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04.07.2017 | Wirtschaftspolitik | Interview | Online-Artikel

"Es gibt keine Marktgottheit"

verfasst von: Andrea Amerland

4:30 Min. Lesedauer

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Der Markt zwingt Unternehmen zu Entlassungen, scheucht die Politik vor sich her oder reagiert nervös. Doch existiert dieser Markt überhaupt? Peter Seele und Lucas Zapf erklären im Interview, was sich ihrer Meinung nach hinter dem Begriff verbirgt.

Springer Professional: Dafür, dass der Markt nicht existiert, so die These und der Titel Ihres Buches, muss er allerdings ganz schon häufig als Begründung herhalten - insbesondere bei negativer Geschäftsentwicklung ist immer der Markt schuld. Warum ist das so?

Peter Seele: Unsere These ist – auch für den extremen Fall einer Insolvenz – dass der Markt an sich nicht Schuld ist. Wir behaupten: Es gibt keine unsichtbare Hand, oder den Markt. Es gibt nur einzelne handelnde Hände von Marktteilnehmern in einem von Angebot und Nachfrage bestimmten Marktumfeld. So hart es klingen mag, aber es gibt keine Marktgottheit, an die wir Verantwortung oder Schuld delegieren können.

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Chr. Lucas Zapf: Die Begründung, der Markt sei schuld, liegt an einer merkwürdigen Kombination, die den Markt auszeichnet. Erstens ist er ätherisch: Schwer greifbar, er schwebt zwischen den einzelnen Akteuren. Gleichzeitig ist er omnipräsent, gilt nicht nur für Produkte, sondern auch für viele andere Lebensbereiche: Bei Beziehungen, denken wir an den Heiratsmarkt oder bei der Lehre zum Beispiel an den Bildungsmarkt. Und der Markt wird seit jeher über seine technische Funktion hinaus mit Bedeutung aufgeladen: Von der unsichtbaren Hand bei Adam Smith über den strafenden Finanzmarkt, der die Politik 2010 vor sich hertreibt. Diese Interpretation eines ungreifbaren, omnipräsenten und bedeutsamen Marktes besteht weithin – in der Wirtschaft, den Medien, auch in der Wissenschaft. Wenn man, wie Sie es nun ansprechen, in diesem Markt agiert und es dabei zu Problemen kommt, kann es gar nicht der einzelne Manager sein, der das Problem verursacht. Der ist im Verhältnis zu dieser Macht des Marktes ja viel zu unbedeutend. Da scheinen höhere Kräfte am Werk! Und weil diese Erklärung von allen möglichen Seiten wiederholt wird, gilt sie. Ob der Manager tatsächlich daran glaubt oder nur einen Sündenbock sucht, ist dabei fast egal. Die Wirkung ist: Es gibt einen Schuldigen. Die Akteure haben nur Befehle ausgeführt, die ihnen der Markt erteilt hat.

Der Markt ist kein unbeeinflussbares Naturgesetz oder ein ökonomischer Gott, dem man sich beugen muss, sondern ein soziokulturelles Konstrukt, meine Sie also. Was heißt das konkret?

Chr. Lucas Zapf: Der Markt erweckt den Anschein einer Naturgewalt oder einer Gottheit, weil der Begriff schwer aufgeladen ist: Unantastbar, ständig präsent, bedeutungsschwanger. In der großen Außensicht hat das einen gewissen Reiz: Der Finanzmarkt, der Binnenmarkt, die Märkte als Sammelbegriff für Börsen, in den verschiedenen Ausprägungen hält der Markt ja alles am Laufen. Er ist das Herz unserer Marktwirtschaft. Wenn wir allerdings genauer hinsehen, auf die ganz konkreten Handlungen in diesem Markt – was bleibt dann von dieser Naturgewalt? Nicht viel: Wir sehen einfach nur Hände, die Güter und Geld tauschen. Keine unsichtbare Hand, sondern ganz normale Hände. Deswegen ist der Markt zuallererst ein soziales Konstrukt: Er besteht aus den Menschen, die in ihm handeln. Diese Konstruktion wird durch kulturelle Leitplanken in eine bestimmte Richtung geformt. Das kann durch die Wirtschaftspolitik und ihre geschriebenen Gesetze passieren. Aber auch durch ungeschriebene Regeln wie Bräuche oder Gewohnheiten. So wird der Marktgott auf die Welt geholt und zu einem soziokulturellen Konstrukt.

Sie plädieren daher für einen aufgeklärten Marktbegriff. Wie sieht der aus?  

Chr. Lucas Zapf: Aufgeklärt im Sinne einer Entzauberung des Marktes, einer Reduktion auf seine Essenz. Nutzen wir den Markt als das, was er ist: Ein vortreffliches Konstrukt, um Tausch zu organisieren. Er ist an Effizienz unübertroffen, hilft bei der Preisfindung, bei der Verteilung von Gütern, bei der Befriedigung jeglicher Bedürfnisse. Das ist ja unser Ansatz: Mit der aussagenlogischen Dekonstruktion wird hinterfragt, dass der Markt als eine eigenständige Entität steht, die sich nichts mehr sagen lässt. Einem aufgeklärten Markt dagegen kann man keine Entlassungen in die Schuhe schieben. Ein solcher Markt hat genau die Form, die ihm seine Akteure geben. Die Marktteilnehmer werden aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit gegenüber diesem Markt befreit.

Peter Seele: Genau. Damit einher geht aber auch die Einsicht, selbst verantwortlich zu sein – im Idealfall eines freien, aber nicht ruinösen Wettbewerbs. Wir wollen aber auch zeigen. Einen genuin freien Markt haben wir nicht, wenn Risiko von Verantwortung entkoppelt ist.

Wie verteidigen Sie im Gespräch mit einem insolventem Unternehmer, der seine Pleite mit mangelnder Nachfrage begründet, ihren Marktbegriff?

Peter Seele: Wenn wir ungeachtet der tragischen persönlichen Konsequenzen ausschließlich das philosophische Argument vorbringen wollen, dann muss man auch hier sagen, dass es nur die individuellen handelnden Hände gibt. Diese erschaffen Angebot und Nachfrage und bringen permanenten Wandel derselben hervor. Die Begründung, dass mangelnde Nachfrage ursächlich verantwortlich sei, sagt dabei auch etwas über das Angebot aus. Es ist aber auch zu sagen, dass es problematische Verzerrungen geben kann: Kartelle, Subventionen, Manipulationen, Betrug, Geschäftsspionage oder Korruption. Das wären – in unserem Bild – ‚schmutzige‘ handelnde Hände. Ohne ein Minimum an Integrität und Ethik geht es auch bei unserem Vorschlag nicht.

Chr. Lucas Zapf: Das kann ja auch etwas beruhigendes haben. Es ist mit unserer Perspektive nicht der Markt, der die Geschäftsidee oder das Unternehmen zerstört. Keine Gottheit, sondern andere Menschen, mit denen der Tausch gerade nicht gelingt. Eine Absage auf Augenhöhe sozusagen.

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