Hegemony Reloaded – Warum die globalisierungskritische Bewegung nicht von der neoliberalen Krise profitiert

Wir definieren Neoliberalismus mit Peters (2001, S. 14, vii; Chopra 2003) theoretisch als eine selektive Überarbeitung der Grundsätze der klassischen und politischen Ökonomie unter Beibehaltung der Ideen, dass der freie Markt eine essentielle Voraussetzung für eine freie Gesellschaft ist und dass menschliches Sozialverhalten mit den Begrifflichkeiten „Rationalität, Individualität, und Eigeninteresse“ erfasst werden kann. Diese Vorstellung basiert auf einer Definition von Freiheit als individueller Freiheit von Staatseingriffen gepaart mit Marktfreiheit und beinhaltet eine starke Ablehnung des Sozial- oder protektionistischen Staates (Peters 2001, S. 14–15). Insoweit neoliberales Denken unreflektiert ist, nicht ernsthaft auf Kritik und Alternativvorschläge eingeht, und als politisches Mittel zur Absicherung diskursiver und institutioneller Macht eingesetzt wird, wirkt es ideologisch (Harvey 2007). Wie wir im Weiteren erläutern, sind die Akteure der neoliberalen Globalisierung divers und agieren auf allen Regierungsebenen. Schlüsselpositionen im internationalen Bereich haben u. a. die WTO, der IWF, die G8 und die meisten ihrer mächtigsten Mitgliedsstaaten inne, weshalb sich die folgende Diskussion vor allem auf diese richtet. Nicht zu vernachlässigen sind auch Universitäten (Chicago boys), Thinktanks und wirtschaftliche Akteure wie der Trans-Atlantic Business Dialogue und der European Round Table of Industrialists.

Angesichts der Pluralität der Teilnehmenden ist es durchaus anfechtbar, von einer Bewegung im Singular zu sprechen. Wir gebrauchen den Singular hier der Einfachheit halber, aber auch um den normativen Konsens innerhalb der Bewegung zu betonen, der eine Vielzahl von Wertforderungen miteinander verbindet.

Diese Interventionen können als Bestandteil eines „Stellungskrieges“ im Sinne Gramcis und als erste Schritte in der Konstruktion eines gegenhegemonialen Projekts gesehen werden (s. u.). Weitere ÖkonomInnen, wie der späte James Tobin oder Dani Rodrik, haben – wenn auch ungewollt – den Argumenten der Bewegung Glaubwürdigkeit verliehen.

Idealiter ließe sich der Erfolg der Bewegung anhand systematischer Daten zur Entwicklung der öffentlichen Akzeptanz der Werte und Ziele der Bewegung und des prozeduralen Einflusses der Bürger messen. In Abwesenheit solcher Daten stützt sich unsere Argumentation hier auf eine Vielzahl von Quellen und Belegen, welche einen starken Konsens in der Fachliteratur wie auch in bewegungsinternen Kreisen widerspiegeln, demzufolge die Krise nicht zum Erfolg der Bewegung wie hier definiert beigetragen hat.

Wir wollen hier auch anmerken, dass einige ForscherInnen und AktivistInnen die Idee von Gegenhegemonie als einen Schritt vorwärts geradeheraus ablehnen. Day (2005) z. B. argumentiert, dass die präfigurativen Praktiken globalisierungskritischer AktivistInnen in selbstorganisierten lokalen Alternativen gegenhegemoniale Strategien ersetzen. Juris (2008) zeigt in seiner Studie zu globalisierungskritischen Netzwerken in Barcelona wie AktivistInnen sich erfolgreich von internationalen Mobilisierungen ab- und lokaler Organisation zugewandt haben. Unsere Analyse des Scheiterns der Konstruktion einer Gegenhegemonie setzt explizit nicht voraus, dass alle in den globalisierungskritischen Bewegungen involvierten Akteure nach einer solchen Konstruktion streben oder daran beteiligt sein sollten.

Zur Rolle des internationalen Rechts siehe auch Rajagopal (2006, 2003).

In seinen Gefängnisheften und Überlegungen zu Machiavellis Fürst analysierte Gramsci das Potenzial der neu entstehenden Italienischen Kommunistischen Partei, als „moderner Fürst“ zu fungieren und entwickelte eine neue Vision von Gesellschaft und Politik sowie Konzepte zur Schaffung gegenhegemonialer Solidarität angesichts des faschistischen Regimes.

In Cox’ (1986) Zupassung dieses Konzeptes auf die internationale Ebene werden historische Blöcke von sozialen Produktionsverhältnissen und spezifischen Formen von Staats- und Weltmacht geschaffen, wie er am Beispiel der Pax Americana aufzeigt. Mark Rupert (1995, S. 29; eigene Übersetzung) fügt dem hinzu, dass „die Konstruktion eines historischen Blocks eine Vorbedingung für die Ausübung der Hegemonie ist“ und dass sie „eine Rekonstruktion der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft durch organisch miteinander verbundene Prozesse politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandels beinhaltet“. Das Bretton-Woods-System etwa war hegemonial, indem es eine Balance zwischen materieller und ideeller Macht stützte und den klassischen Kompromiss zwischen Arbeit und Kapital darin einbettete. In ähnlicher Weise kann der Washingtoner Konsensus (Harvey 2007; Chomsky 1999) als eine hegemoniale wirtschaftspolitische Doktrin des Neoliberalismus gesehen werden, die in den letzten Jahrzehnten weltweit zu Liberalisierungen, Privatisierungen und Deregulierungen geführt hat.

Derartige Aktivitäten kommen dem gramscianischen Begriff des Bewegungskrieges deutlich näher als dem des zivilen Ungehorsams, den wir mit Habermas (1983, S. 35) als öffentlichen Akt definieren, „der in der Regel angekündigt ist und von der Polizei in seinem Ablauf kalkuliert werden kann; er schließt die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen ein, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen zu affizieren; er verlangt die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen; die Regelverletzung, in der sich ziviler Ungehorsam äußert, hat ausschließlich symbolischen Charakter – daraus ergibt sich schon die Begrenzung auf gewaltfreie Mittel des Protests“. Im Gegensatz hierzu findet sich im Bewegungskrieg der Globalisierungskritik zum Teil durchaus Gewaltbereitschaft; Konfrontationen werden oft nicht angekündigt, sondern im Gegenteil für Ordnungskräfte möglichst unkalkulierbar gestaltet. Vor allem haben derartige Aktionen nicht nur symbolischen Charakter, sondern zielen oft konkret darauf ab, die Aktivitäten der Gegner zu stören oder gar zu vereiteln. Es handelt sich also um physische Konfrontation im Kampf um Politikgestaltung und daher um Bewegungskrieg im gramscianischen Sinne.

Die empirischen Informationen zum G8-Gipfel von 2007 stammen aus einem Werk von Scholl (2012).

Auch die Kooptation ehemaliger Arbeiterparteien spielt hier eine Rolle, da durch ihre Einbindung in die Politik des neoliberalen Mainstreams suggeriert wird, dass die Anliegen ihrer (ehemaligen) Stammwähler auch in dieser Politik berücksichtigt werden, selbst wenn dies, auch in den Augen ihrer (ehemaligen) Wähler, zunehmend nicht der Fall ist (Kriesi et al. 1992).