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2021 | OriginalPaper | Buchkapitel

3. Zum Begriff der vormodernen Organisation

verfasst von : Philipp Jakobs

Erschienen in: Max Weber und die Organisationssoziologie

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Auch wenn die Organisationssoziologie, wie gezeigt wurde, kein einheitliches Verständnis von Organisation besitzt, lässt sich doch anhand verschiedener organisationssoziologischer Bestimmungen und anhand der Begriffsgeschichte idealtypisch ein Begriff der Organisation umreißen, der allen betrachteten Ansätzen mehr oder weniger deutlich zugrunde zu liegen scheint. Organisationen sind demnach soziale Systeme, die auf an rationalen Modellen oder „Mythen“ orientierten, bewusst geplanten und eingesetzten positiven Ordnungen beruhen – wobei diese selbstverständlich nicht das gesamte faktische Handeln lenken. Durch die Übereinstimmung mit den verbreiteten rationalen Modellen erscheinen Organisationsordnungen als vernünftig und insofern legitim, weshalb wenigstens innerhalb von Organisationen auch darauf gerechnet werden kann, für Befehle bestimmten Inhaltes „freiwilligen“ Gehorsam zu erhalten – also Herrschaft im Sinne Webers auszuüben.

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Fußnoten
1
So untersucht etwa der Rechtswissenschaftler Simon Deakin neuere netzwerkartiger Wirtschaftsorganisationen unter dem Vorzeichen einer möglichen „Wiederkehr der Zünfte“ (vgl. Deakin 2006).
 
2
Daher auch die zahlreichen Personalkonflikte um Geschiedene oder nicht Getaufte, die von einem modernisierungstheoretischen Organisationsverständnis aus archaisch erscheinen mögen.
 
3
Zur Produktivität von elaborierten Ritualen und Theologien, die Überliefertes nicht nur bewahren, sondern auch zu Neuem in Beziehung setzen vgl. Kehrer (1982, S. 55).
 
4
Der Zusammenhang des Vereinsbegriffes Webers mit dem modernen soziologischen Organisationsbegriff lässt sich u. a. auch darin illustrieren, dass Weber es in einer Diskussionsrede zum ersten Soziologentag 1910 für eine der dringlichsten Aufgaben der Soziologie hielt, das moderne „Vereinswesen“ zu erforschen (vgl. Weber 1988c, S. 442 ff.). Die Erkenntnisinteressen und Impulse, die Weber damals im Blick hatte (etwa die Wirkung der Vereinszugehörigkeit auf die Persönlichkeit oder die Möglichkeiten, durch die ein Vereinsleiter sich der Loyalität der Mitglieder versichern konnte) wurden später vornehmlich durch die neu entstehende Organisationssoziologie aufgenommen und mit Hilfe des allgemeineren Organisationsbegriffes analysiert. Die „Soziologie des Vereinswesen“ blieb hingegen lange Zeit Desiderat (vgl. Müller-Jentsch 2008).
 
5
Dass Organisationseintritte durch generalisierte Regeln und Normen umgrenzt sind, ist in der rituellen Handlung begrifflich enthalten; dass es sich darüber hinaus meist um rechtlich definierte Statuszuschreibungen handelt, kann zwar ebenfalls als typisch angesehen werden, gilt aber, will man den Begriff des Rechtes nicht überdehnen, historisch nicht für alle Organisationen.
 
6
In einem strengen Sinne sind folglich „Anstalten“ im Verständnis Webers – also im Wesentlichen: Staaten und Kirchen – auch nicht selbst Organisationen: daher lässt sich auch anhand der Unterscheidung von Anstalts- und Organisationszugehörigkeit zwischen Staatsbürgern und Staatsbeamten oder zwischen einfachen „passiven“ Kirchenmitgliedern und kirchlichen Amtsträgern unterscheiden – obgleich diese Unterscheidungen im Anbetracht einer zunehmenden Unverbindlichkeit von Nationalität und Religionszugehörigkeit, die heute meist als Gegenstand bewusster, persönlicher Entscheidung angesehen werden, unscharf zu werden droht (vgl. hierzu auch Luhmann 2019a, S. 20 ff.).
 
7
Die motivierende Kraft der Selbstverpflichtung, die Luhmann der entscheidbaren Mitgliedschaft zuschreibt, gibt es natürlich erst, wenn die Mitgliedschaft zumindest auch auf der Entscheidung des Eintretenden beruht und freie Auslese der Mitglieder besteht (vgl. Luhmann 1999, S. 37).
 
8
Hans Geser geht sogar so weit zu behaupten, dass Organisationen als sekundäre Akteure, was etwa Verantwortlichkeit, Aufmerksamkeits- und Handlungsdifferenzierung oder Zweck-Mittel-Abwägungen angeht, den gängigen Akteursmodellen eher entsprechen als individuelle „primäre“ Akteure (vgl. Geser 1990, S. 415).
 
9
Vgl. auch die Formulierung bei Breuer (1998, S. 17): „Alle Verbände, in denen die Verbandsmitglieder in Befehlende und Gehorchende unterteilt sind, sind Herrschaftsverbände, was auf Armeen und Krankenhäuser ebenso zutrifft wie auf Schulen und Fabriken.“
 
10
Das heißt natürlich nicht, dass die konkreten Machtbeziehungen zwischen den Organisationsmitgliedern nicht auch auf organisationsexternen Faktoren beruhen können, sondern nur, dass in der Organisationsordnung bestimmte Herrschaftsordnungen expliziert werden und aufgrund dieser als gültig erachtet werden. Dass die auch auf äußeren Machtquellen beruhenden konkreten Beziehungen der formellen Herrschaftsordnung faktisch entgegen stehen können, hat unter anderem Horst Bosetzky dargelegt (vgl. 2019, S. 3).
 
11
So redet etwa auch Luhmann in Bezug auf Verwaltungen zwar von „abgeleiteter nichthierarchischer Autorität“, die durch die Programmierung bestimmter abstrakter Informationstypen als motivierender „Auslöser“ bestimmter Leistungen gekennzeichnet ist und dadurch von direkten Befehlsformen in hierarchischen Beziehungen entlastet, gesteht aber dennoch zu, dass die „Programmstruktur“ einer Organisation in Form von programmierenden und Programme ausführenden Positionen typischerweise eine hierarchische Formalstruktur der Organisation repräsentiert (vgl. Luhmann 1999, S. 97 f., 2018a, S. 306). Auf abgeleiteter Autorität beruhende Programme erscheinen zudem auch als „gesammelte Pauschalbefehle“ des Vorgesetzten (vgl. Luhmann 2018a, S. 320). Auch bei abgeleiteter Autorität und bei im (empirisch wohl sehr unwahrscheinlichen) äußersten Falle eines völligen Fehlens von direkten Befehls-Gehorsam-Beziehungen zwischen einzelnen Mitgliedern blieben insofern die Mitglieder qua Organisationsordnung auch bei Luhmann formal Herrschaftsbeziehungen unterworfen.
 
12
Ob es sich bei den „temporären organisationalen Formen“, die in den letzten Jahren vermehrt im Fokus der internationalen Organisationssoziologie standen, um Organisationen im hier gemeinten Sinne handelt, hängt insofern vom Einzelfall und, wie überall, von der Fragestellung ab (vgl. Bakker 2010, S. 468 f.; Brès et al. 2018, S. 372 f.). Historisch gesehen dürfte im übrigen projektförmige, temporär begrenzte Zusammenarbeit auch mit typischen Strukturmerkmalen heutiger Organisationen deutlich früher üblich gewesen sein als kontinuierliche Organisationen im hier gemeinten Sinne – sei es in Form von Kriegszügen, sei es in Form von Frondiensten für staatliche Bauten oder Leiturgien.
 
13
Er lässt sich bereits in Mesopotamien, etwa bei Weberinnen aus der Gegend um Ur für das 3. Jahrtausend v. Chr., nachweisen, die in immobilen Webmühlen in Vollzeit beschäftigt waren, nach getaner Arbeit aber nach Hause zu ihren Familien gehen konnten (vgl. Van De Mieroop 1997, S. 186).
 
14
Hubert Treiber und Heinz Steinert sprechen hier vom „kasernierten“ Wohnen innerhalb des Arbeiterquartiers unmittelbar am Fabrikgelände (1980, S. 50).
 
15
So typisch für das europäische 19. Jahrhundert (vgl. etwa Joyce 1980, S. 92 f.; Berghoff 1997, S. 180; Nielsen 2000, S. 63 f.); ähnlich aber auch heute noch etwa bei Saisonarbeitern.
 
16
Ausschlaggebend soll hier nicht sein, dass alle Mitglieder regelmäßig auch tatsächlich in Interaktion zu allen anderen Mitgliedern treten, sondern nur, dass sie alle an einem gemeinsamen Ort beisammen sind und in irgendeiner Weise auf gemeinsame Ziele hinwirken oder zumindest hinwirken sollen.
 
17
Auch wenn Luhmann (1999, S. 35) durchaus richtig anmerkt, dass „häufige persönliche Anwesenheit“ in formal organisierten Sozialsystemen im Vergleich zu „elementaren“ Gruppen abnimmt, bleibt doch fraglich, inwieweit sich ohne Reste solcher „elementar-verbindender“ Momente „informale Erwartungen“ ausbilden können, ohne die eine formale Organisation nach Luhmann auch nicht überlebensfähig ist (vgl. Luhmann 1999, S. 27).
 
18
So typischerweise jedenfalls in der deutschen Rechtsprechung seit Anfang des 20. Jahrhunderts (vgl. Ebenroth und Bippus 1988, S. 677 f.).
 
19
Solche Vorstellungen von Sozialität lassen sich bis in die griechische Philosophie und Kultur zurückverfolgen. Für die neuzeitliche europäische Geschichte wurden sie insbesondere durch das Werk Thomas Hobbes’ relevant, später u. a. von Karl Marx und Friedrich Nietzsche aufgegriffen, von wo aus sie tiefgreifend auch auf das Werk Max Webers einwirkten. Auch andere Soziologen, etwa Georg Simel, Erving Goffman oder Norbert Elias, sehen im Kampf eine grundlegende Dimension von Vergesellschaftung. Heute finden sich solche „agonistischen“ Annahmen insbesondere in der Politikwissenschaft, sehr konsequent ausgearbeitet etwa bei Chantal Mouffe (2014, S. 21 ff.).
 
20
Einen guten, organisationssoziologisch ausgerichteten Überblick zum Transaktionskostenansatz gibt Preisendörfer (2016, S. 39 ff.).
 
21
„Organisation“ als Strukturbegriff wird bspw. von Oliver Williamson als Überbegriff sowohl für marktförmige als auch hierarchische Transaktionen verwendet (vgl. Williamson 1975, S. xi). Im hier verstandenen Sinne einer geschlossenen sozialen Beziehung bzw. eines Verbandes (Systembegriff) sind aber nur hierarchische Transaktionen als „Organisationen“ zu bewerten, marktförmige Transkationen hingegen nicht.
 
22
In der (nicht mehr ganz so) neuen Wirtschaftssoziologie wurde dieser Hinweis insbesondere von Marc Granovetter in einem einflussreichen Aufsatz aufgenommen, der zwar vor allem eine (durchaus nicht unberechtigte) Kritik an Williamson darstellt, aber die grundlegenden agonalen Implikationen mit gewissen Einschränkungen als soziologische Inspirationsquelle aufnimmt (vgl. Granovetter 1985, S. 503).
 
23
Solche Beschreibungen und feinfühlige Systematisierungen von Interaktionen als Kämpfen finden sich eindrücklich und zahlreich bei Erving Goffman, was durch die teilweise sehr entstellenden Übersetzungen in der deutschen Rezeption etwas in den Hintergrund gerückt zu sein scheint (vgl. etwa 1953, S. 38, 1967, S. 24 ff.).
 
24
Die öffentlichen Gabenfeste nahmen häufig selbst bereits die Form eines Rangkampfes an, wie sie unschwer im „Potlatsch“ der Kwakiutl und anderer nordwestamerikanischer Indianerstämme zu erkennen ist, den Marcel Mauss (2013, S. 24 f.) als eine „totale Leistung vom agonistischen Typ“ beschrieben hat.
 
25
Vgl. zu Sumer etwa bei Stefan Breuer selbst (1990, S. 179), vgl. zu einer ganz ähnlichen Argumentation auch David Graeber (2017, S. 211 f.).
 
26
Für religiöse Organisationen liegt eine solche Behandlung mit Günter Kehrers „Organisierte Religion“ (1982) bereits vor; sie müsste im Einzelnen ggf. aktualisiert werden, bietet aber nach wie vor grundlegende Einsichten sowohl zu Organisationen im Allgemeinen als auch gerade zu der Bedeutung organisierter religiöser Gruppen innerhalb der Religionsgeschichte.
 
27
Die Organisation des Staates selbst ist nach North et al. nicht „kontraktuell“, d. h. sie kann auf keine externe Durchsetzung von Vereinbarungen zurückgreifen und beruht lediglich auf dem Eigeninteresse der Beteiligten Eliten; der Erhalt des Friedens ist daher, kommen keine weiteren institutionellen Absicherungen hinzu, prekär (vgl. North et al. 2009, S. 20).
 
28
Diese Aufzählung schließt natürlich an die Legitimitätstypen Webers an, die ihm zufolge in Herrschaftsbeziehungen zu den rein zweckrationalen Abwägungen der Eigeninteressen noch hinzutreten müssen (vgl. Weber 2014, S. 152).
 
29
Dies auch gerade unter dem Blickwinkel der „Abweichung“ vom Idealtypus, wenn man etwa kriminelle Organisationen wesentlich auch dadurch beschreiben kann, dass sie zur Durchsetzung ihrer Vereinbarung einen deutlich größeren eigenen Aufwand, inkl. etwa Gewaltandrohungen und exemplarischer -anwendung, betreiben müssen.
 
30
Wie etwa Jonathan Friedman und Kajsa Ekholm Friedman nahe legen, scheinen Tempel als organisierte Träger von Ritual und Mythos in Mesopotamien oder auch Ägypten rein politischen oder militärischen Herrschaftsorganisationen historisch sogar vorauszugehen; dafür mussten sie aber auch redistributive Funktionen und physische Zwangsmittel auf sich vereinen (vgl. Ekholm Friedman 2000, S. 163; Ekholm Friedman und Friedman 2008, S. 148).
 
Metadaten
Titel
Zum Begriff der vormodernen Organisation
verfasst von
Philipp Jakobs
Copyright-Jahr
2021
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-33933-3_3