Kap. 9 fragt: Wie muss unser heutiges mentales Modell von Photonen aussehen? Naiv-materialistische Projektil- oder Teilcheninterpretationen des Lichts verteidigten nicht nur Isaac Newton und seine zahlreichen Anhänger vom 17.–19. Jahrhundert, sondern im 20. Jahrhundert noch so bedeutende Experimentatoren wie Johannes Stark oder Arthur Holly Compton. Dagegen setzten Thomas Young, Augustin Fresnel und viele andere Naturforscher des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine ebenso naiv-verabsolutierende Wellentheorie des Lichts, wie sie auch den Maxwell-Gleichungen der elektromagnetischen Strahlung zugrundeliegt. Beide Interpretationsansätze werden dem sich ab 1909 abzeichnenden Welle-Teilchen-Dualismus nicht gerecht. Daher verteidigen die Abschn. 9.1 bis 9.4 eine ontologisch zurückhaltende, instrumentalistische Interpretation, die Vermeidung eines naiven Realismus sowie unberechtigter Lokalitäts-Zuschreibungen. Abschn. 9.5 kommt darüber hinaus noch zu einer Abschiednahme von unserer Tendenz zur Individuierung, da wir nur so der andersartigen Bose-Einstein-Statistik gerecht werden können. Weil all dies unserer an makroskopischen Objekten gewachsenen Intuition so grundlegend widerspricht, bleibt das Lichtquantum alias Photon dennoch eine „mysterious Cheshire cat“, ein „elusive beast“.
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Einstiege und Literaturübersichten bieten u. a. Redhead
(1982/83), Cao
(1997), Lewis
(2016). Ein mögliches Ende der Teilchenära prognostizieren Harlander, Martinez & Schiemann
(2023).
Zur weiteren Entwicklung, die Feynman dann auch zu den sog. Feynmanschen Pfadintegralen führte, siehe ferner Feynman
(1965), Cramer
(1988), Thorne
(2019) S. 9.
Halvorson & Clifton
(2002) S. 3; zu den dabei meist unwillkürlich gemachten Annahmen solcher ‚Teilchenmetaphysik‘ siehe Falkenburg
(1993, 1995/2007), Ubben
(2020) S. 127 ff.
Jaynes
(1973) S. 48–50; zur Vita dieses an der Washington University lehrenden Anhängers semiklassischer Theorien siehe Clark et al.
(2000); zu semiklassischen Theorien des Lichts und zu Jaynes siehe hier Abschn. 5.6; zum Kontext US-amerikanischer QED-Kritiker vgl. Bromberg
(2006) S. 243–245.
Zur Geschichte des Teilchenkonzepts sowie zu den epistemischen Unterschieden zwischen klassischen Teilchen und Feldquanten siehe Falkenburg
(1993, 1995/2007 Kap. 6) sowie Falkenburg in Esfeld (Hg.) 2012 S. 158–184. Über die teilchennahen Termini, mit denen man Lichtquanten bezeichnet hat, siehe hier Abschn. 2.5.
Armstrong
(1983) S. 104. Laut http://www.atomicheritage.org/profile/h-l-armstrong arbeitete H.L. Armstrong als „Manhattan Project Veteran“ für die Tennessee Eastman Corporation an der Y-12 Plant von Oak Ridge, Tennessee.
Zur Begriffs- und Konzeptgeschichte ‚virtueller‘ Teilchen siehe insb. die Untersuchungen von Markus Ehberger
(2020, 2022) samt den dort zit. Primärtexten.
Zu diesen naturphilosophischen Debatten siehe u. a. Bunge
(1970), Jauch
(1976), Weinberg
(1977) S. 24, Hendrick & Murphy
(1981) S. 458 ff., Weingard
(1982, 1988), Stöckler
(1987), Cao
(1997), Fox
(2008), Meynell
(2008), Falkenburg in Esfeld (Hg.)
(2012), Bacelar Valente
(2011), Passon
(2014), Blum & Joas
(2016) u. dort jew. genannte weiterführende Lit.
Cao
(1997) S. 20–23 sowie das Zitat auf 204 (mit Hervorhebung und Ergänzung in eckigen Klammern von KH); kritisch zu diesem „infinity argument“ Fox
(2008) S. 44–45.
Siehe z. B. Kuhlmann
(2012), Stöckler
(1987) S. 264 f., Falkenburg
(1995/2007) oder Fox
(2008) S. 42 f.; vgl. ferner Kaiser
(2000) S. 61 sowie S. 175–195 über Dysons ganz ähnlich-konventionalistische Interpretation jener Diagramme, während der frühe Feynman ja zu einer reifizierteren Deutung jener Diagramme als Abbilder realer Streuprozesse tendiert hatte – vgl. zu diesem „Feynman-Dyson-split“ hier Abschn. 6.2 sowie beispielsweise Kaiser
(2004) Kap. 5 und Meynell
(2008) S. 42 ff.
Redhead
(1988) S. 20; vgl. ferner das hier auf Abschn. 9.1 wiedergegebene Zitat von Harvey L. Armstrong über Photonen als Koeffizienten einer Fourierserie.
Siehe beispielsweise Röhl
(2005) S. 473–476 über diese „andere Art der Existenz“ virtueller Teilchen als „Teile eines übergeordneten Ganzen“ in ihrer Rolle als Mediatoren von Wechselwirkungen, was sie zu „analytischen Teilen des Streuprozesses“ mache, sowie kritisch dazu Fox
(2008) S. 47.
Falkenburg
(1995/2007b) S. 237: „infinitely many virtual particles together may be considered to cause a real collective effect. In this sense, they obviously have operational meaning.“
Bacelar Valente
(2011) S. 50 spricht von „epistemic power“ bzw. von „explanatory nexus“, weswegen virtuelle Teilchen für ihn „more than formal tools“ sind.
Teller
(1995): „in quantum theories the components represent potentially but not actually existing states“; analog dazu spricht Röhl
(2005) S. 467 von „dispositionaler oder potentieller Seinsweise“.
Redhead
(1982/83) S. 88 f.; zur Lewis Carroll’schen Metapher des in der Luft stehenbleibenden Grinsens der Cheshire cat auch nach deren Verschwinden vgl. hier Abschn. 9.6.
Zum Compton-Effekt und seiner Bedeutung für die Lichtquantenhypothese siehe Abschn. 5.2, zu Bothe-Geiger
(1924) siehe hier Abschn. 5.3. Zum Raman-Effekt, einer molekularen Streuung elektromagnetischer Strahlung im UV, IF und sichtbaren Licht, die von Chandrasekhara V. Raman (1888–1970) selbst als „optical analogue of the Compton effect“ interpretiert wurde, siehe Raman
(1930) S. 270.
Paul
(1985) S. 175 und ergänzend ebenda S. 179 zum Photon als „Zwitter“ bzw. S. 11 über das „komplizierte Gebilde, [...] ein janusköpfigen Etwas, das sich – je nach Art der experimentellen Bedingungen – einmal als Korpuskel und einmal als Welle ‚zeigt‘.“ Auch Han
(2014) betont dies.
Heitler (1944) S. 63–64, auch zit. von Armstrong
(1983) S. 103-104: „a photon is not a thing to which a position can be simply assigned.“ Früheste Ansätze in diese Richtung bei Heisenberg & Pauli
(1929), Landau & Peierls
(1930), eine gründliche Literatursichtung bietet Keller
(2005).
Newton & Wigner
(1949) S. 405 (Hinzufügung KH); ausführlicher: Wightman
(1962) bzw. Duncan
(2012) S. 159–164 über „local fields, non-localizable particles!“
Strnad
(1986a) S. 650. Den gleichen Punkt heben auch Gerry & Knight
(2005) S. 18, Han
(2014) S. 47 ff., Passon & Grebe-Ellis
(2016) S. 20 ff. u. v. a. Quantenfeldtheoretiker hervor.
Siehe dazu z. B. Ketterle
(1997),
(2007) sowie weitere hier in Abschn. 3.10, 8.1 und 4.9 genannte Texte sowie Abb. 8.2 zu Bunching und Antibunching.
Siehe oben Abschn. 8.5 sowie ergänzend Paul
(1985) S. 98–123. Weil – unter normalen Umständen zumindest – einzelne Photonen so überaus schwierig separat untersucht werden können, plädieren z. B. Edward M. Purcell und Emilio Panarella dafür, in einem ‚photon clump model‘ der durch die Bose-Einstein-Statistik vorgegebenen Tendenz der Photonen zum Clustern stärker Rechnung zu tragen.
So Wolfgang Pauli an Werner Heisenberg, 9. Okt. 1926, in Meyenn (Hg. 1979) Bd. 1, Dok. 143, S. 340; vgl. Heisenberg
(1927), Landau & Lifschitz
(1979) S. 44–47, 152–158, Paul
(1985) S. 33–37.
Scully & Sargent
(1966) S. 38. 1997 kam Scully in einem Lehrbuch der Quantenoptik jedoch zu anderen Einsichten (s. u.). Zu Scullys Vita sowie zum Kontext vgl. Bromberg
(2006) S. 245 ff.
Wheeler in der 72. Sommerschule ‚Enrico Fermi‘, publ. 1979, hier zit. aus Roychoudhuri & Roy (Hg.) 2003, S. 28. In die gleiche Richtung geht die Formulierung von Photonen als „mysterious quantum Cheshire cat: an illusion“ (ibid., im Beitrag von K. Michielsen u. a.) sowie die hier auf Abschn. 9.3 zitierte Aussage von Michael Redhead über ephemere Entitäten.
Oliver Passon in einer E-Mail an K. Hentschel, 2. Sept. 2016; vgl. mit ähnlicher Stoßrichtung: Simonsohn
(1979), Lamb
(1995) S. 80, Sulcs
(2003) S. 367.
Siehe z. B. Gell-Mann, & Ne’eman
(1964), Walker & Slack
(1970) sowie Johnson
(1999) zur semantischen Modifikation dieses Konzeptes durch ‚Farbladungen‘, ‚Flavor‘, Massen, usw.
Chang
(2018) S. 33, dessen Plädoyer für einen „Realism for Realistic People“ ich unterstütze; vgl. zum Kalorikum ausführlicher Chang
(2003) u. dort angeführte Primärliteratur.
Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen lagen bereits sechs Proceedingsbände mit jeweils vielen Dutzend Beiträgen vor, darunter allerdings überwiegend hochspekulative bis ins Obskure gehende Gedankenspielereien: siehe Roychoudhuri et al. (Hg.) 2015 bzw. http://spie.org/Publications/Proceedings/Volume/9570 für den neuen Band der Reihe.
Bonmot von Glauber auf der Sommerschule von Les Houches 1963, zit. als Motto in dem Beitrag von Holger Mack und Wolfgang Schleich zu Roychoudhuri & Roy (Hg.) 2003, S. 28.