten Sicherheitsbegriff, der gegenüber militaristischen Sicherheitskonzepten den „Blick weite für alle Opfer in Kriegen“ und an den auch der internationale Diskurs um human security anknüpfe. Dabei handele es sich keineswegs um „Gedöns“, wie einige ewig Gestrige immer noch glaubten. Feministische Außenpolitik sei vielmehr „auf der Höhe der Zeit, auf der Höhe der Verantwortung“ (Baerbock 2022). Ob nun allerdings die deutsche Außenpolitik tatsächlich ein feministisches Profil – auch im Sinn der weit überwiegend strikt pazifistischen, über 100jährigen Tradition feministischer Friedenspolitik – entwickelt oder ob das Prädikat „feministisch“ nicht eher als Legitimationsressource genau jener neuen, durch den Ukraine-Krieg provozierten Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik instrumentalisiert wird, gegen die es sich eigentlich richtet, erscheint aktuell (Anfang 2023) noch durchaus fraglich. Dabei könnte eine Außenpolitik mit feministischer Orientierung nicht nur eine umfassende Perspektive auf die Opfer und die Kosten von Krieg und Gewalt gewinnen, es könnte sich ihr auch ein zivilgesellschaftlich erweiterter Politikbegriff erschließen (vgl. Harders 2008). Ich meine hier u.a. die Möglichkeit einer von Frauenbewegungen angestoßenen Neubelebung der Friedensbewegungen, die – vielleicht im Verbund mit gleichgerichteter Regierungspolitik – einer dauerhaften Remilitarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik wirksam entgegenwirken. Tatsächlich gibt es Indizien für ein allmähliches Erstarken von Friedensinitiativen in Russland und in der Ukraine mit starker Beteiligung von Frauen. Überwiegend scheint der russische Krieg gegen die Ukraine nicht nur die Friedens- sondern auch die Frauenbewegung in tiefe Verunsicherung gestürzt zu haben. Auch auf anderen Feldern hat es den Anschein, dass unterschiedliche Dimensionen gesellschaftlicher Dissiziation eher in die Frauenbewegungen verlängerten, teils sogar von feministischen Diskursen befördert würden, als dass sie der Erosion des Sozialen ebenso wie des Politischen noch wirksam entgegentreten könnten.

In Memoriam Otto Brenner: (feministische) Gesellschafts- und Friedenspolitik als gewerkschaftliche Aufgabe

Eines der grundlegenden Dilemmata feministischer Theorie und Praxis ist die personelle und institutionelle Einbindung in gesellschaftliche Verhältnisse, die in ihren Grundstrukturen und kulturellen Fundamenten auf dem Prinzip der „hegemonialen Männlichkeit“ (Connell 2005) bzw. der „männlichen Herrschaft“ (Bourdieu 2005) basieren. Die feministische Soziologie hat für diese Situation den Begriff der „dissidenten Partizipation“ (Hark 2005) geprägt und diese als strukturell subaltern und mit dem Risiko fragwürdiger „Mittäterschaft“ behaftet analysiert. Die Erfahrung der „dissidenten Partizipation“ ist nun aber keineswegs ein „Privileg“ feministisch orientierter Frauenbewegungen, sondern ein strukturelles, systemisch verankertes Moment moderner Gesellschaften westlicher Prägung, dem sie einerseits ihre Stabilität andererseits aber auch ihre Flexibilität gegenüber dem von sozialen Bewegungen und politischer Opposition entfalteten Veränderungsdruck verdanken. Für die Gewerkschaften manifestiert sich dieser Tatbestand in ihrer Doppelfunktion als Ordnungsfaktor und Gegenmacht in der Konfliktpartnerschaft zwischen „Kapital“ und „Arbeit“. Besondere Bedeutung haben in diesem Kontext Widersprüche und Kämpfe sowohl in verschiedenen wie auch zwischen unterschiedlichen sozialen Bewegungen und oppositionellen Strömungen.
Ein Beispiel mit einer langen historischen Tradition und vielfältigen Varianten ist das Verhältnis zwischen Frauenbewegungen und Arbeiterbewegungen, zwischen feministischen und sozialistischen Optionen auf Weltverbesserung. Otto Brenner, der Namensgeber der Stiftung, deren Jubiläum der Anlass für diese Publikation war, repräsentiert in besonderer Weise das Ringen der Gewerkschaften um eine konstruktive Bewältigung des Konflikts zwischen unterschiedlichen Horizonten gewerkschaftlicher Politik. Er sei sich – so schrieb Werner Thönnessen (1972) in einem Nachruf im SPIEGEL – „des tragischen Widerspruchs“ sehr bewusst gewesen, „in den die Gewerkschaften sich verwickeln, wenn sie, notwendigerweise auf dem Boden der von ihnen bekämpften Wirtschaftsordnung, Verbesserungen durchsetzen, die einerseits den Arbeitnehmern zugutekommen, andererseits die Lebensfähigkeit des Kapitalismus verlängern“. Wahrscheinlich war Otto Brenner sich auch des Problems bewusst, dass Gewerkschaften einerseits soziale Ungleichheit unter „Lohnabhängigen“ korrigieren, weil und insoweit ihre Erfolge auch denen zugutekommen, die über eine vergleichsweise schwache Kampfkraft verfügen. Dass sie aber andererseits – vor allem unter Krisenbedingungen – auch als Motor der Bewältigung von Konflikten zwischen „Kapital und Arbeit“ zum Beispiel „auf Kosten von Frauen“, auf Kosten der sogenannten Randbelegschaften oder auch auf Kosten der sogenannten Dritten Welt fungieren. Unter anderem deshalb beharrte Brenner trotz der von ihm maßgeblich selbst bewirkten Integration der Gewerkschaften in die kapitalistische Gesellschaft bis zu seiner letzten Wortmeldung auf einer grundlegenden „Gesellschaftsreform als gewerkschaftliche Aufgabe“ (Brenner 1971).
Zielmarke war und blieb für Otto Brenner der demokratische Sozialismus. Er hat sich nie von den konkreten Projekten einer Neuordnung von Staat und Gesellschaft nach dem 2. Weltkrieg – wie zum Beispiel die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, die Etablierung einer demokratischen Planwirtschaft und Investitionslenkung – distanziert. „Noch vom Sterbelager“ – so berichtet Gerhard Beier – übermittelte Brenner einer internationalen Arbeitstagung der IGM die Botschaft: „Unser Ziel bleibt unverrückbar dasselbe: eine von materieller und geistiger Ausbeutung befreite internationale Gesellschaft des Friedens, der Völkerverständigung, der sozialen Gleichberechtigung und der vollen demokratischen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ (zitiert nach Beier 1999, S. 65).
Welche Bedeutung Otto Brenner dabei der sogenannten Frauenfrage beimaß, ist mir leider nicht bekannt. Er gehörte jedenfalls zu den ersten Verfechtern des Prinzips der Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen, mit dem sich viele Gewerkschafter bekanntlich durchaus schwer taten. Einer der engsten Mitarbeiter und Berater von Otto Brenner war der bereits oben zitierte „linkssozialistische Intellektuelle“ Werner Thönnessen, der 1957 bei Theodor W. Adorno zu dem Thema „Die Frauenemanzipation in Politik und Literatur der deutschen Sozialdemokratie“ (Thönnessen 1969) promoviert hatte. Werner Thönnessen hat in dieser Promotion den Begriff des „proletarischen Antifeminismus“ geprägt, den er als der „bürgerliche Frauenfeindlichkeit“ durchaus ebenbürtig analysierte.
Er hat in diesem Kontext eine These vertreten, die für das hier behandelte Thema der dissidenten Integration der Gewerkschaften bzw. der dissidenten Partizipation feministischer Frauenbewegungen eine zentrale Bedeutung hat und bis heute in beiden Diskursen, insoweit sie überhaupt aufeinander Bezug nehmen, debattiert wird. Demnach besteht bei den Gewerkschaften und im Feminismus ein enger Zusammenhang zwischen der Radikalität der jeweiligen Gesellschaftskritik und dem Stellenwert der sogenannten Frauenfrage bei den Gewerkschaften bzw. der sozialen Frage in Frauenkämpfen und -initiativen. Praktisch bedeutet das, dass Gewerkschaften und Frauenbewegung partiell durchaus miteinander in Konflikt stehen können, wenn aber der Diskurs abreißt oder gar nicht erst zustande kommt, dann liegt darin zumindest die Gefahr einer Schwächung auch der jeweils eigenen Handlungspotentiale.
Es gab von Anfang an sowohl in der Frauenbewegung wie auch in der Arbeiterbewegung Bemühungen um wechselseitige Anerkennung und Unterstützung auch und insbesondere in grundsätzlichen Fragen, aber das Ringen um eine Verbindung zwischen den jeweiligen Kämpfen um Anerkennung und Teilhabe führte in der Praxis nur zur Spaltung der Frauenbewegung, die aber der Arbeiterbewegung und ihren Vordenkern auch in ihren sozialistisch-klassenkämpferischen Strömungen suspekt blieb.

Jenseits der falschen Konfrontation zwischen System-, Sozial- und Kulturkritik

Konflikte ebenso wie Überschneidungen zwischen feministischen und gewerkschaftlichen Diskursen betreffen auf beiden(!) Seiten sowohl immaterielle, kulturelle wie auch materielle und politische Dimensionen und Komponenten von Ungleichheitskonstellationen. Die soziale Frage ist verwoben mit Geschlechterstereotypen und -hierarchien ebenso wie umgekehrt Klassenverhältnisse, Rassismus, Antisemitismus, Behindertenfeindlichkeit oder Altersdiskriminierung auch in den Geschlechterverhältnissen wirksam werden. Es geht dabei zum Beispiel
  • um anthropologische Grundannahmen mit habituellen Befestigungen in Geschlechterstereotypen und heteronormativen Verhaltenskodizes bei Gewerkschaften, die sich u.a. als geschlechtsspezifische Lohnunterschiede materialisieren;
  • oder um den wachsenden Einfluss von queer-feministischen Entwürfen der Geschlechterpluralität jenseits des Dualismus von Männlichkeit und Weiblichkeit, die strukturelle Verankerung der Geschlechterhierarchie in der politischen Ökonomie moderner Gesellschaften aber weitgehend ignorieren.
Die Dynamiken im Verhältnis zwischen der sogenannten Frauen- und der sogenannten sozialen Frage haben insofern eine besondere Relevanz, als sie besonders tief in den Grundkonstruktionen des Politischen Systems und der politischen Kultur moderner Gesellschaften verankert und maßgeblich an den Verschränkungen der objektiven und der subjektiven Seite von Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen und damit auch an den gesellschaftlichen und individuellen Dimension und Potentialen von Dominanz und Emanzipation beteiligt sind. Die Überlagerung der materiellen und immateriellen Dimensionen von Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen verweist unmittelbar auf die Politische Ökonomie moderner Gesellschaften. Wenn sich große Teile „der Wirtschaft“, der Wirtschaftspolitik wie auch der Wirtschaftswissenschaften (ähnlich wie die Außen- und Sicherheitspolitik) immer noch als bestens gesicherte Reservate „hegemonialer Männlichkeit“ präsentieren, dann geht es sowohl um Macht und Reichtum wie aber auch um die Kodifizierung und Normativierung von Arbeit, Sprache, Verhalten, Kleidung, Sexualität, Freizeit, Hobbies etc. Dabei ist durchaus offen, welche Seite der Befestigung von Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnissen – die materielle oder die immaterielle, die systemische oder die symbolische, die soziale oder die kulturelle – diesen zu mehr Stabilität und Immunität gegen Veränderungsdruck verhilft.
Auch die Kritik der Politischen Ökonomie in ihren vielfältigen Varianten ist längst nicht frei von androzentrischen Verkürzungen und Verzerrungen. Zwar haben sich die wechselseitig durchaus aggressiven Spannungen zwischen feministischen und nicht-feministischen Forschungs- und Politikansätzen mittlerweile deutlich abgeschwächt. Die Tonlage ist freundlicher, einzelne Autoren, Kollegen und Genossen sind offener und gesprächsbereiter. Allerdings beschränkt sich die Anerkennung feministischer Ansätze in der Politischen Ökonomie und ihrer Kritik weitgehend darauf, Mindeststandards der personellen Repräsentation feministischer Forschung und Politik auf zu beachten. Dabei lösen sich Geschlechterhierarchien aber keineswegs auf. Sie unterliegen vielmehr einem ständigen Formwandel und verschieben sich gleichsam nur „nach oben“ insofern als sich die Spitzen der sozialen Hierarchien als besonders resistent gegen die feministische Herausforderung erweisen. Vielfach bestätigt sich die feministische Erwartung, dass sich der Zuwachs an personeller Repräsentanz von Frauen an einer gleichsam nach oben verschobenen „gläsernen Decke“ bricht und keineswegs automatisch mit einer inhaltlichen Revision androzentrischer Konzepte einhergeht. Insbesondere was paradigmatische Grundannahmen dominanten Denkens und Handelns betrifft, befindet sich der feministische Diskurs weiterhin häufig in der Situation dissidenter und subalterner Partizipation (Hark 2005).
Die Gewerkschaften präsentieren sich beispielsweise dank einer lebendigen gewerkschaftlichen Frauenbewegung in ihrer Personalstruktur längst nicht mehr als unangefochtenes „Arbeitnehmerpatriarchat“ (Pinl 1977). Ob sie sich allerdings auch programmatisch von jenem „proletarischen Antifeminismus“ gelöst haben, der sich traditionell mit der Verankerung eines spezifisch gewerkschaftlichen Habitus hegemonialer Männlichkeit paart, erscheint (noch?) einigermaßen fraglich. Im Hintergrund der – traditionell das gewerkschaftliche Verständnis der Politischen Ökonomie moderner Gesellschaften westlicher Prägung kennzeichnenden – zentralen Konflikte zwischen „Kapital“ und „Arbeit“ oder auch zwischen „Staat“ und „Markt“ sichern androzentrische Arrangements und strukturelle Befestigungen „männlicher Herrschaft“ auf beiden Konfliktseiten immer noch eine stabile „Konfliktpartnerschaft“. Die oft nicht leicht erkennbaren „fraternal contracts“ (Pateman 1988) im Hintergrund der Politischen Ökonomie moderner Gesellschaften drosseln nicht nur das Tempo der Fortschritte von Gleichberechtigung und Emanzipation auf zermürbende Langsamkeit, sondern lenken sie zum Teil auch in problematische Richtungen. Beispielsweise in Form einer Universalisierung „hegemonialer Männlichkeit“ als Verhaltenscodex in Führungspositionen, der auch gegenüber der durchaus wachsenden Anzahl von Frauen in Leitungsfunktionen wirksam wird.
Immerhin wird mehr und mehr akzeptiert, dass feministisches Denken und Handeln gegenüber den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts insofern einen gewissen Erkenntnisvorsprung hat, weil es Probleme und Anliegen von Personen und Gruppen adressiert, die von den mainstreams in den jeweiligen Abteilungen, Ressorts und Disziplinen üblicherweise vernachlässigt oder auch ganz übersehen werden. Denn diese mainstreams orientieren sich vorrangig an der Lebensrealität von Männern und an Politikstilen und -mustern, die mehr oder minder stark geprägt sind von der „Dominanzkultur“ (Rommelspacher 1995) hegemonialer Männlichkeit mit ihrer multiplen Distinktionslogik gegenüber Frauen, unter Männern und in der theoretischen und praktischen Auseinandersetzung um Heteronormativität. In zunehmendem Maße erfassen nun aber ehemals marginalisierte oder externalisierte Probleme und Anliegen auch Bevölkerungsgruppen, die davon bislang weitgehend verschont blieben – wie etwa die sich immer weiter ausbreitende Prekarität von Arbeits- und Lebensbedingungen, die mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder auch die Stigmatisierung von nicht oder nur eingeschränkt erwerbstätigen „LeistungsempfängerInnen“ als im Grunde überflüssige und parasitäre „KostgängerInnen der LeistungsträgerInnen“. Chauvinistische Züge entfalten die modernen Arbeitsgesellschaften traditionell vor allem gegenüber Tätigkeiten, die außerhalb oder am unteren Rand der beruflichen Statushierarchien verrichtet werden – eine Stigmatisierung, die sich in Krisensituationen, wenn sich vermeintlich unproduktive Arbeit als besonders „systemrelevant“ offenbart, oft als eine absurde Umkehr der tatsächlichen Verhältnisse erweist. Dass die neue Begrifflichkeit der „Basisarbeit“ (vgl. denkfabrik-bmas.de), die die offizielle Arbeits- und Arbeitsmarktpolitik neuerdings in den Arbeitsdiskurs eingebracht hat, wirklich zu einer Korrektur verfehlter Werthierarchien in der Politischen Ökonomie beitragen kann, ist eher unwahrscheinlich - zumal der Gendercode der Wertschätzung von Arbeit in dieser Initiative bislang nur eher oberflächlich beachtet wird.

Kapitalismuskritik als sozial-emanzipatorisches Projekt

Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den System- und Subjektkomponenen der sozialen Konstruktion von Gesellschaft, das Ineinandergreifen unterschiedlicher Komponenten gesellschaftlichen Kooperation und Reproduktion wird seit jeher kontrovers diskutiert. Dabei überwiegt allerdings eine Tendenz zur Verselbständigung und zur Ablösung der gesellschaftlichen Teilsystem von den Zusammenhängen, in denen sie sich entwickeln und funktionieren. Dies gilt in besonderer Weise für die Befassung mit der Ökonomie des modernen Lebenszusammenhangs, die in ihren Strukturen und Funktionsweisen überwiegend geradezu als ein „geschlossenes System“ betrachtet wird, das allerdings die Funktionsbedingungen und Handlungsoptionen in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen weitgehend determiniert.
Feministische Konzepte der Politischen Ökonomie gehen demgegenüber davon aus, dass sich „europäische Gesellschaften auf ungleichzeitige Weise als sich industrialisierende, kapitalistische, moderne, bürgerlich-patriarchale, nationalstaatlich (bzw. imperial) verfasste und in unterschiedlichem Ausmaß ethnisierte Gesellschaften“ (Knapp 2012, S. 432) entwickeln. Dabei gehört „die Erkenntnis, dass und in welcher Weise weite Teile des Lebens und der Sorge […] im Verlauf der Geschichte unter (markt- und privat)wirtschaftliche Belange untergeordnet worden sind und wie dies die Funktionsweise des Kapitalismus überhaupt erst ermöglicht [hat]“ (Aulenbacher et al. 2015, S. 150) zu den Essentials feministischer Kapitalismuskritik. Sie basiert auf dem Wissen, dass es sich bei den modernen Gesellschaften westlicher Prägung „um herrschaftsförmige Konstellationen handelt, in denen mindestens drei Herrschaftslogiken und -verhältnisse zusammenwirken: der Androzentrismus und geschlechtsbasierte Herrschaft, der Eurozentrismus und ethnizitätsbasierte Herrschaft, der Kapitalismus und klassenbasierte Herrschaft, entlang derer Markt- und Verwertungsimperative Vorrang erhalten und zur Entfaltung gelangen, die Care-Ökonomie hintangestellt und der Raubbau an der Natur vollzogen werden“ (ebd.).
Aulenbacher et al. betonen, dass aus ihrer Sicht „feministische Kapitalismuskritiken […] keine überlegene Geltung beanspruchen können – und dies […] auch nicht tun“ (ebd., S. 154). Der Geltungsanspruch der vom Geschlechterverhältnis ausgehenden und auf das Geschlechterverhältnis bezogenen feministischen Theorie hat zwar durchaus auch die Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse im Blick, erhebt aber nicht den Anspruch, diese aus der Analyse der Geschlechterverhältnisse heraus in ihren Grundstrukturen erfassen und erklären zu können; behauptet wird lediglich, dass die Kategorie Geschlecht in allen Herrschaftsverhältnissen und Emanzipationsbewegungen eine Rolle spielt – und zwar analytisch ebenso wie praktisch.
Theoretisch könnte die Kapitalismuskritik in ihren vielfältigen Varianten ihren Anspruch analog begrenzen, also nur noch behaupten, dass das Kapitalverhältnis und die sich daraus begründenden Klassenverhältnisse in allen gesellschaftlichen Phänomenen und Entwicklungen wirksam sind, sich aber dennoch nicht allein vom Kapitalverhältnis und den Klassenverhältnissen her begreifen lassen. Eine solche Revision tangiert allerdings einen neuralgischenden Punkt linker Theorie und Praxis, nämlich den ursprünglich in der marxistischen Kapitalismuskritik theoriesystematisch verankerten Anspruch auf überlegene Geltung – und zwar sowohl theoretisch wie auch politisch-praktisch: Die „Perspektivierung“ des gesellschaftlichen Strukturzusammenhangs „vom Kapitalverhältnis ausgehend“ hierarchisiert auch die politischen Kräfte, Gruppierungen, Institutionen, Theorien und Personen, die verschiedene Herrschaftsverhältnisse und Emanzipationsansprüche repräsentieren. Die Perspektivierung des gesellschaftlchen Stukturzusammenhangs vom Geschlechterverhältnis ausgehend verweist in feministischer Akzentuierung demgegenüber auf die Interferenz verschiedener Dimensionen gesellschaftlichen Realität und auf Vermittlung und Kooperation zwischen unterschiedlichen Strömungen des sozialen Protests und politischer Opposition.
Die relative Dominanz der verschiedenen Herrschaftslogiken unterliegt dem historischen Wandel – nicht zuletzt je nach den sich an ihnen entfachenden sozialen Kämpfen. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Brisanz sozialer Ungleichheit auch unter Frauen und der Zuspitzung ökonomisch induzierter Risiken und Probleme, die Frauen oft in besonderer Weise und in besonderem Ausmaß betreffen und des sich parallel dazu neuerdings wieder verschärfenden Antifeminismus, gewinnt die Kapitalismuskritik dementsprechend auch in feministischen Milieus (wieder) eine systematische Priorität, obwohl die „Ehe“ zwischen Feminismus und Marxismus doch schon als unwiderruflich gescheitert galt (vgl. Klinger 1998).
„Der Kapitalismus“ gerät dann allerdings auch in feministischen Diskursen manchmal zur Quelle allen Übels schlechthin: Es wird so getan, als ob sich die Lage und Stellung von Frauen unter den Bedingungen einer entwickelten kapitalistischen Wirtschaftsweise gegenüber mittelalterlichen Verhältnissen verschlechtert habe; als ob die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen nur oder in erster Linie dem kapitalistischen Zwang zur Vermarktung aller Arbeitskraft und nicht auch der fortschreitenden Emanzipation von der Beschränkung auf die häusliche Sphäre folge; als ob die Erweiterung des Spektrums der Möglichkeiten der Lebensgestaltung von Frauen nur oder vorrangig ihrer Assimilation an männliche Vorgaben und nicht auch ihrer Selbstbefreiung aus Abhängigkeit und „Magdseligkeit“ (Hedwig Dohm) gefolgt wäre; als ob es den Ausbau sozialstaatlicher Vorsorge im Bereich der Kinderbetreuung und der Altenversorgung im Zeitalter der Hegemonie des Neoliberalismus gar nicht gegeben habe oder nur der Tendenz zur Vermarktlichung alles menschlichen Tuns, nicht aber auch dem Druck der Frauenbewegung, Rechnung getragen habe. Auch die Frauenbewegung, die nicht all ihr Streben und Trachten „irgendwie“ auf den Kapitalismus bezieht und sich auch noch mit anderem befasst als der sozialen Frage, gerät in den Verdacht, damit genau das zu tun, was sie aus Sicht des „proletarischen Antifeminismus“ schon immer getan hat, nämlich: Verrat an der „Sache der sozialen Sicherheit, des Wohlstands, und der Würde der Arbeiterklasse zugunsten falsch verstandener Emanzipationsvorstellungen in Sachen Meritokratie, Vielfalt und Empowerment“ (Fraser 2017, S. 76).
Dennoch folgt auch die neuere, wieder unmittelbar an Karl Marx anschließende feministische Kapitalismuskritik keineswegs dem imperialen, ins Totalitäre tendierenden Gestus androzentrischer Kapitalismuskonzepte. Care-Debatten übertragen teilweise die marxistische Begrifflichkeit von Produktion und Reproduktion auf damit bislang nicht erfasste Felder bezahlter und unbezahlter Sorgetätigkeiten; sie verändern damit aber zugleich nicht nur den Inhalt dieser Kategorien, sondern auch ihren gesellschafts- und kapitalismustheoretischen Status. Frigga Haug greift zur Auseinandersetzung mit den Geschlechterverhältnissen auf das Marx’sche Konzept der Produktionsverhältnisse zurück, dabei geht es ihr aber auch um einen „Umbau des Begriffs der Produktionsverhältnisse derart, dass die Produktion des Lebens wie der Lebensmittel gleichermaßen inbegriffen ist“ (Haug 2015, S. 1897).
Unterschiedliche Perspektiven auf den gesellschaftlichen Zusammenhang zwischen verschiedenen „Achsen der Differenz“ im Sinn sozialer Ungleichheit ebenso wie im Sinn kultureller Vielfalt fasst der feministische Diskurs mit dem Konzept der Intersektionalität. Der diesbezügliche Diskurs bezieht sich vorrangig auf die mit den modernen Herrschaftsfomationen Kapitalismus, (Post-)Kolonialismus und Patriarchat (bzw. Androzentrismus und Heteronormativität) verbundenen Ungleichheitsachsen class, race und gender. Mit diesem Konzept hat die Überwindung von Diskurssperren zwischen Gewerkschaften und Frauenbewegungen im feministischen Diskurs ein theoretisches Fundament, das durchaus offen ist für die kritische Adoption im gewerkschaftlichen Diskurs. Mit der intersektionalen Kommunikation und Kooperation zwischen Frauenbewegungen und Gewerkschaften könnte dann auch die „transsektionale“ Perspektive auf die gesellschaftliche Realität „als Ganzes“, also auf Herausforderungen, die den Horizont spezialisierter Teilperspektiven sprengen, gestärkt werden.

Politische Ökonomie der Ermöglichung guten Lebens in Freiheit und Gerechtigkeit

Feministische Konzepte der Kritik der Politischen Ökonomie verfolgen gegenüber anderen Ansätzen (insbesondere auf der Grundlage eines umfassenden Arbeitsbegriffs) einerseits ein erweitertes Verständnis von Ökonomie, deren Allmacht sie gleichzeitig widersprechen. So plädiert beispielsweise Nancy Fraser auf der Grundlage eines – nach eigener Einschätzung – „orthodoxen“, eng an Karl Marx angelehnten Konzepts der Politischen Ökonomie und ihrer Kritik für eine systematische, praktisch und theoretisch abgestützte Integration anderer Kritikperspektiven: „We must connect the Marxian perspective to feminist, ecological and political-theoretical perspectives – state-theoretical, colonial/post colonial and transnational.“ (Fraser 2014, S. 66)
Nancy Fraser und Rahel Jaeggi verweisen auf die oft nicht hinlänglich reflektierten Kriterien der Kapitalismuskritik, und deren daraus resultierenden politischen, moralischen und ethischen Defizite. Mit Jaeggi und Fraser lassen sich drei „Dimensionen der Kritik“ unterscheiden:
  • Analytische Kritik an der Struktur und Entwicklungsdynamik der kapitalistischen Wirtschaftsweise einschließlich der darin enthaltenen inneren Widersprüche und Funktionsdefizite.
  • Normative Kritik, die sich unterteilt in moralische Kritik nach Kriterien der sozialen Gerechtigkeit sowie ethische Kritik nach Kriterien der Qualität, Authentizität und Sinnhaftigkeit des Lebens und der Arbeit.
  • Politische Kritik „des Potentials für emanzipatorische gesellschaftliche Transformation“, das sich bei Marx in der Form des Klassenkampfs und einer gewaltsamen Revolution realisiert, in einer feministisch erweiterten Perspektive aber auch andere Formen sozialer Bewegung und politischen Handelns (mit einer potentiell ebenfalls durchaus revolutionären Qualität) annehmen kann.
Einen zentralen Stellenwert für die Integration feministischer Theorie und Praxis in die Kritik der Politischen Ökonomie hat der Gesichtspunkt der Care Ökonomie. Dabei geht es keineswegs nur um eine angemessene Berücksichtigung des Dienstleistungssektors und der privaten Haushaltsökonomie, die nicht nach den gleichen Logiken wie die Industrie- und Finanzkonzerne zu begreifen sind. Es geht vielmehr um einen grundlegenden Paradigmenwechsel der Politischen Ökonomie moderner Gesellschaften nach Maßgabe des „Prinzips der Lebenssorge“ (Klinger 2022) und der Ermöglichung von Lebensfreude. Politische Ökonomie und ihre Kritik enthalten mindestens implizit normative Setzungen und basieren auf mehr oder weniger vagen oder konkreten Vorstellungen von Ökonomie als einer notwendigen Bedingung und Form der Ermöglichung eines guten Lebens. Diese Vorstellungen haben allerdings oft die Qualität von „Heile-Welt-Phantasien“, die es erst in die Form und den Inhalt einer konkreten Utopie zu übersetzen gilt, die dem Handeln im Hier und Jetzt Orientierung geben kann.
Ich möchte abschließend eine Strategie der Kritik der Politischen Ökonomie moderner Gesellschaften vorschlagen, die auch die kapitalistische Wirtschaftsweise in den Zusammenhang des „ewigen“ Strebens – mit den zwei, in ihrem konkreten Inhalt immer wieder neu auszuhandelnden Seiten des Guten, also einerseits im Sinn von Wohlstand und Wohlergehen und andererseits im Sinn von Ethik und Moral – nach einem möglichst „guten Leben“ stellt. In den Zusammenhang also der historisch und systematisch widersprüchlichen Dynamik von Herrschaft und Emanzipation, des widersprüchlichen Ineinandergreifens von Ökonomie, Politik, Ethik und Moral, von Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart, von Bedürfnissen und der zu ihrer Befriedigung notwendigen Arbeit bzw. zur Verfügung stehenden Ressourcen.
Die kapitalistische Ökonomie in ihren komplexen Zusammenhängen zu begreifen, heißt nicht, dass man sich diese Zusammenhänge aus der Analyse der inneren Logik der Ökonomie erschließen kann. Wenn Arbeit und Individualität, Leben, Politik, Kultur etc. als vollständig bestimmt von der kapitalistischen Wirtschaftsweise betrachtet werden, so verkehrt sich Kritik in Affirmation. Arbeit ist nicht nur Lohnarbeit und sie dient nicht nur der Kapitalverwertung: Obwohl Arbeit nie ganz unabhängig von der kapitalistischen Wirtschaftsweise ist, ist sie auch Berufstätigkeit, Teil der Selbstverwirklichung, Bedingung und Form der Befriedigung von Bedürfnissen, Grundlage des Lebensunterhalts etc. Die kapitalistische Ökonomie tendiert zur Konzentration. Dennoch können dauerhaft kleinbetriebliche Wirtschaftseinheiten ihr nicht umstandslos zugeordnet werden – obwohl auch Kleinbetriebe und (Allein)Selbständige auf mannigfache Weise in die kapitalistische Wirtschaftsweise einbezogen sind.
Die kapitalistische Ökonomie ist auch nicht identisch mit dem gesamten Geschehen in Großbetrieben, Großkonzernen und Finanzinstitutionen. Zwar dominiert der Zweck der Kapitalakkumulation das betriebliche Geschehen, gleichwohl fließen auch andere Zwecke in dieses Geschehen ein. Dazu zählen etwa die Interessen von Beschäftigten und (potentiellen) KundInnen, die durch Gesetze, Verordnungen, Auflagen, Steuern und Abgaben repräsentierten öffentlichen Belange sowie nicht zuletzt die Ansprüche des zivilgesellschaftlichen Umfelds, denen Großunternehmen mittlerweile durch ein aufwendiges Reputationsmanagement Rechnung tragen. Kapitalismus als Bereicherungs- und Herrschaftsprojekt wird in seinen Metropolen von der Zustimmung, Nachahmung und Mittäterschaft großer Teile der Bevölkerung getragen. Die kapitalistische Wirtschaftsweise fungiert weltweit als Hoffnungsträger für Wohlstand und Demokratie. Wahrscheinlich müsste die Kapitalismuskritik diese Tatsache erst einmal akzeptieren, um sie wirkungsvoll kritisieren zu können – sei es auf dem Wege der Ideologiekritik, der Dekonstruktion falscher Vorstellungen und Hoffnungen oder auch als offene Frage danach, wovon wir eigentlich reden, wenn wir von Kapitalismus reden und was am Kapitalismus oder an unserer Vorstellung von Kapitalismus eigentlich falsch ist – auch und insbesondere unter Berücksichtigung denkbarer und machbarer Alternativen.
Es gilt, dem in der Politischen Ökonomie und insbesondere in ihrer Kritik bei Karl Marx traditionell enthaltenen „emanzipatorischen Versprechen“ nicht nur gegen alle teleologischen Verheißungen und Gewissheiten, sondern auch gegen alle Sehnsüchte nach einer heilen Welt und einer konfliktfreien, aller Notwendigkeit und aller Mühsal enthobenen Gesellschaft die Treue zu halten. Und es gilt, das emanzipatorische Versprechen der Moderne von seinen androzentrischen Verzerrungen und Verkürzungen zu befreien – allerdings ohne die Notwendigkeit von Arbeitskämpfen, Sozialpolitik, Verteilungskonflikten sowie armuts-, geschlechts- und ethnizitätssensiblen Aktualisierungen der sozialen Frage zu verleugnen. Die feministische Kapitalismuskritik beinhaltet – teils explizit, teils implizit, teils schon ausgearbeitet, teils erst angedeutet – Öffnungen des Selbstverständnisses und des Horizonts der Kritik der politischen Ökonomie. Dies gilt erstens im Sinn einer systematischen Integration von analytischen, normativen (ethischen und moralischen) und politischen Dimensionen der Kritik, zweitens im Sinn einer Vermittlung zwischen Geschichte und Utopie in der Gegenwart, drittens im Sinn einer Verbindung zwischen systemischen und lebensweltlichen bzw. subjektbezogenen Facetten, viertens im Sinn einer Verknüpfung von materiellen und immateriellen Aspekten und von ganz unterschiedlichen Formen und Inhalten der politischen Ökonomie des ganzen Lebens; fünftens schließlich stellt sie die politische Ökonomie moderner Gesellschaften in den Gesamtzusammenhang der diese Gesellschaften prägenden Herrschaftsverhältnisse und Emanzipationsbewegungen.
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Literatur
Zurück zum Zitat Aulenbacher, B., Riegraf, B., & Völker, S. (2015). Feministische Kapitalismuskritik. München: Beck Aulenbacher, B., Riegraf, B., & Völker, S. (2015). Feministische Kapitalismuskritik. München: Beck
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Zurück zum Zitat Brenner, O. (1971). Gesellschaftsreform als gewerkschaftliche Aufgabe: Grundsatzreferat und Schlussrede, gehalten am 30. Sept. und am 2. Okt. 1971 vor dem 10. ordentlichen Gewerkschaftstag der Industriegewerkschaft Metall. Frankfurt am Main: IG Metall (Der Gewerkschafter, Sonderdruck). Brenner, O. (1971). Gesellschaftsreform als gewerkschaftliche Aufgabe: Grundsatzreferat und Schlussrede, gehalten am 30. Sept. und am 2. Okt. 1971 vor dem 10. ordentlichen Gewerkschaftstag der Industriegewerkschaft Metall. Frankfurt am Main: IG Metall (Der Gewerkschafter, Sonderdruck).
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Zurück zum Zitat Thönnessen, W. (1969). Frauenemanzipation, Politik und Literatur der deutschen Sozialdemokratie zur Frauenbewegung 1863–1933. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt Thönnessen, W. (1969). Frauenemanzipation, Politik und Literatur der deutschen Sozialdemokratie zur Frauenbewegung 1863–1933. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt
Metadaten
Titel
„We should all be feminists“ – Kapitalismuskritik als sozial-emanzipatorisches Projekt
verfasst von
Ingrid Kurz-Scherf
Copyright-Jahr
2023
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-39911-5_4