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2022 | Buch

Weshalb auf die Wissenschaft hören?

Antworten aus Philosophie und wissenschaftlicher Praxis

herausgegeben von: Andreas Bartels, Dennis Lehmkuhl

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Über dieses Buch

Pandemie und Klimakrise rufen die herausragende Rolle der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Wissens für Informierung und Orientierung der Gesellschaft sowie für die Beratung der Politik bei der Ausrichtung praktischer Maßnahmen ins Bewusstsein. In diesem Zusammenhang wird die Frage virulent, weshalb der Wissenschaft diese herausgehobene Rolle zukommt. Dass diese Frage trotz der vielbeschworenen Autorität der Wissenschaft alles andere als trivial ist, zeigt sich daran, dass Wissenschaftsskepsis und Relativierung wissenschaftlicher Resultate bis hin zur Wissenschaftsleugnung Einfluss gewinnen, sobald es um konkrete Fragen der Ausrichtung gesellschaftlichen Handelns an der Wissenschaft geht. Wodurch ist also Vertrauen in die durch die Wissenschaft ermittelten Fakten, die in ihren Modellen entworfenen Szenarien und ihre Ratschläge an Gesellschaft und Politik gerechtfertigt? Weshalb soll man der Wissenschaft in besonderem Maße vertrauen und auf ihren Ratschlag hören?
Insgesamt sollen die Beiträge des Buches Aufschluss darüber geben, wodurch die Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaft in ihrer modernen Form gerechtfertigt ist und an welche Bedingungen ihre besondere Rolle in der Gesellschaft geknüpft ist. Was kann Wissenschaft für die Gesellschaft leisten und wo liegen die Grenzen ihrer orientierenden Rolle? Was heißt es „auf die Wissenschaft zu hören“ und was sind die Bedingungen dafür, dass Menschen in einer demokratischen Gesellschaft sich wissenschaftliche Erkenntnisse aneignen und sie als Richtschnur für ihr Handeln verwenden?

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Einleitung und Übersicht
Zusammenfassung
In jüngster Zeit haben Corona-Pandemie und Klimakrise den Wert der Wissenschaft für Überleben und Wohlergehen der Gesellschaft eindrücklich ins Bewusstsein gerückt. Dadurch ist die aufklärende und orientierende Rolle der Wissenschaft auch selbst zum Gegenstand der öffentlichen Debatte geworden. Führende WissenschaftlerInnen sind zu öffentlichen Personen geworden, deren Stellungnahmen und Empfehlungen Aufmerksamkeit und Anerkennung, aber auch Skepsis und Anfeindung auslösen. Warnungen der Wissenschaft vor einer irreversiblen Zerstörung unserer Lebensgrundlagen, die seit vielen Jahrzehnten existieren, werden nun gehört. Ein anderer Teil der Öffentlichkeit beklagt dagegen die vermeintliche Selbstüberhebung der Wissenschaft und zweifelt die Geltung wissenschaftlicher Ergebnisse an oder fordert doch wenigstens, den Einfluss der Wissenschaft auf die gesellschaftliche Entscheidungsfindung zu begrenzen und unter das Primat der Politik zu stellen: Wissenschaft berät, Politik entscheidet. In dieser Situation darf der Ruf „Listen to Science“ nicht weniger differenziert und reflektiert verstanden werden, als es dem modernen Unternehmen Wissenschaft angemessen ist. Sich an der Wissenschaft zu orientieren, ist kein triviales Vorhaben. Das „Hören“ auf die Wissenschaft kann nur angemessen sein, wenn es aus guten Gründen erfolgt. Dies setzt allerdings ein Grundverständnis des Funktionierens von Wissenschaft voraus. Im vorliegenden Buch werden daher aus Sicht verschiedener Wissenschaftsdisziplinen – Klimaforschung, Ökonomie, Physik, System-Immunologie, Technikfolgenabschätzung, Medizinethik, Logik und Wissenschaftsphilosophie – gute Gründe für das „Hören“ auf die Wissenschaft identifiziert und diskutiert.
Andreas Bartels, Dennis Lehmkuhl

AUF DIE WISSENSCHAFT HÖREN: GRÜNDE UND VORAUSSETZUNGEN

Frontmatter
Wissenschaft im Zweifel. Zur Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Forschung
Zusammenfassung
Ich verteidige die These, dass die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft auf der kritischen Prüfung von Geltungsansprüchen durch anspruchsvolle Methoden beruht und hebe Erkenntnisstrategien hervor, die aussagekräftige Untersuchungen und Bestätigungen von wissenschaftlichen Denkansätzen in komplexen Erfahrungsbereichen ermöglichen. In der öffentlichen Wahrnehmung werden die Revision von Forschungsansätzen und wissenschaftliche Kontroversen bei aktiv bearbeiteten Forschungsfragen als Defizit der Wissenschaft wahrgenommen, während es sich tatsächlich um wirksame Erkenntnisstrategien handelt. Andererseits finden sich Beispiele einseitig angelegter Forschung und vorschneller Publikationen von vermeintlichen Forschungsergebnissen, deren Glaubwürdigkeit in der Tat zu wünschen übrig lässt. Insgesamt verteidige ich die Erkenntniskraft der Wissenschaft, zeige aber zugleich auch Schwierigkeiten auf, die durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen heraufbeschworen werden.
Martin Carrier
Vertrauen in die Wissenschaften – was ist das und welche Grundlage hat es?
Zusammenfassung
Das Hören auf die Wissenschaften hängt vom Vertrauen in diese ab. Aber was ist Vertrauen in die Wissenschaften und inwieweit ist es begründet? Auf diese Fragen antwortet der vorliegende Beitrag mit einer Begriffsexplikation. Ihr zufolge bedeutet Vertrauen in die Wissenschaften zunächst einmal, damit zu rechnen, dass das, was von den Wissenschaften als Resultat ausgegeben wird, Wissen bildet oder wenigstens sehr oft stimmt. Es gibt gute Gründe, tatsächlich damit zu rechnen, denn das Wissenschaftssystem enthält Mechanismen, die in der Regel dazu führen, dass wissenschaftliche Resultate besonders gut begründet sind. Aber das Wissenschaftssystem ist keine Maschine, in die wir vertrauen könnten wie in einen Computer. Vielmehr hängt die Gesamtheit der wissenschaftlichen Resultate auch von nichtwissenschaftlichen Werten ab. Daher umfasst Vertrauen in die Wissenschaft auch das Rechnen damit, dass Entscheidungen, die von solchen Werten abhängen, angemessen getroffen werden. Das hat wichtige Konsequenzen dafür, wie Misstrauen in die Wissenschaften entstehen kann.
Claus Beisbart
Chancen und Grenzen mathematischer Modelle in der Pandemiebewältigung
Zusammenfassung
Politische Entscheidungen über Maßnahmen zur Eindämmung von Pandemien müssen auf der Basis wissenschaftlicher Betrachtungen getroffen werden. Dazu können Analysen und Vorhersagen von mathematischen Modellen herangezogen werden. Die Vereinfachung der Realität in diesen Modellen ist gleichzeitig auch deren Stärke, erlaubt sie doch die Unterscheidung von wichtigen und unwichtigen Faktoren für die Pandemiebewältigung. Jedoch muss man sich immer auch der Grenzen der Aussagekraft von Modellen bewusst bleiben. In diesem Beitrag werden die Möglichkeiten und Grenzen von mathematischen Modellen am Beispiel der Corona-Pandemie ab 2019 aufgezeigt. Ein entscheidender Vorteil, der mathematischen Vorhersagen innewohnt, ist der gewonnene Zeitvorteil und die Möglichkeit, präventiv zu agieren. Ein anderer Vorteil ist, dass man scheinbare Interessenkonflikte, wie die zwischen der Wirtschaft und der Gesundheit, auflösen kann. In der realen Pandemie hat sich jedoch auch gezeigt, dass diese Vorteile nicht immer effektiv genutzt wurden, sodass wir noch weit von der Utopie entfernt sind, gesellschaftliche Entscheidungen direkt aus unserem Wissen abzuleiten.
Michael Meyer-Hermann
Über den Erfolg der Physik – Erkenntnisgewinn aus Empirie und Theorie
Zusammenfassung
Anhand von Beispielen wird beschrieben, wie die Naturwissenschaft am Beispiel der Physik anhand von Beobachtungen Hypothesen prüft, wie sie damit zu neuen Hypothesen gelangt, die weitergehende Aussagen erlauben, und wie es diese Aussagen durch empirische Überprüfung ermöglichen, die zugrunde gelegten Hypothesen weiterzuentwickeln oder zu verwerfen. Zentral ist die Grundfigur physikalischen Denkens: Eine wachsende Menge von Phänomenen wird auf eine abnehmende Menge immer abstrakterer Strukturen und Gesetze zurückgeführt. Der gesamten theoretischen Physik liegt ein gemeinsames Prinzip zugrunde, das wiederum wesentlich auf Symmetrieüberlegungen aufbaut. Für die Entwicklung der Physik ist es wesentlich, dass Experimentalphysik und theoretische Physik zusammenwirken: Die Experimentalphysik isoliert und beschreibt die Phänomene; die theoretische Physik erprobt daran Hypothesen, die aus abstrakten Ideen entwickelt werden.
Matthias Bartelmann
Wahrheit in der Wissenschaft
Zusammenfassung
Die Frage nach der Wahrheit stellt sich angesichts von postfaktischer Wahrheitsignoranz dringender denn je. Nach einer Übersicht über zentrale philosophische Wahrheitstheorien werden u. a. die Möglichkeiten und Grenzen wahrheitsrelativistischer Positionen ausgelotet. Wahrheit wird im Sinne eines Wahrheitspluralismus als Eigenschaft von Aussagen verstanden, die sich in verschiedenen Diskursbereichen unterschiedlich ausdrücken kann. Für die (Natur-)Wissenschaften wird ein bestimmter korrespondenztheoretischer Wahrheitsbegriff vorgeschlagen, der eine objektive Realität voraussetzt. Auch wenn wir die Welt stets aus bestimmten Perspektiven sowie theorie-, begriffs- und interessengeleitet wahrnehmen und unsere Erkenntnismethoden fallibel sind, so folgt daraus weder eine Beliebigkeit wissenschaftlicher Methoden noch ein Wirklichkeitskonstruktivismus.
Elke Brendel

DAS BEISPIEL KLIMAWISSENSCHAFTEN

Frontmatter
Klimawandel – mit dem Rücken zur Wand
Zusammenfassung
Der Klimawandel in Form der durch die Menschen verursachten globalen Erwärmung ist eine der größten Herausforderungen, vor der die Menschheit steht. Das Problem ist nur lösbar, wenn alle Länder gemeinsam handeln und schnellstmöglich den Ausstoß von Treibhausgasen stoppen. Die Zeit drängt, die Menschen stehen mit dem Rücken zur Wand.
Mojib Latif
Handlungsoptionen für den Klimaschutz im 21. Jahrhundert
Zusammenfassung
Um den Klimawandel in Grenzen zu halten, muss über die nächsten Jahrzehnte das gesamte Weltwirtschaftssystem umgebaut werden. Die heutige auf der Nutzung von fossilen Energieträgern basierende Wirtschaftsweise wird einen fundamentalen Strukturwandel erfordern, in dem erneuerbare Energien die fossilen Rohstoffe Kohle, Erdöl und Erdgas weitgehend ersetzen. Auf welchen Pfaden und mit welchen Politiken dies wirkungsvoll und möglichst effizient geschehen kann, ist nur mit Hilfe von Wirtschaftsmodellen im Rahmen von Szenarien darstellbar. Auch wenn es Zweifel an der Genauigkeit solcher Modelle gibt, stellen sie die einzige wissenschaftlich fundierte Informationsquelle dar. Entscheidend für die Akzeptanz der auf Szenarioanalysen beruhenden Handlungsoptionen sind der verantwortliche Umgang mit den diesen Modellen inhärenten Unsicherheiten und deren transparente Darstellung.
Gernot Klepper
Konzeptuelle Fragen in den Grundlagen der Klimawissenschaften
Zusammenfassung
Die Philosophie der Klimawissenschaften ist ein Teilgebiet der Wissenschaftstheorie, das sich mit den Methoden und Grundbegriffen der Klimawissenschaften auseinandersetzt. Ziel dieses Kapitels ist es, eine überblickende Darstellung der wichtigsten Probleme und Fragen in den Klimawissenschaften zu liefern. Nach einführenden Erläuterungen sprechen wir im zweiten Abschnitt über das Problem, Klima zu definieren. Im dritten Abschnitt stellen wir Klimamodelle vor. Im vierten Abschnitt diskutieren wir Probleme des Nachweises und der Zuschreibung von Klimawandel. Im fünften Abschnitt untersuchen wir die Bestätigung von Klimamodellen und die Grenzen der Vorhersagbarkeit. Im sechsten Abschnitt besprechen wir Klassifikationen von Unsicherheit und die Verwendung von Modell-Ensembles. Im siebten Abschnitt fassen wir zusammen und bieten einen Ausblick an.
Roman Frigg, Erica Thompson, Charlotte Werndl

DER ZUSAMMENHANG VON WISSENSCHAFT, ETHIK UND POLITIK

Frontmatter
Weshalb wir Wissenschaften im Plural zur Entscheidungsfindung brauchen: das Beispiel Energiewende
Zusammenfassung
Wissenschaft hilft nicht nur Technik zu gestalten, sie hilft ihre Gefahren und Chancen besser abschätzen zu können. Im Umgang mit Technik ist es weniger eine Frage, dass man sich auf Wissenschaft verlassen sollte, als vielmehr, welche Wissenschaft denn hier gehört werden soll. Dieser Beitrag argumentiert für ein pluralistisches Verständnis von Wissenschaft, das auch die Sozial- und Geisteswissenschaften umfasst. Ein rationaler Diskurs über Nachhaltigkeit und andere Aspekte moderner Technik ist nur dann möglich, wenn Wissenschaften im Plural hier Gehör in der Entscheidungsfindung bekommen. Dies wird exemplarisch an der Wende hin zu nachhaltigerer Energie veranschaulicht.
Rafaela Hillerbrand
Wie statistischer Erkenntnisgewinn und Wahrscheinlichkeiten die Ethik verändern
Zusammenfassung
Wissenschaftliche Erkenntnisse basieren heutzutage oft auf statistischen Auswertungen, werden in Wahrscheinlichkeit angegeben und sind nicht selten auf Grundlage von Modellrechnungen entwickelt. Diese Umstände tragen zu einer Abkoppelung der wissenschaftlichen Prognosen von den lebensweltlichen Risikoeinschätzungen der Menschen bei. Situationen wie die COVID-19-Pandemie, die Klimaproblematik oder auch die Nachteile des globalen Handels sind von diesem Phänomen in besonderem Maße betroffen. Gerade auf diesen Gebieten impliziert der Wissenszuwachs neue und weitreichende ethische (Verhinderungs-)Pflichten für die Menschen. In diesem Kapitel wird argumentiert, dass ein gelingendes Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und dem alltäglichen Entscheidungsverhalten der Menschen in diesen Bereichen nur dann entstehen kann, wenn mehrere anspruchsvolle Voraussetzungen erfüllt sind: Das Verständnis von statistischen Erkenntnissen und Wahrscheinlichkeiten muss generell verbessert werden; das Verständnis der hierdurch resultierenden ethischen Implikationen muss als moralischer Fortschritt verstanden werden; und die schwierigen Grenzziehungen für die neuen ethischen Pflichten sowie politischen Notwendigkeiten, die im Rahmen von Risikokontexten notwendig werden, bedürfen einer differenzierten und geduldigen Bearbeitung, anstatt als Ausflucht in ein Weiter-so genutzt zu werden.
Annette Dufner
Politikberatung und Wissenschaft
Zusammenfassung
Grundlage wissenschaftlicher Politikberatung ist der Anspruch des Rechtsstaats, rational zu handeln und gleichzeitig aber die entsprechende Sachkompetenz nicht bereitstellen zu können. Wissenschaftliche Politikberatung (nicht Politikerberatung!) vollzieht sich mittels Gremien, Gutachten und Einzelgesprächen, in Sachverständigenräten, wissenschaftlichen Beiräten, Universitäten, Hochschulen, Landes- und Bundesämtern und Forschungsinstitutionen. Während Wissenschaft erkennen will und darf, muss Politik handeln. Dieser teilweise heftige und erhebliche Handlungs- und Entscheidungsdruck und auch die völlig unterschiedlichen zeitlichen Rahmenbedingungen, in denen Politik und Wissenschaft agieren, spannen ein Konfliktfeld auf, das durchaus produktiv wirksam ist und dessen Wirkung noch verbessert werden könnte. Empfehlungen werden erörtert.
Harald Lesch
Backmatter
Metadaten
Titel
Weshalb auf die Wissenschaft hören?
herausgegeben von
Andreas Bartels
Dennis Lehmkuhl
Copyright-Jahr
2022
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Electronic ISBN
978-3-662-65688-4
Print ISBN
978-3-662-65687-7
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-65688-4