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Erschienen in: MTZextra 1/2021

Free Access 01.08.2021 | Entwicklung

X-in-the-Loop-Ansatz zur Entwicklung von Elektrofahrzeugen

verfasst von: Viktor Schreiber, Florian Büchner, Christoph Lehne, Valentin Ivanov

Erschienen in: MTZextra | Sonderheft 1/2021

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Ein vernetztes Prüfsystem aufzubauen, das die Entwicklung neuer Komponenten und Systeme für Elektrofahrzeuge beschleunigt, ist Ziel des internationalen Forschungsprojekts Connected and Shared X-in-the-Loop Environment for Electric Vehicles Development (XILforEV). Die TU Ilmenau als Projektkoordinator zeigt am Beispiel Brake Blending, wie mit der vorgestellten Methode zur Validierung und Prüfung von Elektrofahrzeugen Entwicklungszeit und die damit verbundenen Kosten reduziert werden können. Dieser Ansatz ist auch auf andere Bereiche in der Entwicklung von Elektrofahrzeugen übertragbar.
Der Paradigmenwechsel zu einem vollautomatisierten Fahrzeug mit neuen Antriebssystemen und Topologien stellt eine große Herausforderung für die Entwicklung moderner Elektrofahrzeuge dar. Vor diesem Hintergrund nimmt die Komplexität der Entwurfsaufgaben für Entwickler von hochautomatisierten Systemen deutlich zu. Daher besteht die Notwendigkeit, neue Methoden für die robuste und zuverlässige Entwicklung komplexer Systeme im Automobil zu entwickeln. Als vielversprechender Ansatz liefert die X-in-the-Loop-Methode in der frühen Entwicklung bei der Validierung und beim Prüfen von Elektrofahrzeugen einen wichtigen Beitrag. Im Allgemeinen ermöglicht X-in-the-Loop einen integralen modellbasierten Entwicklungsansatz für verschiedene Bereiche automatisierter und elektrifizierter Systeme. Eine einheitliche Nomenklatur und allgemeingültige Methoden existieren nicht. Aus diesem Grund möchten die Autoren einen Beitrag zur Vereinheitlichung der XiL-Methode liefern, um flexibel eine domänenübergreifende und integrale Entwicklungsumgebung umzusetzen.

X-in-the-Loop-Methode

X-in-the-Loop kann aus dem klassischen Hardware-in-the-Loop-Ansatz abgeleitet werden. Dieser Ansatz bezieht sich auf das Testen elektronischer Steuergeräte durch Simulation eines virtuellen Fahrzeugs in Echtzeit, auch als Restbussimulation bezeichnet. Mittlerweile ist X-in-the-Loop in Wirtschaft und Wissenschaft etabliert. Aufgrund des starken Bezugs zu den technischen Aspekten bei der Entwicklung mechatronischer Systeme beschränkt sich der Begriff in vielen Studien auf die konventionelle Definition von Rapid Control Prototyping (RCP), Modell- (MiL), Software-/Prozessor- (SiL/PiL) und Hardware-in-the-Loop (HiL). Menschen, periphere Prozesse und andere Phänomene werden nicht immer berücksichtigt. Nach dem neuesten wissenschaftlichen Stand kann X-in-the-Loop gemäß Bild 1 verdeutlicht und verallgemeinert werden. Dabei gilt diese Definition der XiL-Methode für alle technische Prozesse beziehungsweise für das automatisierte Fahren über alle Automatisierungsebenen hinweg.
Die Systemdomänen werden in die Entitäten Mensch, Prozess und Funktion eingeteilt, die über spezifische Schnittstellen miteinander interagieren. Der Systemprozess interagiert über die Mensch-Maschine-Schnittstelle (MMS) mit dem Menschen und über Sensoren/Aktoren mit der Funktion. Die Testumgebungen werden in eine virtuelle und eine physische Domäne unterteilt. Die Querverbindung zwischen diesen virtuellen und physischen Domänen wird als hybrides Testen definiert. Die Kopplung dieser Domänen führt zu einer spezifischen XiL-Methode. Insbesondere neuartige Methoden wie Test-Rig-in-the-Loop (TRiL) [1], Human-Model-in-the-Loop (HMiL), Robot-in-the-Loop (RiL), Driver-in-the-Loop (DiL) können hieraus abgeleitet werden. Als praktische Umsetzung des XiL-Verfahrens wird die vorgeschlagene Methodik und Architektur im Weiteren anhand des Entwurfs eines automatisierten Elektrofahrzeugs diskutiert.

Modell und Architektur

Bei monolithischen Entwicklungsverfahren wird das betrachtete System in seine einzelnen Bestandteile unterteilt, um die Gesamtkomplexität auf ein Teilsystem zu reduzieren. Mithilfe des XiL-Ansatzes soll das monolithische Vorgehen aufgebrochen werden. Auf diese Weise können sowohl virtuelle Simulationswerkzeuge als auch Prüfständen mit realen Komponenten miteinander gekoppelt werden, um unabhängig vom Entwicklungsstand die Wechselwirkungen der Teilsysteme zu untersuchen. In der frühen Entwicklungsphase können Prototypen oder Komponenten aus der Vorgängergeneration eingesetzt werden, um Simulationsmodelle durch Beobachterkonzepte zu korrigieren und plausibilisieren [2]. Daraus können wichtige Erkenntnisse schon sehr früh und flexibel abgeleitet werden.
Dabei spielt die botschaftenbasierte Kopplung eine große Rolle. Hierfür existieren eine Reihe Kommunikationsprotokolle wie Industrial Ethernet oder Profibus, die die hohen Anforderungen an die Echtzeitfähigkeit erfüllen. Jedoch eignen sie sich nicht, um verteilte Systeme über eine größere Distanz hinweg zu vernetzen. Aus diesem Grund schlagen die Autoren eine Kommunikationsarchitektur gemäß Bild 3 vor. Sie basiert auf dem User Datagram Protocol (UDP) und dem Virtual Private Network (VPN), über das die einzelnen Entitäten (Simulationswerkzeuge, Prüfstände, Steuergeräte, etc.) Botschaften austauschen können. Die Synergie aus UDP und VPN bietet eine in sich geschlossene und sichere Verbindung in einem privaten Netzwerk unter Nutzung eines öffentlichen Netzwerks. Gleichzeitig ist das Einrichten eines UDP-Netzwerks deutlich einfacher und induziert keine zusätzlichen Latenzzeiten, wie es beispielsweise beim Transmission Control Protocol (TCP) der Fall wäre.

XiL für Brake Blending

Die Architektur von Elektrofahrzeugen setzt sich aus einer Vielzahl an Komponenten und Subsystemen zusammen, die für verschiedene Funktionen zuständig sind, jedoch ineinander integriert und im Entwicklungsprozess gesamtheitlich betrachtet werden müssen. Typische Vertreter hierfür sind entkoppelte Bremssysteme, die in den elektrifizierten Antriebsstrang integriert sind. Daraus leiten sich eine Vielzahl an Freiheitsgraden und Fragestellungen in der Entwicklung ab, wie das Zusammenspiel von Rekuperations- und Reibungsbremse ausgelegt werden muss. In diesem Zusammenhang zeigt Bild 4 eine multidomäne Entwicklungsumgebung, mit der verschiedene Entwicklungsziele verfolgt werden können.
Zum Beispiel kann die Funktionsweise auf einem Rapid Control Prototyping System vorentwickelt und dessen Implementierung auf realen Steuergeräten gemäß dem HiL-Ansatz validiert werden. Wie im Aufbau aus Bild 4 gezeigt, wird die gesamtheitliche Wirkkette abgebildet. Dabei wird das Bremsmanöver durch einen definierten Eingriff des virtuellen oder realen Fahrers ausgelöst. Im Steuergerät wird die Fahrereingabe verarbeitet und daraus eine Bremskraft-/Bremsmomentverteilung an Vorder- und Hinterachse ermittelt. Hierin besteht bereits das primäre Entwicklungsziel, die Bremskraftverteilung so zu gestalten, dass das Fahrzeug stabil und steuerbar während des Bremsmanövers bleibt. Außerdem müssen aus der Bremskraftverteilung die Bremsmomente zwischen Reibungsbremse und E-Maschine so aufgeteilt werden, dass die hohen Ansprüche an Komfort, Energieeffizienz und Bremswirkung erfüllt werden. Damit besteht als sekundäre Entwicklungsaufgabe die Optimierung der Energierückgewinnung und Brake-Blending-Strategie unter Berücksichtigung von einschränkenden Parametern wie Geschwindigkeit, Fahrsituation, Temperaturen, Ladezustand und Fahrerwunsch.
Aus der XiL-Methode leiten sich nun verschiedene Konstellationen zur Entwicklung von Brake-Blending-Strategien ab. Je nach Zugang zu Simulationswerkzeugen, Prüftechniken und Prüflingen und in Abhängigkeit von Abbildungstreue kann die XiL-Entwicklungsumgebung heterogen aus verschiedensten Entitäten aufgebaut sein. Um nichtlineare Phänomene realitätsnäher zu betrachten, wird an der Technischen Universität Ilmenau ein Motorprüfstand für einen Radnabenmotor, ein Schwungmassenprüfstand mit einer Reibungsbremse und ein Bremsen-HiL mit einem entkoppelten Bremssystem verwendet. Dem übergeordnet, werden periphere Prozesse mit einer ganzheitlichen Fahrzeugsimulation rudimentär abgebildet. Auf diese Weise können komplexe Vorgänge wie die Reibwertentwicklung von Reibungsbremsen, das Übertragungsverhalten des Bremssystems und die Charakteristik der E-Maschine dezidierter berücksichtigt werden. Dies erfordert eine performante Entwicklungsumgebung, die das native Verhalten der betrachteten Komponenten abbilden kann. Insofern müssen die Stellglieder der Prüfstände strenge Echtzeitbedingungen einhalten.

Experimentelle Ergebnisse

Die Betriebsstrategie von Brake Blending beeinflusst die Energieeffizienz, die Fahrsicherheit und den Fahrkomfort sowie die Bremswirkung. Um die Vergleichbarkeit zu gleichartigen Experimenten zu gewährleisten, wird als Testszenario für das Experiment der sogenannte WLTP-Zyklus gewählt. Dieser Zyklus ist nicht für eine explizite Untersuchung der Bremswirkung geeignet, jedoch kann daraus die Energiebilanz verschiedener Rekuperationsstrategien gegenübergestellt werden.
Der WLTP repräsentiert einen realen Fahrzyklus, der an vier reale Geschwindigkeitsprofile mit geringen bis hohen Geschwindigkeiten angelehnt ist. Der Energieverbrauch während des Zyklus kann als Abschätzung der Brake-Blending-Strategie für die alltägliche Nutzung von Elektrofahrzeugen genutzt werden. Bild 5 zeigt das Geschwindigkeitsprofil des Fahrzyklus und den kumulierten Energieverbrauch mit und ohne regeneratives Bremsen.
Zur genauen Betrachtung wird in Bild 6 ein Bremsmanöver gezeigt, bei dem das Fahrzeug von einer Ausgangsgeschwindigkeit von 130 km/h bis zum Stillstand moderat verzögert wird. Hierbei kann die Prüfumgebung dem gesamten Geschwindigkeitsprofil innerhalb des Toleranzkorridors bei beiden Betriebsstrategien folgen. Dies bildet eine solide Grundlage zum Vergleich der Energieverbräuche. Der ermittelte Energieverbrauch berücksichtigt nur den Antriebsstrang. Teilkomponenten wurden nicht berücksichtigt. Als Benchmark zum Vergleich des Energieverbrauchs wurde ein Zyklus ohne Rekuperation hinzugezogen. Die verbrauchte Energie wurde auf 100 km normiert. Somit ergibt sich für das gewählte Fahrzeug ein relativer Verbrauch von 23,09 kWh/100 km, während bei einem seriellen Brake Blending ein relativer Energieverbrauch von 20,61 kWh/100 km ermittelt wurde. Dies ist eine Energieeinsparung des Antriebsstrangs von 10,74 %.
Zudem ist in Bild 6 die Verteilung der Bremsmomente zwischen Rekuperationsbremse und Reibungsbremse vom linken Vorderrad zu sehen. Ohne Rekuperation setzt sich das Gesamtbremsmoment aus dem Schleppmoment des Radnabenmotors (blau) und dem Bremsmoment der Reibungsbremse (rot) zusammen. Bei aktiver Rekuperation wird ein Großteil der Bremsenergie von der Rekuperationsbremse aufgenommen und zurückgespeist. Bei kleinen Geschwindigkeiten wird die untere Drehzahlgrenze für das generatorische Bremsen unterschritten, sodass die Reibungsbremse eingreifen muss, wie Bild 6 bei 1792 s zeigt. Für die auszugsweise gezeigte Bremsung wurden 146 kWh rekuperiert und damit die Energieeffizienz gesteigert.
Alle Experimente wurden mittels der vorgeschlagenen verteilten XiL-Testumgebung durchgeführt. Hinsichtlich der Bremswirkung können beim WLTP keine Unterschiede zwischen rekuperativer Bremse und reiner Reibungsbremse festgestellt werden. Ausgehend von einer nutzbaren Speicherkapazität der Traktionsbatterie von 83,6 kWh ergibt sich gegenüber dem Benchmark ohne Rekuperation für den gesamten WLTP ein Reichweitengewinn von 43,6 km mit serieller Rekuperationsstrategie.

Fazit

Die vorgestellte Methode zur Validierung und Prüfung von Elektrofahrzeugen birgt großes Potenzial zur Reduktion der Entwicklungszeit und der damit verbundenen Kosten. Ebenfalls lässt sich der Ansatz auf andere Bereiche in der Entwicklung von Elektrofahrzeugen übertragen, zum Beispiel die Entwicklung integrierter Fahrwerksregelsysteme, die Bewertung des Fahrkomforts und auf Fail-Safe-Studien. Es konnte gezeigt werden, dass die XiL-Umgebung geeignet ist, dezidierte Analysen komplexer Systeme unter reproduzierbaren Bedingungen durchzuführen. Komponentenprüfstände für Bremssysteme und Antriebssysteme, aber auch für beliebige andere Komponenten eines Elektrofahrzeugs, können modular miteinander kombiniert werden, ohne sich einschränken zu müssen. Damit bietet die Methode hohe Flexibilität im Entwicklungsprozess und erhöht die Aussagekraft der Ergebnisse deutlich.

Literaturhinweise

[1]
Augsburg, K., Gramstat, S., Horn, R., Ivanov, V. et al.: Investigation of Brake Control Using Test Rig-in-the-Loop Technique. SAE Technical Paper 2011-01-2372
 
[2]
Schreiber, V.; Augsburg, K; Ivanov, V.; Fujimoto, H.: Novel Developing Environment for Automated and Electrified Vehicles using Remote and Distributed X-in-the-Loop Technique. IEEE Vehicle Power and Propulsion Conference (VPPC), 2020, pp. 1-5
 

Danke

Die vorgestellte Forschungsarbeit wurde aus Mitteln des Förderprogramms "Horizon 2020" der Europäischen Union finanziert (Förderungsvereinbarung Nr. 824333).

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Metadaten
Titel
X-in-the-Loop-Ansatz zur Entwicklung von Elektrofahrzeugen
verfasst von
Viktor Schreiber
Florian Büchner
Christoph Lehne
Valentin Ivanov
Publikationsdatum
01.08.2021
Verlag
Springer Fachmedien Wiesbaden
Erschienen in
MTZextra / Ausgabe Sonderheft 1/2021
Print ISSN: 2509-4580
Elektronische ISSN: 2509-4599
DOI
https://doi.org/10.1007/s41490-021-0329-2

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