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Open Access 01.03.2024 | Hauptbeiträge

Klarifizieren und Konfrontieren – oder besser doch nicht?

verfasst von: Prof. Dr. phil. Heidi Möller

Erschienen in: Organisationsberatung, Supervision, Coaching

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Zusammenfassung

Wenn wir über das Verschieben des Sagbaren sprechen, dann geht es auch um Selbstreflexion: Wo zensieren wir uns selbst und haben unseren Anteil daran, dass zentrale Inhalte aus dem Beratungskontext exkommuniziert werden? In arbeitsweltlichen Kontexten stellt sich immer wieder die Frage, wie ich meine Gegenübertragungs-Phänomene nutze, wenn ich ihrer überhaupt gewahr werde. Der Beitrag stellt an vier Beispielen gelungene und weniger geglückte Konfrontationen dar und stellt Überlegungen an, wie konstruktive Klarifikation und Konfrontation in Beratungsprozessen gelingen können. Die psychischen Voraussetzungen der Spannungstoleranz, der Ambiguitätstoleranz und des professionellen Selbstwerts werden in Hinblick auf ihre Bedeutung für den beraterischen Diskurs besprochen.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

1 Einleitung

„Sie habe für sich beschlossen, solche Fauxpas zu riskieren, statt nur noch vom Blatt abzulesen, sagte Baerbock nach dem Taiwan-Desaster. Ihr sei Authentizität wichtiger als permanente verbale Vorsicht.“ Annalena Baerbock, NZZ, 16.02.2023
Ich möchte die geneigte Leser:in zu Beginn des Beitrags auffordern, eine Situation zu erinnern, in der Sie sich als Coach, Supervisor:in, Organisationsberater:in oder als Mitglied einer Organisation etwas „verkniffen“ haben zu sagen: Beobachtungen, eigene Körpersensationen, Fantasien, Affekte u. v. m., von deren Bedeutsamkeit für den weiteren Prozess Sie eigentlich überzeugt waren, aber nicht den Mut fanden, diese Phänomene ins Gespräch zu bringen.
Im Folgenden werden vier Beispiel aus der eigenen Beratungspraxis erzählt, die mir in meiner Rolle als Beraterin Mut abverlangten. Zwei Beispiele (1, 2), bei denen mein eigenes Urteil lautet: Gut, dass ich konfrontiert habe. Das hat zur Erhellung der Situation beigetragen und den Prozess günstig befördert. In der dritten Geschichte (3) fällt mein Urteil über meine beraterische Kunst ambivalent aus, und die vierte Beratungsszene (4) führte in einen heftigen Konflikt, der nicht aufgelöst werden konnte, als ich das „Nicht-Sagbare“ benannte.
Beispiel 1: Ich beginne mit einer gelungenen Situation: In einer Coaching-Weiterbildung wurde das Thema Gendergerechtigkeit in der Arbeitswelt behandelt. Ein Unternehmensberater rutscht auf seinem Stuhl hin und her, wird zunehmend unruhig, wägt offensichtlich ab, ob er es wagen soll, seine Gedanken zu veröffentlichen. Ich ermuntere ihn, seine Überlegungen mit der Gruppe zu teilen. Er berichtet, was ihm durch den Sinn geht, und beginnt zunächst zaghaft, sich über eine Mitarbeiterin, die aus der Elternzeit in Teilzeit in das Unternehmen zurückgekehrt ist, zu beschweren: Sie sei nie vor 9 Uhr greifbar, gehe dann frühzeitig zu einem ausgedehnten Mittagessen und verlasse spätestens um 15 Uhr ihr Büro. Das Aufgabenprofil der Mitarbeiterin in der internen Organisationsentwicklung sehe die Begleitung von Changeprozessen vor, die schlecht um 15 Uhr ein tägliches Ende nehmen könnten. Jeden Morgen verging eine Stunde mit dem Update für diese Mitarbeiterin. Alles, was die anderen bis in die späten Abendstunden entwickelten, müsse aufwendig kommuniziert werden, und ab 14 Uhr erfolge dann die Übergabe, die auch wieder fast eine Stunde dauere. Somit beliefen sich die Nettoarbeitszeit seiner Mitarbeiterin auf noch nicht einmal drei Stunden bei 75 % Bezahlung. Nicht nur er, sondern sein ganzes Team sehen in ihr nichts als eine Belastung. Eine ineffektive Frau, die auf Kosten aller mitgeschleppt werden müsse. Er sei es leid, dass die Potenzialträgerin von einst seit ihrer Mutterschaft seltsam verwandelt sei und kaum Initiative zeige, geschweige denn gute Impulse setze. Ein Muttertier halt. Er sei am Ende mit seiner Geduld, sehe aber keinerlei Spielraum, um die Situation zu entspannen.
Im Zuge seiner Schilderungen hat der Unternehmensberater an Fahrt aufgenommen, wird immer ärgerlicher und zensiert sich kaum noch. Ich dachte: „Prima, jetzt geht’s ab“ und betrachtete die Veröffentlichung seiner Gedanken als einen Glücksfall. Ich sah in seinen Schilderungen wiederkehrende Bewertungen von Führungskräften. Wie reagierte nun die Gruppe, deren Mitglieder zu 2/3 weiblich waren? Da es sich um eine reife Arbeitsgruppe (Bion 1961/1990) handelte, fielen sie nicht über den „Macho“ her. Es gelang im Sinne eines wirklichen Dialoges (Bohm 1998), die Resonanzen auf die Problemlage des Kollegen im Suspending, also Gedanken kommen zu lassen, ohne zu bewerten, die unterschiedlichen Affekte und Einfälle als gleichermaßen gültig im Raum schweben zu lassen. Niemand wollte Recht haben. Die Perspektiven der anwesenden Mütter konnten Raum einnehmen: „Weißt du eigentlich, wie sehr man sich freut, einmal in Ruhe Mittag zu essen, wenn man die ganze Nacht die Kotze aufgewischt hat?“ Solche Beiträge konnten ebenso geäußert werden wie die Freude einiger Männer, dass jetzt endlich mal Tacheles geredet wird. Die drastisch vorgetragenen Perspektiven der Frauen mit Kindern, der Frauen ohne Kinder, der Männer mit und ohne Führungsfunktionen waren im Raum, und die Bearbeitung der Fragestellung konnte mit einem instruktiven Beitrag einer Teilnehmerin, die als Personalentwicklerin in einem großen Konzern tätig ist, konstruktiv gewendet werden. Sie machte auf die unterschiedlichsten Möglichkeiten der Arbeitszeitgestaltung aufmerksam und fand, dass die Firma des Unternehmensberaters nicht besonders kreativ in der Auslotung von Optionen war. Sie sprach davon, dass es ihr täglich Brot sei, Modelle zu erfinden, die sowohl der komplexen Aufgabenerfüllung des Unternehmens als auch dem Lebensmodell der Teilzeitkraft dienen. Viele Möglichkeiten wurden diskutiert, und vor allem wurde klar, dass es zu den zentralen Aufgaben der modernen Personalentwicklung gehört, eben diese Adaption an Person und Aufgabe innovativ zu gestalten, und der Konflikt in der Gruppe konnte entindividualisiert werden. Das Nicht-Sagbare zu äußern, half Ressentiments aufzulösen, und konnte für eine verbesserte Personalentwicklung genutzt werden.
Beispiel 2: Ich supervidiere das Leitungsteam einer Suchtklinik auf dem Lande. Meine letzte Anreise war begleitet von viel Missmut meinerseits: „Ach du lieber Himmel, muss ich da schon wieder hin. Dann fangen die wieder an zu jammern, dass sie kein Personal finden und wie schrecklich alles ist, wie die Konzernspitze mit ihnen Schlitten fährt“. Ich hatte überhaupt keine Lust auf das Team. Als die Sitzung begann, erfuhr ich als erstes: Der leitende Psychologe hatte gekündigt, und große Sorge wurde artikuliert, wie die Arbeit nun aufrechterhalten werden könne. Der Appell an mich selbst lautete: „So, jetzt sei mutig“. Ich berichtete dem Team von meiner Unlust, zu ihnen zu fahren, und dass ich mir unschwer vorstellen könnte, dass es ihnen anders ginge, wenn sie morgens in die Klinik fahren. Ich fragte nach ihrer ursprünglichen Motivation, ihren Beruf zu wählen: Psychotherapeut:in oder Ärzt:in wird man nicht zufällig. Wo ist die Berufung? Was ist mit ihrer Leidenschaft, mit ihrer Freude und vor allem im Feld der Suchttherapie mit der Veränderungszuversicht im Team? Wie sollen in einem solchen Klima Patient:innen gesund werden? Wohin ist der Schwung des beruflichen Anfangs verschwunden? Das Team reagierte überhaupt nicht gekränkt und konnte den Impuls aufnehmen. Meine Konfrontation enthusiasmierte die ganze Runde. Mit einer guten energetischen Ladung arbeiteten wir konstruktiv an vielen der offenen Fragen des Teams.
Beispiel 3: In einem interkulturellen Beratungsnetzwerk ließ sich kein neuer Vorstand finden. Ein großer Streit um die Namensgebung war entbrannt. Die Gruppe bestand jeweils zur Hälfte aus People of Color und weiß gelesenen Menschen. Hitzige Diskussionen wurden geführt; z. B. zur Frage: Heißt es nun Genitalverstümmelung oder Genitalbeschneidung? Die selbst betroffenen Frauen empörten sich heftig gegen den Verstümmelungsbegriff und verteidigten das nur ihnen zustehende Recht auf begriffliche Bestimmung. Zudem war man sich der politischen Strategie des Vereins uneins: Die Gruppe der People of Color weigerte sich, dem Antrag des Vorstands zuzustimmen, sich dafür einzusetzen, dass Väter, die ihre Töchter im Heimatland beschneiden lassen, ihr Recht auf Asyl aberkannt bekommen sollten. Dieser Antrag wurde als eindeutig rassistisch markiert.
Als Konfliktberaterin half ich mir damit; nichts als Fragen zu stellen:
  • Ist nur dann eine Haltung valide, wenn ich selbst betroffen bin?
  • Welche Auswirkungen auf die Vereinsarbeit hätte eine gleichermaßen gegenseitig zugeschriebene Gültigkeit der jeweiligen Perspetiven?
  • Wie soll eine repräsentative Demokratie funktionieren, wenn nur Betroffene wählbar sind?
Die Vorstandswahl gelang schließlich recht einvernehmlich. Die zugrunde liegenden Probleme konnten in der digital stattfindenden 90 min-Session nicht gelöst werden, bilden sie doch einen Konflikt ab, der in Hinblick auf die Frage, wie sich die äußeren Macht- und Herrschaftsverhältnisse in diesem Verein in einer inneren Realität reinszenieren, reflektiert werden müsste. Der globale Süden und der globale Norden müssen noch weite Wege gehen, um zu einer wirklichen Verständigung zu kommen.
Beispiel 4: Eine Geschichte des Scheiterns mit Konfrontation: Während einer Teamentwicklung auf einer Palliativstation wurde unentwegt die fehlende Wertschätzung durch die Ärzt:innen eingeklagt. Aus meiner Erfahrung im Gesundheitswesen habe ich selten erlebt, dass das medizinische Personal derart wertschätzend, ständig lobend, Dankbarkeit ausdrückend und anerkennend mit dem Pflegenden kooperierte. Die Chefärztin hatte zuvor das ganze Team zum Sommerfest (auf eigene Kosten) eingeladen. Eine Pflegende brachte folgenden Einwand vor: „Das geht aber nicht. Sie müssen zwei Feiern machen, weil die einen sind ja im Schichtdienst, die können dann nicht teilnehmen, also müssen Sie zwei Feiern anbieten“. Diese fordernde Haltung (ich dachte an die Raupe Nimmersatt) hatte mich schon recht aggressiv aufgeladen, ich vermisste ein Danke. Die Zuwendung schien nie zu reichen. Leicht geladen frage ich die Protagonistin der Wertschätzungsdebatte, ob sie mir sagen könnte, wann es genug an Wertschätzung sei, damit die Ärzt:innen eine Möglichkeit hätten, die Zielvorstellung zu kennen. Im Feedback zum Abschluss der Teamentwicklung sagte sie zu mir, sie sei so was von froh, dass sie keine Studentin ist und solch einer abscheulichen Frau wie mir damit nicht ausgesetzt sei. Da fiel mir nicht mehr viel ein.

2 Exkurs: Zur Frage der Wertschätzung

Um für das Beispiel 4 ein vertieftes Verstehensangebot zu erstellen, erlaube ich mir einen Exkurs in die Wertschätzungsdebatte. Was steckt genau hinter der Forderung nach mehr Wertschätzung? Tür aufhalten, Präsent zum Geburtstag, Lob für geleistete Arbeit, Bonuszahlungen, Dienstwagen, Beförderung, Mitarbeitende des Monats werden, Dankbarkeit? Die stetige Einforderung von mehr Wertschätzung, die mir aktuell in fast allen Beratungskontexten begegnet, erinnert mich an gierige Vögelchen im Nest, die stets gefüttert werden wollen. Klaus Eidenschink (2023) schreibt dazu:
  • „Wem tut Wertschätzung gut? Jedem!
  • Wer muss Wertschätzung von anderen bekommen? Kinder!
  • Wer ist nicht auf Wertschätzung von anderen angewiesen? (Seelisch) Erwachsene!
  • Wer ist seelisch erwachsen? Wer sich selbst mit Wertschätzung versorgen kann und zusätzlich die Wertschätzung anderer genießen kann!“
Mitarbeitende, die unentwegt Wertschätzung einklagen, etablieren eine Art Eltern-Kind-Beziehung zu ihren Vorgesetzten. Vorgesetzte werden dann zu sprechenden Puppen, die unentwegt Tokens in Form von Lob, Anerkennung und Belobigung zuteilen müssen. Diese Erwartungshaltung bedeutet letztlich, sich von den Führungskräften abhängig zu machen. Diese wiederum sollen in von den Wertschätzungs-Empfänger:innen definierten Abständen immer wieder loben. Auf diese Weise entsteht ein nicht zu entscheidender Machtkampf. Wenn unentwegt Wertschätzung eingeklagt wird, dann lenkt es von einer differenzierten Selbstreflexion ab. Eine Beschäftigung, sich mit den eigenen Schwächen, mit den eigenen Fehlern, vielleicht auch mit den Lücken im Kompetenzportfolio auseinanderzusetzen, kommt dann zu kurz. Sehr wertschätzungsbedürftig zu sein, ist riskant, es kann eine sich selbst ausbeutende Dynamik in Gang setzen: „Ich arbeite noch mehr, damit mir Papi häufiger sagt, dass ich da ganz prima bin“. Auf diese Weise können selbstschädigende Muster entstehen.
Zwack et al. (2012, S. 120) haben ein hilfreiches Stufenmodell zur (Nicht‑) Wertschätzung entwickelt (Abb. 1). Es geht auf einer basalen Ebene zunächst einmal um etwas ganz Einfaches:
  • dass ich nicht die Tür zuschlage, wenn jemand hinter mir geht,
  • dass ich nicht in der Nase bohre, wenn mir am Schreibtisch jemand gegenübersitzt.
  • …………..
Ich nehme also die Existenz meines Gegenübers zur Kenntnis.
Zwack et al. (2011) beschreiben die strukturelle Kränkung, die entsteht, weil wir nicht als Personen in Organisationen arbeiten, sondern als Rollenträger:innen. Ich werde nicht um meine Person willen eingestellt, sondern weil ich eine Aufgabe zu erfüllen habe, helfen soll, in meiner Funktion die Ziele der Organisation zu erreichen. Niemand von uns will aber mit seinem Nutzen für die Organisation verwechselt werden. Auf diese Weise betrachten die Autoren die Spannung zwischen Aufgaben- versus Personenorientierung als strukturell kränkend. Die Organisation aber hat genau den Sinn, älter zu werden als die Personen, sie soll über die Personen hinaus existieren.
Der Wertschätzungsdiskurs, der oft sehr fordernd und sehr anklagend vorgetragen wird, kann ganz Unterschiedliches bedeuten. Die Bandbreite liegt zwischen: „Lass mich doch endlich mal in Ruhe das machen, was ich kann“ bis „Lassen Sie mich doch endlich auch mal ran an die Entscheidungen!“ Die Aufmerksamkeit von Führungskräften wird oft allein von den Problemfällen und den High-Performern aufgesogen; die anderen 80 % der Belegschaft, die einfach gut oder angemessen arbeiten, bekommen oft zu wenig Aufmerksamkeit.
Hinter der Wertschätzungsdebatte liegt der stetig bedrohte Selbstwert in der Arbeitswelt (s. unten). Diesen adäquat zu regulieren, ist schwer, und diese Notwendigkeit verkommt zum „Wertschätzungslückenstopfsystem“. Um diese Dynamik zu verlassen, braucht es den Weg der Selbstanerkennung. Drei Wochen auch ohne Lob im professionellen Selbstwert stabil zu bleiben, das könnte ein Ziel sein. Wir Supervisor:innen können helfen, von der Eltern-Kind-Dynamik hin ins Geschwister-Containment zu kommen. Mitarbeitende können auch einander Anerkennung schenken, dafür sind nicht nur die Führungskräfte zuständig.
Bezogen auf den pflegenden Kontext im Beispiel 4 wird die Kränkung auch dadurch erzeugt, dass die Pflegekräfte sich in ihrer professionellen Identität nicht wiederfinden. Sie können das, was sie gelernt haben, in Hinblick auf die Dokumentationspflicht, das stetige Füllen von personellen Vakanzen nicht mehr zur Anwendung bringen. Der Grund für ihrer Berufswahl, Heilungsprozesse von Patient:innen zu begleiten, kommt zu kurz, und der erlebte Mangel wird im Wertschätzungsdiskurs auf die Führungskräfte verschoben. Es entstehen dysfunktionale Rollenfixierungen: Ärzt:innen sollen loben und die Pflegenden gelobt werden. Das empfundene Defizit zeigt sich in einer Empathie-Verweigerung gegenüber den Führungskräften. Quasi als Totschlagargument wird mikropolitisch das elfte Gebot: „Du sollst nicht Nicht-Wertschätzen!“ in Stellung gebracht (Zwack et al. 2012).
Der Ruf nach Wertschätzung lässt sich auch als eine Macht der Ohnmächtigen beschreiben. Damit kann Druck ausgeübt werden, denn die Sättigung ist nie zu erwarten, und ich habe als Einklagende die Entscheidung darüber, wann es ausreicht. Die Inkongruenz zwischen dem, was ich glaube, was von meiner Arbeitskraft wertvoll für die Organisation ist, und dem, was die Organisation von mir abruft, zeigt sich in der Wertschätzungsdebatte, die damit die Qualität einer Alarmfunktion bekommt.
Luhmann (2000) unterscheidet zwei unterschiedliche Programme: das Konditional-Programm und das Zweckprogramm. Ein Konditional-Programm kann man sich in der Produktion vorstellen. Es gibt einen Stimulus, und dann ist klar, was zu tun ist. Es ist klar, wann und auf welche Weise der Autositz in das neu zu erstellende Fahrzeug eingebaut werden muss. Die Arbeit ist berechenbar und zudem messbar. Es gibt Wenn-Dann-Programme, es geht um Wiederholung. Diese Tätigkeit wird kaum als Selbstverwirklichung erlebt. Die Aufgabe ist klar, und ebenso eindeutig ist es, wenn ich Fehler mache. Zweckprogramme hingegen beschreiben eine Aufgabe, die ich bekomme, ohne dass es klare Regeln zu deren Erfüllung gibt: „Schreibe mir eine Präsentation für die nächste außerordentliche Mitgliedervollversammlung“. Diese Form der beruflichen Herausforderung kommt in der modernen Arbeitswelt zunehmend mehr vor. Ich bekomme eine Aufgabe, und der Weg zu deren adäquaten Erfüllung ist offen. Oft ist auch das gewünschte Ergebnis wenig klar umrissen. Mit welchen Quellen, welchen Methoden ich arbeite, bleibt mir überlassen. Welche Impulse ich aufnehme, was ich als gutes Endergebnis definiere, obliegt zunächst mir selbst. Ich bekomme zwar ein Ziel genannt, aber die Wege dorthin muss ich selbst finden. Damit steht die Person sehr viel stärker im Vordergrund der Aufgabenbewältigung. Es ist nicht mehr der Handlungsablauf, der schief läuft, sondern ich selbst scheitere. Damit steigt das Risiko, Missachtung statt Wertschätzung zu bekommen. Ich verlasse entweder als Held:in oder als Versager:in die Bühne. Diese Form der Arbeitsaufgabe ist viel kränkungsträchtiger, Misserfolg kann schnell persönlich genommen werden.
Um aus der Diffusion in der Wertschätzungsdebatte herauszukommen, braucht es verhandelbare und verantwortbare Positionen und nicht ein unspezifisches: „Ich will mehr Wertschätzung“.

3 Maulkörbe in der Weiterbildung von Coaches und Supervisor:innen

Damit Coaches, Supervisor:innen und Organisationsberate:innen in der Lage sind, zu klarifizieren und zu konfrontieren, müssen sie sich selbst der Zumutung, konfrontiert zu werden, aussetzen. Weiterbildungssettings sind hier der angemessene Raum. Die Peers, die Mitstudierenden oder Weiterbildungskandidat:innen und die Dozent:innen müssen den Mut aufbringen, auch negatives Feedback zu platzieren, konstruktiv zu kritisieren und das vermeidlich Unsagbare auszudrücken. In der Supervisions-Weiterbildung muss Neues gelernt und Altes verlernt werden. Rappe-Giesecke (2009) lenkt die Aufmerksamkeit in ihrer Beschreibung wünschenswerter Merkmale von Beratungsweiterbildungen auf die Bedeutsamkeit von Rollenerfahrungen und auf die Empfindlichkeit in Reflexionsprozessen. Professionelle Identitätsentwicklung begreift sie im Sinne Keupp (2012) als Verknüpfungsaufgabe von neuen mit bisherigen Erfahrungen. Das Neue liegt im instruierten Wissen und der Rollenerfahrung: „Professionelle Identität entsteht nicht allein aus dem Wissen über Maximen professionellen Handelns und dem Füllen des Handwerkskoffers, sondern vorwiegend in der Praxis […], wenn man als solche handelt und dieses Handeln mithilfe des Gelernten reflektiert“ (ebd., S. 6). Sie plädiert dafür, ausreichend Raum für eine geschützte Selbstreflexion zur Verfügung zu stellen. Rappe-Giesecke geht davon aus, dass die erwachsenen Teilnehmenden ihre bisherige berufliche und private Sozialisation in die Weiterbildung einbringen, zu der „sich das neu zu erwerbende [Wissen] in Beziehung setzen muss“ (ebd., S. 2). Damit neues Wissen an Altes anknüpfen kann, stehen alle mentalen Modelle auf dem Prüfstand, die sich durch Erfahrungen in organisationalen Zusammenhängen geformt haben und die neue Rolle beeinflussen: „Die Umorganisation des Wissens berührt immer auch die Identitätskonzepte der Person. Sie verstärkt, erschüttert oder verändert Gewissheiten und Grundannahmen, Werte und Haltungen“ (ebd., S. 3). Diese selbstreflexiven Lernvorgänge versteht sie als zwei parallele Prozesse, die sowohl kognitiv als auch in hohem Maße emotional ablaufen. Ein Umgang mit dieser Parallelität erfordert von den Lehrenden, didaktisch über die reine Instruktion von Wissen hinaus zu denken und Lernräume bewusst als geschützte Räume zu verstehen, in denen vor allem unangenehme Emotionen selbstverständlich als Teil des Entwicklungsprozesses betrachtet und erwartet werden (vgl. Möller et al. im Druck).
Die Labilisierung des Bestehenden ist die Voraussetzung für das Lernen. Dazu muss die Komfortzone verlassen werden. Mich beschleicht in den letzten Jahren der Eindruck einer Übersensibilität in den Fragen des Feedbacks oder gar der Konfrontation: Was darf ich als Lehrende noch sagen? Darf ich einen Studierenden, der missmutig, mit fast misogyner Mimik dasitzt, dies mitteilen? Für sein Kundensystem könnte dieses Signal ungünstig sein. In einer Situation gelang die Konfrontation. Er selbst gab einer Kommilitonin ein Feedback, das eher eine Beleidigung darstellte. „Oh, das ist aber grausam!“ lautete mein Kommentar. Seine Antwort, sehr spontan: „Ja, ich weiß, ich habe damit ein Problem, mit Grausamkeit“. Er empfand angemessen, dass sein Verhalten auf diese Weise kommentiert wurde, und benannte dieses Phänomen als ein Thema in der Psychotherapie, die er das Studium begleitend begonnen hatte. Freude an Grausamkeit kann in einer Supervisionsausbildung nicht bearbeitet werden.
Die „Verschiebung des Sagbaren“ droht auch in supervisorischen Ausbildungskontexten stattzufinden. Wortlaut eines Kollegen: „Früher konnte man noch was sagen, da wollten die Studierenden noch was lernen, jetzt sollen wir sie immer nur loben“.
Ich machte in einer anderen Weiterbildungsszene eine Vielrednerin darauf aufmerksam, dass sie ihre Positionen, die sie vertreten will, oft in Fragen kleidet. Sie wolle weniger etwas wissen, sondern etwas sagen: „Ich mache mal einen Vorschlag: Es ist doch viel einfacher, Sie sagen, was Sie meinen, und dann brauchen Sie gar nicht…“ Die Folge war ein Konfliktgespräch in der nächsten Woche am Telefon von einer Stunde. Die Studierende hatte sich durch meine Intervention massiv angegriffen gefühlt. In einer anderen Sequenz sorgte bei einem Teilnehmenden die Differenzierung unterschiedlicher Statements der Studierenden während der Weiterbildungstage, in Beiträge, die den Gruppenprozess voranbringen, und jenen, die der Selbstdarstellung dienen, für viel Unmut. An diesem Beispiel sei nochmals deutlich gemacht, dass ohne eine gründliche Selbstreflexion der Lehrenden: „Mag hier ein Gegenübertragungsagieren am Werk gewesen sein?“ keine Konfrontation zu setzen ist. Nur ein selbstkritischer Blick der Ausbildenden erlaubt ein solches didaktisch ja heikles Handeln.

4 Der gut integrierte professionelle Selbstwertmodus

Die gemeinsame Klammer aller skizzierten Szenen und Beispiele lautet Gefährdung des professionellen Selbstwerts. Selbstwertfragen beschäftigen – folgen wir einer Untersuchung von Stavemann (2011) – ca. 80 % der in Deutschland lebenden Menschen. Es ist also kein Wunder, dass diese Themen auch in der Supervision und im Coaching auftauchen. Ein stabiler Selbstwert wird zweifelsohne den Grad des Sagbaren für Supervisor:innen und Coaches erhöhen. Um z. B. kritisches Feedback konstruktiv wenden zu können, ist eine Stabilität des professionellen Selbstwerts die Voraussetzung.
In der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD) (vgl. Möller und Beneke 2023) stellt der Selbstwert eine der zentralen Konfliktachsen dar. Folgen wir Grawe (2004), ist Selbstwertstabilität ein Grundbedürfnis, und wir alle streben nach Selbstwertschutz und (besser noch) Selbstwerterhöhung. Wir alle wollen uns kompetent, wertvoll und geschätzt fühlen. Ziel in der Supervision und im Coaching kann es sein, einen Beitrag zur Stabilität des professionellen Bildes von sich selbst zu leisten. Ist die Diskrepanz zwischen meinem professionellen Ich-Ideal und meinem erlebten professionellen Real-Selbst gering, erlebe ich Selbstwirksamkeit und Zufriedenheit in Lebens- und Arbeitskontexten. Supervisand:innen, die einen integrierten Modus des Selbstwertes aufweisen, sind weniger leicht kränkbar, und man kann ihnen die „Wahrheit“ zumuten (Bachmann 2011). Mitarbeitende und Führungskräfte im passiven Modus jedoch tun sich schwer, Vorschläge zu machen, Entscheidungen zu treffen und Konflikte konstruktiv anzugehen. Sie grübeln über ihre Wertigkeit und stellen sie schnell komplett in Frage. Der generalisierte Selbstunwert endet schnell in Selbstanklage und Schamaffekt. Mitarbeitende und Führungskräfte im aktiven Modus imponieren hingegen mit forcierter Selbstsicherheit. Der zugrundeliegende Konflikt ist jedoch der gleiche. Das Verhalten dient der Kompensation des brüchigen Selbstwertgefühls. Im aktiven Modus finden wir ebenso Menschen mit hoher Kränkbarkeit und fehlender Resonanz. Sie regulieren sich häufig durch die Entwertung anderer.
In der Supervision zeigen sich Teammitglieder oder Falleinbringende mit Fragen, mit Schwächen, mit dem, was nicht gut funktioniert. Es ist erforderlich, dass sie robust in eine Realitätsprüfung gehen: „Was ist genau geschehen? Was habe ich erlebt? Was habe ich gemacht?“ und weder zu externalisieren, zu bagatellisieren oder zu implodieren. Damit Supervisor:innen und Coaches wirkmächtig werden, sich weiterführende Gegenübertragungsphänome, Beobachtungen und Gedanken nicht verkneifen, sondern ihr Material aus der exzentrischen Position auch konfrontierend zur Verfügung stellen, braucht es eine Kultur, in der es möglich ist, Feedback mit „offenem Visier“ zu geben und in Empfang zu nehmen, ohne jeweils in Unwert oder Großartigkeit zu regredieren.
Wie können in Supervision und Coaching Selbstbewertung verändert werden, damit Mehrperspektivität und mutiges Intervenieren möglich wird? Um das Sagbare nicht zu verschieben, braucht es Selbstreflexion darüber, wie die Supervisand:innen und Coachingpartner:innen selbst ihre Selbstwertskala herauf- oder eben herunterregeln. Die Lösung ist nicht die stetige Bestätigung durch die Beratenden, sondern zu helfen, zu einer angemessenen Selbstbewertung zu kommen. In der Supervision kann der eigene Täter:innen-Anteil an Selbst-Herabwürdigung herausgefunden werden: Ich muss mich mit der schwierigen Rückmeldung der Vorgesetzten identifizieren, ich muss die Botschaft, die kritisch aus der Klientel kommt, autoaggressiv, ohne sie zu prüfen, introjizieren, dann geht mein Selbstwert-Regler herab. Statt der stetigen Anerkennung von außen braucht es eine kritische Würdigung des Gesagten: Welche Aspekte nehme ich ernst, versuche daraus mein Entwicklungsfeld zu skizzieren, und welche kritischen Anmerkungen hingegen bewerte ich als unberechtigt und weise sie zurück? Lob von außen verschiebt für Momente den Regler nach oben, aber auch nur dann, wenn ich die Lobspenderin dazu legitimiere. Immer bin ich es selbst, die den Regler betätigt. Auf diese Weise lässt sich ein integrierter Modus entwickeln und eine gesunde Autonomie der Führungskraft und der Supervisor:in gegenüber entwickeln.
Fallbeispiel: Eine meiner Mitarbeiter:innen in Krise beschrieb sich: „Ich bin völlig arbeitsunfähig.“ Die Betrachtung ihres Arbeitsfeldes: „Wo sind die Erfolge? Was ist gelungen? Welche Kompetenzen konnten erlebt werden? Was macht Mühe?“ führte zu einer angemessenen Selbstsicht. Eine von fünf Säulen des Tätigkeitsbereichs führte zu Unzufriedenheit. Diese Differenzierung führte zu einer konstruktiven Neuorientierung der Karrierepläne. Ein neues Narrativ wurde entwickelt.
Auf dem Weg zu einem adäquaten professionellen Selbstwert kann Supervision und Coaching helfen. Die Bestimmung der „natürliche Größe“ unserer Klient:innen in Beratungssettings, die Gewissheit darüber, was ich kann und was ich noch lernen muss, kann als Resilienzfaktor erachtet werden, der das Kränkungspotenzial enorm verkleinert. Die Suche nach einem „good enough“ (Haubl 2015) dient dabei als günstige Suchrichtung.

5 Zur Frage der Ambiguitätstoleranz

Ambiguitätstoleranz gilt als die Basiskompetenz, um mehr Sagbares in den Diskurs von Beratung zu bekommen. Es bedarf der Fähigkeit, das Nebeneinander von Freud und Leid beruflichen Alltags, von positiven und negativen Aspekten der Folgen einzelner Entscheidungen „gleichermaßen gültig“ auszuhalten. Ambiguitätstoleranz ist dann von Nöten, wenn sich Konflikte im Team nicht mit bewährten Handlungsstrategien lösen lassen. Sie ist wichtig, wenn sich in Gruppen und Teams, aber auch in Einzelpersonen scheinbare oder wirkliche Dilemmata zeigen, unterschiedlichste Perspektiven entwickeln, die die Kohärenz des Systems zu sprengen drohen. Dazu braucht es Spannungstoleranz und die innere Kapazität, Ungewissheit zu ertragen.
Else Frenkel-Brunswik, österreichisch-US-amerikanische Psychoanalytikerin und Psychologin, beschäftigte sich schon in den 1940er-Jahren mit dem Gegenstück zur Ambiguitätstoleranz, der Intoleranz der Ambiguität. Darunter verstand sie das Nicht-Ertragen-Können von Mehrdeutigkeit (vgl. Benetka 2002). Es gibt Menschen, die mehrdeutige und gegensätzliche Sachverhalte nicht ertragen und nicht bewältigen können. Sie sind nicht fähig, zu mentalisieren, soll heißen, sie können sich selbst nicht von außen und den anderen nicht von innen anschauen (Taubner und Kotte 2015). Perspektivenwechsel und Mehrperspektivität können in Folge dieses Defizits nicht gelingen. Es herrscht eine starre, unflexible, zwanghafte Haltung vor. Zwischentöne und komplexe Sachverhalte irritieren und werden abgewehrt. Es fällt schwer, widersprüchliche Bedürfnisse bei sich selbst und bei den anderen wahrzunehmen und gelten zu lassen (Möller und Giernalczyk 2024).
Ambiguitätstoleranz ist für Stangl (2023) „eine für die Identitätsbildung entscheidende Variable, da Identitätsbildung offenbar immer wieder verlangt, konfligierende Identifikationen zu synthetisieren. Ohne sie ist ein Individuum nicht in der Lage, angesichts der in Interaktion notwendigerweise auftretenden Ambiguitäten und unter Berücksichtigung seiner Beteiligung an anderen Interaktionssystemen und einer aufrechtzuerhaltenden biographischen Kontinuität zu handeln.“ Die Entwicklung der Ich-Identität lebt von Konflikten und Ambiguitäten. Werden Handlungsalternativen, Mehrdeutigkeiten, unstrukturierte Situationen und Inkompatibilitäten verdrängt oder geleugnet, fehlt dem Individuum die Möglichkeit, sich angesichts spezifischer Konflikte zu verorten. „Wenn die Ambiguitätstoleranz eines Individuums in einer konkreten Situation nicht ausreichend vorhanden ist oder wenn eine Situation so widersprüchlich ist, dass ein zu hohes Maß an Ambiguitätstoleranz gefordert wird, kommt es zur Abwehr, d. h., entweder verdrängt es alle Widersprüche zwischen den Erwartungen anderer und den eigenen Bedürfnissen, oder das Individuum beharrt auf den eigenen Bedürfnissen, d. h., die Rollenerwartungen werden nicht hinterfragt, sondern deren Bedeutung wird geleugnet“ (ebd.).
Um der Exkommunizierung des Sagbaren vorzubeugen und Ambiguitätstoleranz zu entwickeln, heißt es, den eigenen kognitiven Stil zu hinterfragen und ggf. zu ändern. Mentale Modelle, die von Entweder-Oder-Mustern, von Schwarz-Weiß-Denken oder einer binären Richtig-Falsch-Konstruktion geprägt sind, erweisen sich hier als dysfunktional.
Wie kann Diskrepanzerleben zwischen unterschiedlichen Erwartungen ermöglicht werden, wie lassen sich gegensätzliche Positionen aushalten? Folgen wir Hegel, dann setzt die Anerkennung von Differenzen zunächst die Selbstbejahung voraus. Statt in den Kampf um Selbstbehauptung zu treten, braucht es die Bewegung auf den anderen zu. Rosa (2022) hat diese Haltung mit dem biblischen Begriff des hörenden Herzens beschrieben. Diese kann helfen, sich nicht vorschnell von den Irritationen hin zum Greifen nach vermeintlichen Sicherheiten zu flüchten. Manchmal gilt es auszuhalten, dass es (noch) keine Antwort gibt. Die Zukunft unterliegt nur bedingt unserer Kontrolle.
Eigenbeispiel: Rückblickend auf die Zeit vor der Bereitstellung der Corona-Schutzimpfung schäme ich mich meiner Schimpftiraden impfverweigernden Kolleg:innen gegenüber. Meine Haltung war von Unflexibilität und normativer Härte geprägt. Zwischentöne und der Wechsel der Perspektive waren mir nicht mehr möglich. Meine eigene Angst vor dem Sterben, die Sorge um einen krebskranken Partner haben mich nahezu starr werden und nahezu zwanghaft handeln lassen. Ich hoffe heute, mich zukünftig in der Unterschiedlichkeit anders bewegen zu können.

6 Heiße Themen in der Beratung

Welche Themen führen aktuell zu einer affektiv hoch aufgeladenen Diskussion im Supervisionssetting und fordern mehr Ambiguitätstoleranz denn je? Ich möchte diese heißen Eisen anhand von vier Beispielen skizzieren.
1.
Long Covid und ME/CFS: In interdisziplinären psychosomatischen Teams wird das bio-psycho-soziale System zugrunde gelegt. Die drei Komponenten Seele, Körper und das Soziale wirken in einem Zirkumplexmodell zusammen. Aufruhr entsteht, wenn über psychische Anteile bei Patient:innen gesprochen wird, die an Long Covid oder ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue-Syndrom) leiden. Sie sehen sich als verrückt abgestempelt. Dabei spielt auch bei den Folgen eines Beinbruchs die Psyche eine Rolle. Die Proteste haben zur Folge, dass inzwischen in international renommierten medizinischen Zeitschriften Artikel, die sich mit Long Covid oder ME/CFS beschäftigen, wo das Wort Psyche aufscheint, nicht mehr gedruckt werden. Die Betroffenen sehen sich (oft zurecht) falsch behandelt – aber cancel culture in der Medizinischen Forschung (vgl. Henningsen 2023)?
 
2.
Kulturelle Aneignung: Helen Mirren hat Golda Meir gespielt. Sie sagt öffentlich, nachdem sie angeklagt wurde: „Wie kann man als Nichtjüdin eine Jüdin spielen?“, dass sie sich dafür in aller Form entschuldige und so etwas nie wieder machen würde. Das Schauspiel lebt davon, sich vollkommen fremde Rollen anzueignen. Die Debatten werden hart geführt, wie ich in einigen Beratungen von Schauspielhäusern weiß. Sollen nur Homosexuelle Homosexuelle spielen, nur trans Personen trans Personen, sollen nur Schwarze Texte von Schwarzen übersetzen? Eine schwierige Debatte mit viel Konfliktpotenzial.
 
3.
Ritualisierte sexuelle Gewalt: Studierenden-Kreise thematisieren aktuell die Debatte um ritualisierte sexuelle Gewalt. Sicherlich gibt es scheußlichste Formen sexueller Gewalt. Besonders hitzig aber wird über den Begriff des MindControl gesprochen: „Der Begriff MindControl dient als Überbegriff über alle Formen der Manipulation, Konditionierung und Programmierung der Kinder. Täter streben danach, die totale Kontrolle über das Denken, Fühlen und Verhalten ihrer Opfer zu haben.“ „Tätergruppen in organisierten rituellen Strukturen machen sich das Wissen um die Dissoziative Identitätsstörung zu eigen und benutzen diese gezielt für ihre Zwecke“ (Mission Freedom 2022). Für die Anwendung von MindControl fehlt jedoch jedwede wissenschaftliche Evidenz. Eine Skepsis diesen Programmierungen gegenüber führte z. B. zu der Forderung von Studierenden, einen Lehrbeauftragten nicht mehr zu engagieren. Nachfragen werden nicht geduldet, dabei muss ein kritischer Blick bleiben, gelten doch Sekten und geheime Kulte zunehmend als Suggestionsfaktor in Psychotherapien (Spiegel online, 12.03.2023). Auch über False-Memory darf nicht mehr gesprochen werden, ohne sofort in die Schublade des Opferblamings zu geraten.
 
4.
FLINTA*: In einer Supervision mit der Leiterin eines Frauenbildungszentrums wurde ich mit der FLINTA*-Debatte konfrontiert. Es ging im Team um die Frage, ob das Sternchen aus den Publikationen der Organisation herausgenommen werden soll. „Das Akronym FLINTA* steht für Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen – also für all jene, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität patriarchal diskriminiert werden. Der Begriff FLINTA* wird oftmals verwendet, um deutlich zu machen, wer in bestimmten Räumen und bei bestimmten Veranstaltungen willkommen ist.
 
Aber auch Angehörige verschiedener Feminismusströmungen, z. B. des cis Feminismus oder des trans exkludierenden Feminismus, sogenannte TERFS (Trans-Exclusionary Radical Feminist), stören sich an diesen Räumen. Ein häufiges Argument: FINTA*-Personen würden in Schutzräume für Frauen eindringen und „echten“ Frauen ihre Sichtbarkeit streitig machen. Das biologische Geschlecht und die Geschlechtsidentität sind nach Ansicht dieser Feminist:innen nicht zu trennen.
Gerade trans Personen und männliche gelesene inter, nicht-binäre und agender Personen können deswegen manchmal schwer abschätzen, ob sie bei „FLINTA* Only“-Räumen willkommen sind oder im vermeintlichen Schutzraum mit Ablehnung rechnen müssen. Um FLINTA*-Personen vor der Diskriminierung durch cis Frauen zu schützen, werden seit neuestem auch spezifische Räume und Veranstaltungen nur für diese Gruppen angeboten (Der Tagesspiegel 2023).
Worum ging es in der Bildungsstätte: Ohne Sternchen sind die trans* Menschen exkludiert, also eine TERFS Position. Die Sorge besteht, dass die Schutzräume für Frauen von den FLINTA*-Anhänger:innen gekapert werden. Die Auseinandersetzungen werden in einigen Städten bereits gewaltsam geführt. Die unterschiedlichen Positionen sind unterschiedlichen feministischen Traditionen zuzuordnen. Homosexuelle Männer berichten, dass sie ihre Treffen nicht mehr in queer-Zentren abhalten dürften, da sie dort eine Bedrohung für Frauen darstellten.

7 Fazit

In der Supervision und im Coaching reflektieren wir berufliches Handeln, und dabei darf alles hinterfragt werden! In der Fallsupervision darf ich fragen, woher die Vorliebe für langbeinige blonde Frauen kommt, mit der ein Patient meint ausschließlich Sex haben zu können. Auch diese Fixierung lässt sich als Perversion beschreiben. Ich kann mich selbst befragen, warum ich eigentlich heterosexuell lebe. Es mag die Angst vor dem Stigma-Management sein, die ich befürchte, obwohl ich viele Frauen sehr bezaubernd finde. Wir dürfen uns in der Beratung keinen Maulkorb verpassen. Wir dürfen nicht aufhören, alles potenziell zu hinterfragen und dabei den Dialog aufrechtzuerhalten. Alles, was nicht in den Dialog gelangt, wirkt langfristig destruktiv. Das Exkommunizierte arbeitet weiter als Kriechstrom und ist wirkmächtig. Schädlich wird es, wenn die Kommunikation abreißt. Schlimm wird es, wenn sich unsere Sinnerfassungskapazität verengt und ich das schwer Sagbare nicht mehr wahrnehme.
Ich möchte gerne mit Pat Parker, einer afroamerikanischen Dichterin, schließen, die aufzeigt, um was es gehen muss, und dies ist unendlich schwer: „Vergiss, dass ich schwarz bin. Vergiss nie, dass ich schwarz bin.“ In dieser Spannung müssen wir supervisorisch handeln.
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Literatur
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Metadaten
Titel
Klarifizieren und Konfrontieren – oder besser doch nicht?
verfasst von
Prof. Dr. phil. Heidi Möller
Publikationsdatum
01.03.2024
Verlag
Springer Fachmedien Wiesbaden
Erschienen in
Organisationsberatung, Supervision, Coaching
Print ISSN: 1618-808X
Elektronische ISSN: 1862-2577
DOI
https://doi.org/10.1007/s11613-024-00873-3

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