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2022 | OriginalPaper | Buchkapitel

6. Zum sozialwissenschaftlichen Verständnis eines Narrativs

verfasst von : Josua Schneider

Erschienen in: Frieden ist schwieriger als Krieg

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Erzählungen finden sich bereits früh in der Menschheitsgeschichte in allen Kulturen und den sich in ihnen entfaltenden Lebensbereichen. Der Prozess des Erzählens dient nicht nur dazu, beliebige Sachverhalte zu kommunizieren, sondern darüber hinaus um Problemstellungen zu erläutern, Emotionen hervorzurufen und mittels Beeinflussung anderer die eigenen Interessen durchzusetzen. Erzählungen tragen demnach den Anspruch in sich, die Welt erfahrbar zu machen, sie zur gleichen Zeit jedoch auch beeinflussen und gestalten zu wollen.

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Fußnoten
1
Die Annahme einer narrativen Rezeption der Welt findet auch kritischen Widerhall. In seinem 2004 publizierten Artikel mit dem Titel Against narrativity postuliert Galen Strawsen die psychologisch positive Funktion fragmentarischer und unstrukturierter Wahrnehmung der Welt im Gegensatz zur bewusst geschaffenen narrativen Form. Damit stellt er sich dezidiert gegen die Grundannahme des narrative turn, dass Lebenserfahrungen zwangläufig in narrativer Form erfasst werden. Zur Kritik am narrativ turn in den Sozialwissenschaften siehe auch Frey und Früh (2014).
 
2
Der Begriff des ‚Textes‘ soll im Folgenden nicht zu eng gefasst werden, können sich Erzählungen doch in heterogener Weise wie in mündlicher, schriftlicher oder auch visueller Art manifestieren. Hierbei stehen Narrativen mannigfaltige Kanäle schriftlicher und mündlicher Kommunikation von Fernseh-, Radio- und Zeitungsreportagen über Sachliteratur und Autobiographien bis hin zu politischen Reden und privater Mund-zu-Mund-Propaganda zur Verfügung. Die angenommene Textförmigkeit als Merkmal von Narrativen verweist darauf, dass sie nicht lediglich als mentale Konstrukte verbleiben, sondern in einer zusammenhängenden Textform strukturiert zum Ausdruck kommen, auf die der Erzähler zugreift und die mündlich oder schriftlich wiedergegeben wird und sich auf diesem Wege verstetigt (vgl. Viehöver 2012a, S. 67).
 
3
Im weiteren Verlauf der Arbeit werden ‚Narrativ‘ und ‚Erzählung‘ aus pragmatischen Gründen bedeutungsgleich verwendet, um die Mehrdeutigkeit des Begriffes der Erzählung zu vermeiden. Der aus dem englischen Sprachgebrauch stammende Begriff ‚Story‘ wird im Zuge dieser Arbeit weitestgehend mit der ‚Geschichte‘ gleichgesetzt, die als mentales Bild und kognitives Konstrukt Ereignissequenzen und Beziehungen zwischen spezifischen Entitäten beinhaltet und wiederum als bedeutungsgebender Teil einer Erzählung verstanden wird – wohlweißlich, dass dies aus narratologischer Perspektive dem Begriff der Story nicht vollends gerecht werden kann.
 
4
Die Annahme, dass Narrative mindestens einer singulären Autorenschaft zugeordnet werden müssen, erweist sich bereits insofern als problematisch, als dass dies zwangsläufig die Person eines Erzählers per se als narrative Figur zur Vermittlung einschließt. Die Möglichkeit, Narrative mittels Film, Bildern oder Theater zu ‚erzählen‘ zeigt bereits weitere Manifestationsformen jenseits vom singulären, personellen Erzähler auf.
 
5
Für eine ausführliche Darstellung der terminologischen und strukturellen Unterschiede siehe Martínez und Scheffel (2016, S. 28).
 
6
In ihrem Überblick über die Ansätze der Narratologie unterscheiden Nünning und Nünning (2002, S. 9 ff.) zwischen insgesamt acht Entwicklungstendenzen: kontext- und themenbezogene Ansätze, transgenerische und intermediale Applikationen, pragmatische und rhetorische Narratologie, kognitive und rezeptionsorientierte (Meta-)Narratologien, postmoderne und poststrukturalistische Dekonstruktionen der klassischen Narratologie, linguistische Beiträge zur Erzählforschung, philosophische sowie interdisziplinäre Erzähltheorien. Weitere Ausführungen zu den Differenzierungen zwischen den Entwicklungslinien in der Erzählforschung finden sich bei Lahn und Meister (2016) und Nünning (2013).
 
7
Kim (2002, S. 54) weist darauf hin, dass die Ambivalenz des Begriffes ‚Adressant‘ vom Versuch herrührt, zwei Positionen von Vladimir Propp und Étienne Souriau in der des Adressanten zu vereinen. Bal (2009) umschifft diese Doppeldeutigkeit bei Greimas´ Modell, indem sie die Funktion des Auftraggebers außer Acht lässt und stattdessen die Position des Adressanten durch Power substituiert – jene Kraft, ohne die das Subjekt nicht in der Lage wäre, das Objekt zu erlangen. Im Rahmen dieser Arbeit soll dagegen vom Auftraggeber ausgegangen werden, da sich nach Ansicht des Verfassers Power einerseits als unterstützende Kraft und andererseits als eine Auftrag gebende Instanz – sei es als Motivation, Mission oder als buchstäbliche Verpflichtung einer Vertragsbindung gegenüber – als notwendige Disposition für den Erfolg des Subjektes nicht ausschließen. Zudem spielt die empfundene moralische Mission insbesondere bei Konfliktnarrativen eine elementare Rolle, so dass diese als symbolischer Auftraggeber angesehen werden kann.
 
8
Im Zuge späterer Arbeiten verweist Greimas anstelle des Begriffes des Widersachers auf den Begriff des Antisubjekts. Sowohl Subjekt als auch Antisubjekt können möglicherweise im Rahmen der Erzählung ein und das gleiche Objekt begehren, wie beispielsweise im Märchen von Aschenputtel und ihren Schwestern. Ebenso können beide unterschiedliche Wertobjekte anstreben, ohne dass dadurch ihre oppositionelle Position zueinander aufgelöst wird. Deutlich wird dies am marxistischen Narrativ, im Rahmen dessen die Arbeiterklasse (das Subjekt) für eine klassenlose Gesellschaftsform eintritt, während die bürgerliche Klasse (Antisubjekt) ihrem Wertobjekt des Kapitalismus bzw. der Marktgesellschaft nachgeht und sich so als Widersacher generiert (vgl. Kim 2002, S. 58; Greimas 1971, S. 166).
 
9
Im Nachfolgenden soll der framing-Begriff (zu Deutsch: Rahmen) nach Erving Goffman (1986) als Deutungsmuster und Interpretationsschema verstanden werden, also als Perspektive, die eine gewisse Wirklichkeitssicht mit sich bringt. Hiernach erlangt ein natürliches oder soziales Ereignis entsprechend dem Rahmen, in den es eingebettet wird, eine differente Bedeutung. Die Frame- oder auch Rahmenanalyse nach Goffman zielt auf die Untersuchung gesellschaftlich relevanter Rahmen ab, die zu einer spezifischen Sinndeutung und einem daraus resultierenden Verhalten bei Menschen in verschiedenen sozialen Kontexten führen. Die Annahme, dass ein solcher Rahmen bewusst abgewandelt und moduliert werden kann, macht den framing-Begriff auch für Konfliktszenarien und mit ihnen im Zusammenhang stehende Feindbildkonstruktionen anschlussfähig.
 
10
Erwähnung soll an dieser Stelle die Annahme finden, dass der Widerstand von Menschen in Konfliktsituationen nicht nur aus dem Bewusstsein entstammt, dass ihnen Erzählungen als Legitimationsressource dienen. Ferner zeigen sich Menschen in Narrativen verfangen, die sie selbst nicht konstruiert haben und auf die sie auch keinen nennenswerten Einfluss nehmen können. Vor diesem Hintergrund werden sie quasi als Opfer ihres eigenen Narrativs in der Geschichte positioniert (Cobb 2013, S. 67). Von diesem ‚Verstricktsein‘ in Geschichten kann sich der Einzelne nicht willkürlich lösen, da er mit der Zeit ein Teil dergleichen geworden ist (vgl. Schapp 2004, S. 160 ff.). Da sich der Fokus dieser Arbeit jedoch auf die offiziellen, artikulierten Aussagen der jeweiligen Konfliktparteien richtet, denen eine bewusst strategische Intention unterstellt werden kann und deren Sprecher mit hohem symbolischen Kapital ausgestattet sind, soll diesem Gedankengang hier nicht weiter nachgegangen werden.
 
Metadaten
Titel
Zum sozialwissenschaftlichen Verständnis eines Narrativs
verfasst von
Josua Schneider
Copyright-Jahr
2022
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40294-5_6