Selten ist so viel über Europa geschrieben worden wie in den vergangenen Monaten. Die Inkongruenz zwischen wirtschaftlicher und politischer Integration in der EU und die angesichts der globalen Verflechtungen deutlich werdende Begrenztheit des staatlichen und zwischenstaatlichen Steuerungspotentials lassen grundlegende Fragen nach der Zukunft Europas aufkommen: Wie soll es – auch im Blick auf die neuen politischen und wirtschaftlichen Gravitationszentren in der Welt – mit dem »Projekt Europa« weitergehen? Wollen wir mehr Europa oder weniger? Was bedeutet uns Europa, was ist es uns wert?
Diese Fragen werden umso wichtiger, als manche Historiker in den Ereignissen der letzten Jahre nur Epiphänomene massiver Verschiebungen in der Tektonik der Weltgeschichte sehen. Man diskutiert nach der Selbstgewissheit des Rise of the West in den 60er Jahren nun darüber, Why the West rules – for now und diagnostiziert das Ende der Great Divergence, einer jahrhundertelangen politischen, kulturellen und ökonomischen Hegemonie Europas und des Westens über den Rest der Welt.2 Nationalismen erhalten Auftrieb und Weltregionen werden in Frontstellung gebracht: Westen gegen Osten, Asien gegen Europa, Nord gegen Süd. In diesem Klima blühen Appelle an die europäische Identität – trotz aller schon seit langer Zeit vorgebrachten Skepsis, worin diese denn liegen soll, und ungeachtet aller Warnungen vor Reduktionismen, Essentialismen und Identitätsfallen.
Ein wichtiges Element der diskursiven Selbstverständigung ist die Vorstellung einer spezifisch europäischen oder auch westlichen Rechtskultur, Ergebnis einer langen gemeinsamen Geschichte. Die Rechtsgeschichte wird so zu einer Legitimitätsressource im europäischen Orientierungsdiskurs. Die Art, wie wir Europäische Rechtsgeschichte schreiben, ist kein akademisches Glasperlenspiel. Sie formt, natürlich zusammen mit einer Fülle anderer Faktoren, unser Bild von uns selbst – und von der oft gerade als ganz anders begriffenen Welt. History matters. Historiography does, too.3
Wie steht es aber um diese »Europäische Rechtsgeschichte«? Welches Europabild liegt ihr zu Grunde? Auf welchen intellektuellen und konzeptionellen Grundlagen beruht sie? Wie verhält sie sich zum Rest der Welt? Wie antwortet sie auf die Vorwürfe des Eurozentrismus, des epistemischen Kolonialismus, wie auf die Forderung, Europa zu »provinzialisieren«? Wie definieren wir das Verhältnis der Europäischen zur Transnationalen und Globalen Rechtsgeschichte? Braucht auch die Rechtsgeschichte Europas »Alternativen zu einer europäischen Geschichte als Geschichte abendländischer Wertemobilisierung und abgrenzender Identitätsverweigerung«4 – und wie könnten solche Alternativen aussehen? Stimmt es auch für uns, dass »[t]here is no good European history without non-European histories«?5 Müssen auch wir uns vorhalten lassen, dass wir unsere Rechtsgeschichte nach dem Motto schreiben: »Good things are of Europe; bad things merely happen there«?6 |
Diesen und ähnlichen Fragen wenden sich die folgenden Überlegungen zu. Sie sind der Versuch einer Vergewisserung über die Grundlagen, auf denen wir bei unserer Arbeit an einer Europäischen Rechtsgeschichte stehen – und eine Skizze von Ansatzpunkten und Aufgaben einer von dieser Tradition in mancher Hinsicht abweichenden Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive. Sie konzentrieren sich auf die Rechtsgeschichte der Neuzeit und Moderne, können wegen der Vielzahl der anzusprechenden Themen bloß schlaglichtartige Hinweise auf Literatur geben, müssen sicher um viele Perspektiven ergänzt werden – und sind im besten Fall bald durch eine breitere Debatte überholt. Eine solche scheint mir allerdings dringend erforderlich – eine Diskussion über die Art, wie wir heute eine Rechtsgeschichte Europas als Globalregion schreiben können.
Um das Verständnis zu erleichtern, möchte ich bereits am Anfang den Gedankengang skizzieren und einige mir wichtig scheinende Ergebnisse vorausschicken. Der Schwerpunkt liegt auf einer Auseinandersetzung mit der Tradition, ihren konzeptionellen Grundlagen und deren wissenschaftshistorischem Kontext (1. Teil, 1–6); ich versuche hier gewissermaßen Wissenschaftsgeschichte in emanzipatorischer Absicht – nicht aus Lust an der Kritik, sondern um der Freilegung mancher, uns kaum bewusster, jedenfalls in ihrer Tragweite wohl nicht erkannter Pfadabhängigkeiten willen. Aus dieser kritischen Bestandsaufnahme ergeben sich auch die Ausgangspunkte und Aufgaben einer in vielem auf den Leistungen der Disziplin aufbauenden, in mancher Hinsicht aber gerade nicht an die Tradition anknüpfenden Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive (2. Teil, 7–11).
Im ersten Teil versuche ich, auf der Grundlage einer Übersicht über einige Stationen der Disziplingeschichte (1) und wichtige Veränderungen des wissenschaftlichen Umfeldes (2) das Europabild der Europäischen Rechtsgeschichte (3) sowie dessen konzeptionelle Grundlagen zu rekonstruieren. Das geschieht besonders am Werk von Helmut Coing (4), mit einem kurzen Exkurs zu Franz Wieacker (5); der Abschnitt zu Helmut Coing mag etwas überdimensioniert scheinen, doch in ihm soll eine wichtige verschüttete Gabelung des Pfades freigelegt werden, auf dem die Disziplin bis heute weitergeht.
Das Ergebnis der Bestandsaufnahme ist, dass der von Coings Generation geprägte Europabegriff für einen analytischen Zugriff auf eine nationale Grenzen überschreitende Rechtsgeschichte heute ungeeignet ist; deswegen können wir auch nicht einfach die Europäische Rechtsgeschichte in den gewohnten Bahnen weitererzählen. Beide – sein Europabegriff und seine Konzeption der Disziplin – beruhen auf epistemologischen Voraussetzungen, die nicht mehr konsensfähig sind, entstammen einem zeithistorischen Kontext, der nicht mehr der unsere ist, können wichtige Ergebnisse der Forschung der letzten 50 Jahre nicht verarbeiten, führen in Aporien hinein und sind heuristisch nur begrenzt fruchtbar. Wir verdanken der auf dieser Grundlage durchgeführten Forschung viele wichtige Einsichten und nicht zuletzt die Existenz des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte. Trotzdem müssen wir uns auf die Suche nach anderen konzeptionellen Grundlagen machen, insbesondere auch dazu, wie wir die analytischen Bezugsrahmen unserer Forschung bestimmen (6).
Was kann aber an die Stelle der traditionellen Europäischen Rechtsgeschichte treten, an ihre Ergebnisse anknüpfen und diese »transnationale Rechtsgeschichte« fortführen? – Im zweiten Teil (7–11) möchte ich Ausgangspunkte und Aufgaben einer Rechtsgeschichte in globalhistorischer Perspektive benennen, die sich ohne vorherige Festlegung des Raumes ihrer Beobachtung für Prozesse der Herausbildung von Normativität interessiert, deren Bedingungen rekonstruiert und im Vergleich dieser Einzelbeobachtungen flexible analytische Bezugsrahmen bildet. Sie stellt aus meiner Sicht nicht nur einen methodisch kohärenteren Ansatz dar als die »Europäische Rechtsgeschichte«. Sie dürfte uns auch in die Lage versetzen, unsere Forschung zu historischen Translationsprozessen von Normativität methodisch zu schärfen und besser in die lebendigen Debatten um die rechtliche Ordnung einer globalen Welt einzubringen.
Eine solche Rechtsgeschichte bedeutet auch nicht den Abschied von der Beschäftigung mit Europa. Im Gegenteil: Sie wird sich mit großem Ertrag den Regionalisierungsprozessen und Themen zuwenden, die jedenfalls auch Europa betreffen – denn der europäische Raum ist als solcher, aber auch wegen seiner imperialen und kolonialen Ausdehnung über die Grenzen des Kontinents hinweg ein gewaltiger Erfahrungsraum für eine Fülle von historischen Regulierungsphänomenen, die für die Zukunft Europas und zugleich in den Debatten um die Weltgesellschaft immer wichtiger werden dürften. Erst indem sie uns von einer | identifikatorischen und teleologischen Rechtsgeschichtsschreibung weg- und zu einer Rechtsgeschichte der Europäisierung hinführt, eröffnet eine Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive uns einen historischen Zugang zu und damit auch das Verständnis für die gewaltige Konstruktionsleistung, die hinter dem europäischen Projekt steht. Nur durch eine solche globalhistorische Perspektive können wir auch die selbstkritische Reflexivität organisieren, die gerade für eine Rechtsgeschichte Europas als Globalregion besonders nötig ist: Denn eine ihrer größten Herausforderungen liegt darin, Europas über weite Strecken der neueren Geschichte nun einmal zentralen Rolle, seinem im Vergleich zu anderen Globalregionen festgestellten »Sonderweg«, historiographisch gerecht zu werden, ohne dabei in einen epistemischen Eurozentrismus zu verfallen. Die in diesem Zusammenhang oft genannte Vorstellung von einer »Europäisierung der Welt« in der Neuzeit und die Forderung, Europa zu »provinzialisieren«, sind keineswegs unvereinbar. Sie bezeichnen vielmehr ein Spannungsfeld, in dem jede Rechtsgeschichte Europas sich bewegen muss.7
Die einer solchen reflektierten Rechtsgeschichte in globalhistorischer Perspektive zugrundeliegenden Forschungsräume und Bezugsrahmen können – anders als in der Tradition der Europäischen Rechtsgeschichte – allerdings nicht der Ausgangspunkt, sie müssen vielmehr das Ergebnis der Forschung sein. Sie ist damit auch, aber eben nicht allein Rechtsgeschichte Europas. Manche dieser historisch variablen, unscharfen und vielleicht auch ganz unterschiedlich konturierten Geschichtsregionen mögen koextensiv mit einem großen Teil dessen sein, was wir heute Europa nennen. Doch viele Räume, die wir auf diese Weise in die Weltkarte der Rechtsgeschichte einzeichnen, werden viel kleiner sein als Europa, den Raum Europas überlagern, schneiden, kreuzen – oder auch weit über ihn hinausgehen. Manche werden geradezu nur aus einem Netz von Punkten bestehen, nicht ganze Flächen ausfüllen, wie wir es von unseren neuzeitlichen Landkarten und deren Retroprojektion in die Vergangenheit gewohnt sind. Das Bild von Europa dürfte damit erheblich diffuser werden. Positiv gewendet heißt dies: Es wird komplexer, überwindet seinen intellektuellen Isolationismus, öffnet sich für die globalen Kontexte seiner historischen Existenz. Es entsteht so das Bild einer Globalregion, deren Grenzen nie eindeutig waren und deren Identität nicht auf ein paar positive, das jeweilige Selbstbild stützende Merkmale reduziert werden kann.
Die Ausgangspunkte einer solchen Rechtsgeschichte Europas als Globalregion lassen sich dabei sogar noch recht leicht herleiten – viel schwieriger wird die Präzisierung und Umsetzung. Ich möchte in diesem Beitrag vier Ausgangspunkte zur Diskussion stellen. Erstens: Da die Kommunikation in der Neuzeit und Moderne nicht mehr an einen Raum rückgebunden war, kann der Bezugsrahmen einer solchen Rechtsgeschichte nur ein globaler sein (7). Zweitens: Da wir von einem erfahrungswissenschaftlichen Rechtsbegriff ausgehen müssen, der die Rechtserzeugung durch die Akteure in den Mittelpunkt stellt, gilt das Gebot einer Priorisierung des Lokalen (8). Drittens: Für die damit besonders wichtig werdenden Beobachtungen lokaler kultureller Praxen stehen uns inzwischen einige, in den letzten Jahrzehnten von Sozial- und Kulturwissenschaften entwickelte Heuristiken zur Verfügung, auf die wir zugreifen müssen, wenn wir uns nicht unterhalb der wissenschaftlichen Standards unserer Nachbardisziplinen, insbesondere der Kulturwissenschaften, bewegen wollen; mir scheint in diesem Zusammenhang für die Rechtsgeschichte das im Kontext der Cultural Translation diskutierte Methodenset besonders vielversprechend (9). Viertens: Für die Bildung analytischer Bezugsrahmen wird die wichtigste Herausforderung in der Verbindung von Verflechtungsgeschichte und einer dezentralen Typenbildung liegen (10).
Am Schluss (11) wird hoffentlich deutlich geworden sein, daß wir bei vielen Einzelbeobachtungen auf die großen Forschungsleistungen der Dis | ziplin zurückgreifen können – und doch einen grundlegenden Perspektivenwechsel in der Wahrnehmung des Verhältnisses zwischen Europa und dem »Rest« der Welt vollziehen müssen. Eine an Europa interessierte Rechtsgeschichtswissenschaft kann heute nicht mehr eine vom Zentrum Europa ausgehende Diffusions- und Wirkungsgeschichte schreiben und die Welt aus vom europäischen Denken geformten Kategorien zu begreifen versuchen. Sie muss eine dezentrale Rekonstruktion von lokalen Rechtsfindungen und deren Bedingungen leisten. Das mag eine kritische Revision auch mancher Selbstverständlichkeiten nach sich ziehen, mit denen wir unsere eigene Europäische Rechtsgeschichte schreiben – und unter deren Einfluss auch andere Regionen ihre Rechtsgeschichten geschrieben haben; auch werden wir uns für Themen öffnen müssen, die bisher nicht im Mittelpunkt unseres Interesses standen. Doch nur so dürfte der Blick über Europa hinaus uns nicht nur in die Lage versetzen, unseren – natürlich in seiner Bedeutung nicht zu überschätzenden, aber auch nicht gänzlich unwichtigen – Beitrag zur Reflexion über einige der großen Fragen der Gestaltung der Zukunft der normativen Ordnung in einer globalen Welt zu leisten, sondern vielleicht auch unser Bild von uns selbst ein wenig verändern.
1. Teil – Europäische Rechtsgeschichte – Aporien und Archäologie eines Konzepts
Ich beginne mit einem einführenden Blick auf die äußere Disziplingeschichte seit der Nachkriegszeit und setze bei Helmut Coing an.8 Er hätte in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert.9 Vor knapp 50 Jahren, 1964, nahm er den Ruf zum Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte an.10 Es sollte ursprünglich »Institut für vergleichende Rechtsgeschichte« heißen, begegnete als solches aber Bedenken, gab es doch schon universitäre Institute mit diesem Namen. Die Bezeichnung als »Institut für europäische Rechtgeschichte« bot einen Ausweg. Auch Coings Vorstellung kam sie entgegen, und er war Wissenschaftspolitiker genug, um die Vorteile einer solchen Benennung zu sehen. Wie viele seiner Kollegen aus dem Umfeld des Frankfurter Ordoliberalismus war er überzeugter Europäer, es lag nahe, die europäische Integration vom Privatrecht her zu begreifen.11 Coing selbst hatte sich schon früh auf dessen Geschichte konzentriert, vor allem zur Rezeption gearbeitet, hatte aber auch wirtschafts- und bankrechtliche Interessen und stellte seine rechtshistorische Forschung nun dezidiert in einen europäischen Rahmen. In den nächsten Jahren etablierte sich Frankfurt als zentraler Ort der Forschungen zur Europäischen Privatrechtsgeschichte. Es sollte, so hoffte Coing, nur ein Anfang sein – die Arbeit des Instituts »soll später auch auf das öffentliche Recht ausgedehnt werden«, hob er bei einem Festakt zur Einweihung des neuen Institutsgebäudes 1968 hervor.12
Coing konnte an manche Vorläufer anknüpfen: die lebendige italienische Romanistik der 30er Jahre; mediävistische Forschungen wie die Emil Seckels oder Erich Genzmers, der seine Arbeit in den 50er Jahren ebenfalls in einen europäischen Horizont gestellt hatte,13 Paul Koschakers »Europa und das römische Recht« sowie die daran anschließende Diskussion;14 das europäische, letztlich aber unter starkem deutschen Einfluss stehende Projekt des Ius Romanum Medii Aevi, IRMAE.15 Über allem schwebte, natürlich, das Werk Savignys.
Manches, was sich nun, in den 50er und 60er Jahren, als Plädoyer für ein friedliches und einiges Europa las, hatte in den 30er Jahren durchaus andere Färbungen gehabt.16 Auch gab es vereinzelt Kritik am Konzept. In der Gedächtnisschrift für Koschaker hatte der spanische Romanist und Rechtsphilosoph Alvaro D’Ors die germanische | Prägung des Blicks auf Europa kritisiert, ihm war die Ausrichtung auf Europa ohnehin zu eng,17 ging es ihm doch nicht um ein ius europaeum, das ein »detestable separatismo« sei, sondern um ein ius oecumenicum, womit er ein in jedem Sinne katholisches Naturrecht meinte, mit Rom im Zentrum, ein Faden, an dem heute zum Teil unter dem Titel The New Global Law weitergesponnen wird.18
Doch mit der Institutsgründung konsolidierte sich die von der romanistischen und mediävistischen Forschung geprägte Vorstellung der Europäischen Rechtsgeschichte, sie wurde weiterhin aus Deutschland und in nicht geringem Maße aus deutscher Perspektive geschrieben – als Geschichte des ius commune, mit eher geringem Anteil des ius canonicum und deutlicher Ausrichtung auf die Gestaltung eines europäischen Privatrechts. Sie verstand sich nicht allein, aber auch als applikativ, das traf sich mit dem historischen Denkstil der wirtschaftlichen und politischen Akteure, die durchaus Interesse an dieser historischen Dimensionierung ihrer Arbeit hatten – kein geringerer als Walter Hallstein, bis 1967 Präsident der EWG-Kommission und eine der zentralen Gestalten des europäischen Integrationsprozesses, in den Nachkriegsjahren erster Frankfurter Universitätsrektor, wurde | Kuratoriumsvorsitzender des neuen Instituts. Treffend brachte die FAZ den schon damals gezogenen Bogen von der Vergangenheit in die Zukunft in der Überschrift ihres Berichts über den Festakt zur Einweihung des neuen Institutsgebäudes – man traf sich in den Räumen einer angesehenen Privatbank, der späteren BHF-Bank – auf den Punkt: »Ein modernes Recht für Europa schaffen«.19
Auch in anderer Hinsicht ist der Festakt aufschlussreich, zeigt sich an ihm doch recht eindrücklich das Bild, das man sich von der Europäischen Rechtsgeschichte machte. Neben zahlreichen Vertretern aus Deutschland und der Schweiz sowie einem Repräsentanten der Selden Society würdigten François Dumont und Jean Gaudemet aus Paris, Bruno Paradisi aus Rom, John Gilissen aus Brüssel, Robert Feenstra aus Leiden das Projekt.20 Besser als durch diese Redner ließ sich die Vorstellung der Konturen einer europäischen Rechtsgeschichte wohl kaum repräsentieren, schien es doch damals – so Franz Wieacker in seiner gerade in 2. Auflage erschienenen Privatrechtsgeschichte – »kein zu gesuchtes Bild, wenn man sagt, Holland habe die Fackel der großen Rechtswissenschaft unserem Lande weitergereicht, die einst in Italien entzündet wurde und von dort nach Frankreich und weiter nach den Niederlanden gewandert war«.21 In Deutschland hatte die Fackel, so mag man das Bild fortsetzen, im 19. Jahrhundert ihr Ziel gefunden, an die deutschen Universitäten waren Juristen aus der ganzen Welt gepilgert, die Historische Schule, die antikrechtlichen und mediävistischen Forschungen und die Pandektenwissenschaft hatten der deutschen Rechtswissenschaft einen herausragenden Platz gegeben. Mit dem von Coing herausgegebenen Handbuch der Quellen und Literatur der europäischen Privatrechtsgeschichte, seinen vielsprachigen Publikationen zu Programmatik und Grundfragen der europäischen Rechtsgeschichte, nicht zuletzt seiner kompakten zweibändigen Europäische(n) Privatrechtsgeschichte (1985, 1991), schloss man an diese Tradition an.
Die nun von Coing auch international prominent vertretene Europäische Rechtsgeschichte basierte auf der Überzeugung einer grundlegenden Einheitlichkeit – Coing hat dies in zahllosen Beiträgen immer wieder vorgetragen. Die Europäische Rechtsgeschichte sei, so beschrieb er es in dem Festvortrag 1968, die einer »abgeleiteten Rechtskultur«, zutiefst traditionsgebunden;22 »europäisch«, getragen von einem einheitlichen Juristenstand, der über Jahrhunderte für eine Einheitlichkeit der Rechtsfortbildung sorgte;23 und sie sei, jedenfalls in der neueren Zeit, »philosophisch«: »Erst die neuere Zeit macht aus sozialphilosophischen Ideen Verfassungen und rechtliche Institutionen«.24
Seit den 80er und 90er Jahren setzen andere Coings Werk fort.25 Immer mehr Rechtsgebiete sollten nun in europäischer Perspektive erforscht werden.26 In vielen Ländern – Holland, Belgien, Frankreich, Spanien, Italien –, im englischen Sprachraum und bald auch in Osteuropa suchte man sich an gemeinsamen europäischen oder westlichen Rechtstraditionen zu orientieren. Romanisten übernahmen eine wichtige Rolle in diesem Institutionalisierungsprozess. Rechtshistoriker wirkten an Arbeitsgruppen zur Rechtsharmonisierung in Europa mit, Lehrstühle führten diese Bezeichnung, ein Lexikon und Lehrbücher erschienen. Die Dynamik der politischen Integration, die wachsende Bedeutung des Europarechts und die Europäisierung der curricula stimulierten die Suche nach der gemeinsamen europäischen Vergangenheit. Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung sollten, so wurde erneut gefordert, ihre verlorene historische Nähe zurückgewinnen und gemeinsam an der Fortbildung des europäischen Rechts arbeiten.27
Weniger an Dogmen und Institutionen interessiert als im Blick auf den kommunistischen Osten fragten manche – man denke nur an Harold Berman – in den 80er Jahren auch wieder verstärkt nach dem specificum einer europäischen oder westlichen Rechtskultur. Man suchte und fand deren | Grundlagen im Mittelalter, der Zeit der »Grundlegung der europäischen Einheit«.28 Europa blickt, so zeigen es bis heute die großen Panoramabilder von Harold Berman, Manlio Bellomo, Paolo Prodi oder Paolo Grossi, auf eine gemeinsame Geschichte zurück, in der Einheit und Vielfalt, Freiheit und Bindung so organisiert werden konnten, dass ein leistungsfähiges kulturelles System entstanden ist, in dem den Tendenzen zur Entgrenzung jedes Teilbereichs jeweils wirksame Gegentendenzen entgegenwuchsen. Verwissenschaftlichung, Professionalisierung, Säkularisierung, Rationalisierung und Konfessionalisierung waren die Leiterzählungen, zum Teil mit sozialwissenschaftlicher oder modernisierungstheoretischer Terminologie überformt. Strukturelle Unvollständigkeit von Macht, die Koexistenz partikularer und universaler Normschichten, funktionale Differenzierung besonders zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt, nicht zuletzt die Autonomie des Rechts gegenüber Politik und Wirtschaft wurden – und werden bis heute – zum Charakteristikum europäischer Geschichte und Kultur erklärt.29 »Obgleich vollständig in die historische Entwicklung eingebunden und stets durch die sinnlich-materiellen Interessen und Bedürfnisse bestimmt«, so Paolo Grossi in seiner Darstellung Europas als einer Kultur des Rechts, »eroberte sich das Recht […] ein Terrain autonomen Daseins, auf dem die Gesellschaft unabhängig von der Herrschaftsgewalt nach juristischen Lösungen suchte, um ihren Bestand organisatorisch zu sichern.«30
In zeitlicher Hinsicht hatte man sich sukzessive vom Mittelalter ausgehend durch die Jahrhunderte nach vorne gearbeitet. Schon das Projekt IRMAE hatte die Linie weiter gezogen als Savigny, mit Coing wandte man sich dezidiert der Neuzeit zu. Inwieweit das auf diese Weise vom Mittelalter bis in die Kodifikationszeit hinein projizierte Bild einer europäischen Rechtseinheit wirklich trotz aller zentrifugalen Tendenzen der Neuzeit Bestand haben kann, ist bislang eher vermutet als untersucht worden. Man sieht inzwischen – auch hier in einer gewissen Parallele zum politischen Prozess – zunehmend Diversität und Unterschiede, wendet sich Regionalisierungsprozessen wie etwa dem Nordic Law zu,31 vergleicht natürlich immer intensiver mit dem common law, beschäftigt sich mit »Mischrechtsordnungen«.32 Doch Gesamtdarstellungen auch der neuzeitlichen europäischen Rechtsgeschichte, die auf die Fragen nach dem Ausmaß der zentrifugalen Kräfte antworten könnten, gibt es bisher kaum – Antonio Padoa Schioppas bezeichnenderweise als Storia del diritto in Europa (2007) betiteltes Werk ist ein erster Schritt hin zu einer solchen Perspektive. Doch vieles fehlt – auch die von Coing nur angekündigte, von Stolleis entscheidend vorangetriebene, aber natürlich nicht für ganz Europa geschriebene Geschichte des öffentlichen Rechts, eines öffentlichrechtlichen Ius Commune Europas,33 eine über Normtexte hinausgehende Europäische Verfassungsgeschichte, etc. Angesichts der vielen offenen Fragen und weißen Flecken auf der rechtshistorischen Landkarte Europas erscheint die Europäische Rechtsgeschichte tatsächlich »immer noch ein Projekt«.34
Im Blick auf die gegenwärtige »europäische Krise« wird man vielleicht sogar sagen können: Sie ist gerade heute ein besonders wichtiges Projekt. Denn Europa mag angesichts der aktuellen Ereignisse tatsächlich »eine neue Erzählung« brauchen.35 Es befindet sich allerdings schon länger in der Krise. Zeitgeschichtliche Analysen machen deutlich, wie sehr schon in den 70er Jahren,36 vollends dann seit den 90er Jahren mit dem Abschluss des westeuropäischen Nachkriegsprojekts seit den 90er Jahren auch die vertrauten Interessenstrukturen und Erzählkategorien ihre orientierende und handlungsleitende Kraft eingebüßt haben.37 Zu diesem Vakuum kommt eine »imperiale Herausforderung« Europas,38 nach innen durch die Erweiterung der EU, nach außen durch die steigende Bedeutung neuer Globalregionen. Die europäische Verfassungsdiskussion der 90er Jahre – letztlich aber die gesamte Debatte um | Europa – markiert insofern nur die natürlich mit dem Zusammenbruch des Ostblocks verbundene Zuspitzung eines krisenhaften Prozesses des Übergangs aus der Nachkriegszeit »in die unbekannte Zukunft eines unübersichtlichen und pluralisierten, globalisierten und größeren Europas«.39
Da Verfassungspolitik im weiten oder auch technischen Sinn immer auch Identitätspolitik ist40 und weil diese in Europa durch eine europäische Erinnerungspolitik, also den gezielten Rekurs auf Geschichtsbilder und deren symbolisch-diskursive Festigung, bewusst betrieben wird,41 kommt auch der (Rechts)Geschichtsschreibung zu Europa eine nicht gänzlich nebensächliche Bedeutung in diesem Prozess zu. Denn welches Bild wir uns von uns selbst machen möchten, welches Identifikationsangebot wir annehmen wollen, ist zwar eine politische Entscheidung.42 Doch solche Entscheidungen werden in vielen Arenen ausgehandelt. Die Historiographie trägt hier ihre Deutungsangebote bei, natürlich nicht gänzlich willkürlich, sondern innerhalb eines Korridors von Möglichkeiten. So wirken auch wir an der Stabilisierung und Reproduktion dieser Identitätsbildungsprozesse mit – und sollten diesen status unserer Beobachtungen und unsere eigenen Intentionen offenlegen.43
Was wollen wir also für ein Europa, welche Facetten seiner so vielfältigen Rechtsgeschichte wollen wir stark machen? Ein Europa, das rechtskulturelle Errungenschaften mobilisiert und mit seinem Namen verbindet, wie es bisher der Fall zu sein scheint – oder ein reflexives Europa, das neben den vielen rechtskulturellen Leistungen auch seine dunkleren Seiten als Teil einer Rechtsgeschichte anerkennt, im Dialog mit anderen Weltregionen erforscht und vielleicht gerade nach dem Zusammenhang zwischen beidem fragt? Ein geschlossenes, klar vom Rest der Welt unterscheidbares Europa wie in der Nachkriegszeit – oder eines mit einer geradezu »exzentrischen Identität«,44 ein »kosmopolitisches Europa«,45 von dem man hofft, dass es sich »in die Umrisse einer politisch verfassten Weltgesellschaft […] nahtlos einfügen würde«?46 Ein Europa, das sich darum bemüht, Entfaltungsfreiräume zu organisieren, rechtliche Rahmenbedingungen für Diversität zu schaffen, transkulturelle Identitäten und entsprechende Differenzerfahrungen zuzulassen?47 Ein Europa, das seine historische Stellung in der Welt reflektiert, sich der Offenheit seiner Grenzen bewusst ist und sich als Teil einer Welt begreift, die nicht erst seit dem 20. Jahrhundert von Austauschprozessen, Hybridbildungen und einem kontinuierlichen diachronen Translationsprozess geprägt ist? Ein Europa, das nicht in identifikatorischer Weise bestimmte Werte als »europäisch« für sich reklamiert, sondern sich der kontinuierlichen Konstruktion seines Selbstverständnisses bewusst ist und dessen kulturelle Bedingungen verstehen möchte? – Es sind diese, auf ein strukturell offenes, geradezu grenzenloses, sich in einem Prozess der Europäisierung selbst entwerfendes Europa als Raum der Verarbeitung von Differenz zielenden Bilder, die auch in der jüngeren Europahistoriographie stärker werden.48
Das ist natürlich kein Zufall. Diese Verschiebungen unserer historischen Wahrnehmungsraster sind beeinflusst vom politischen Diskurs, werden in diesem als Möglichkeiten der gesellschaftlichen | Selbstverständigung rezipiert49 und verarbeiten unsere Erfahrung einer Welt kultureller Globalisierung mit transkultureller Kommunikation, Verflechtungen und Hybridisierungen.50 So sind auch wir Kinder unserer Zeit. Die Generation Coing lebte und dachte europäisch, wir leben in Zeiten der »Eröffnung des Welthorizonts«.51
Blicken wir nach dieser ersten Skizze der Disziplingeschichte nochmals zurück und ergänzen diese um einiges, was gerade nicht oder nur ganz am Rande zum Teil des disziplinären Selbstverständnisses wurde. Denn parallel zu dem erfolgreichen Institutionalisierungsprozess und den vielen wichtigen Forschungen, die mit ihm einhergingen, lassen sich seit den 80er Jahren einige Entwicklungen beobachten, die die Vorstellung einer grundlegenden Einheitlichkeit der Europäischen Rechtsgeschichte und der ihr zugeschriebenen rein positiven Eigenschaften von unterschiedlichen Seiten her in Frage gestellt, zugleich aber große analytische Chancen für die Rechtsgeschichte hervorgebracht haben.
Heftige Kritik kam bekanntlich zunächst aus der Rechtsgeschichtsschreibung selbst.52 Sie betraf vor allem das Bild der Einheitlichkeit, das gezeichnet wurde. Je mehr man europäisch forschte und verglich, umso offensichtlicher wurden die erheblichen regionalen Unterschiede und die Reduktionismen der gängigen Darstellungen; das war in der allgemeinen Europa-Historiographie nicht anders. Man wies und weist auf die vielen blinden Flecken hin – etwa Osteuropa,53 aber auch auf die »Rechtsordnungen kleinerer Länder«, die meist im Schatten der »vermeintlich wichtigen ›Mutterrechtsordnungen‹« stehen54 – und darauf, dass »alles andere als klar« sei, »wo Europa anfängt und wo es aufhört«.55
Zur gleichen Zeit, zu der sich in der Europäischen Rechtsgeschichte bestimmte Leitbilder und Kanones verfestigten, arbeiteten andere bereits mit einem erheblich weiteren Rechtsbegriff – und kamen dementsprechend zu anderen Aussagen über die Vergangenheit des Rechts. Man entdeckte die vielen alternativen Erzählungen zur europäischen Rechts- als einer Privatrechtsgeschichte, die, auch darin ganz Savigny’scher Tradition folgend, letztlich noch immer eine Geschichte des zum positiven Recht führenden Juristenrechts war. Die dezidierte Zuwendung zur Praxis und die Öffnung für sozialwissenschaftliche Methoden machte das Bild der Vergangenheit noch komplexer. Immer deutlicher wurde, dass man mit der Europäischen Rechtsgeschichte, wie sie praktiziert wurde, zwar einen wichtigen, aber eben nur einen Faden im Knäuel der Rechtsgeschichte verfolgte.56
Die Kritik wurde nur vereinzelt noch am Werk Coings geäußert,57 entlud sich dann mit nicht unerheblicher Polemik an der nächsten Generation, vor allem in der Debatte um Reinhard Zimmermanns ambitioniertes Methodenprogramm.58 Man stritt um die Berechtigung einer applikativen Rechtsgeschichte, ihre vor allem am Kriterium der Einheitlichkeit orientierte Durchführung und die Auswirkung dieser Perspektivierung auf die Geschichtsbilder.59 Eine Folge dieser disziplinären Differenzierungsprozesse60 war die Einstellung des Ius Commune und dessen Ersetzung durch die Rg im Jahr 2001.
Vielleicht trug diese Ausprägung unterschiedlicher rechtshistoriographischer Diskurse dazu bei, dass manche wichtige Debatte keine Auswirkungen auf das Konzept oder die Arbeitsweise der Europäischen Rechtsgeschichte hatte. Ich beschränke mich auf ein paar Fehlanzeigen, die den | Bereich der Neueren Rechtsgeschichte betreffen und zum Teil aus anderen europäischen jushistoriographischen Traditionen stammen, die von einer Europäischen Rechtsgeschichte eigentlich aufgenommen werden müssten.61 Keine wirkliche Resonanz fanden, soweit ich sehe: die Forderungen der Überwindung eines letztlich am 19. Jahrhundert gebildeten etatistisch-legalistischen Paradigmas der Rechtsgeschichte und ihre Folgerungen für die Auswahl der Quellen;62 Zweifel an der Vorstellung, dass die europäische Rechtsgeschichte wirklich in diesem Maße durch die Differenzierung von Recht und Religion gekennzeichnet sei und die damit einhergehende Betonung der Bedeutung anderer, das Recht überlagernder normativer Sphären;63 die Forderungen, die Rechtsgeschichte mindestens bis an die Schwelle der Neuzeit nicht anhand einer Rechtsquellenlehre und -hierarchie, sondern als Jurisdiktionskultur einer zutiefst korporativ verfassten Gesellschaft zu begreifen;64 die damit verbundene Notwendigkeit, die vormoderne Rechtsanwendung konsequent aus der Akteursperspektive und deren Vorstellung von Geltung und damit als Umgang mit einem System relativer Autoritäten zu rekonstruieren, mit der Folge der methodischen Priorisierung der lokalen Bedingungen der Rechtserzeugung;65 der dieselbe Perspektivenumkehr fordernde breite Diskurs über den Zusammenhang zwischen lokalen Herrschaftsprozessen und Staatsbildung;66 die damit einhergehende Bemühung um eine Rechtsgeschichte aus der Perspektive der gerichtlichen Praxis;67 medientheoretisch inspirierte Infragestellungen unserer Sicht auf die Bedeutung von Autor und Text;68 die grundlegende Kritik an den kausalhistorischen Analysen und die Suche nach Zeitbindungsformen durch die Übertragung von evolutionstheoretischen Mustern auf die Rechtsgeschichte.69 Man muss sich diese Ansätze ja keineswegs gleich zu Eigen machen; doch man hätte sich auf die Debatten und die intellektuellen Angebote einlassen können, die mit ihnen verbunden waren.
Ähnliches gilt für die Revision einiger Grundannahmen der Privatrechtsgeschichtsschreibung der 50er und 60er Jahre. Manche »große Erzählung« gerade der Privatrechtsgeschichte ist inzwischen relativiert worden70 – nicht zuletzt in der intensiven Auseinandersetzung mit dem trotz allem noch immer uneingeholten und eindrucksvollen Werk Franz Wieackers. Aber: »Abendländisches Rechtsdenken von 1952 dürfte kaum noch unsere Zukunft sein«, schreibt Joachim Rückert im Blick auf Wieacker, und: »Europa meint heute nicht mehr das sehr geistige von 1952«.71 Hans-Peter Haferkamp pointiert: Die Nachkriegsgeneration habe gelegentlich »gefühlte Geschichte in Wissenschaft« umgesetzt.72 Martin Avenarius hat schließlich jüngst überzeugend auf die Verbundenheit von ontologischer Hermeneutik und der Wieacker’schen Deutung der Rezeption als Verwissenschaftlichung hingewiesen.73 Alles das heißt freilich: So manche Grundlagen nicht nur der Neueren Privatrechtsgeschichte im deutschsprachigen Raum, sondern der auf diesen Fundamenten entworfenen Europäischen Rechtsgeschichte insgesamt geraten ins Wanken.
Nicht nur innerhalb, auch jenseits der Rechtsgeschichtsschreibung veränderte sich das einschlägige wissenschaftliche Umfeld. Gründliche Reflexionen über die Art, wie politische oder kulturelle Gemeinschaften ihre Identität konstruieren, machten deutlich, dass es trotz aller Appelle »den« auf irgendeiner Identitätsvorstellung beruhenden Europabegriff nicht geben kann, weil es eben auch nicht »die« europäische Identität gibt.74 Vor allem in den Kulturwissenschaften wurde die Kontingenz, Hybridität und Instabilität der Identitätsbil | dungsprozesse und deren Funktion zur Produktion von Differenz deutlich gemacht, Historikerinnen und Historiker haben den relationalen Charakter der Selbstwahrnehmung in den europäischen Identitätsdiskursen nachgezeichnet – dass man also Identitätsbildung als Zuschreibungsakt nur im Kontakt mit der Außenwelt versteht, nicht ohne Grenzräume und Fremderfahrungen rekonstruieren kann und mit fragmentierten Prozessen zu rechnen hat.75
Auch aus anderen Gründen geriet die traditionelle Europahistoriographie in die Kritik.76 Während wir mit dem teils heftig ausgetragenen, eigentlich rein deutsch-sprachigen Streit um die applikative Variante der Europäischen Rechtsgeschichte beschäftigt waren, begann eine bis heute andauernde grundlegende Diskussion über die globalen Machtstrukturen und die mit diesen einhergehende ungleiche Verteilung von Interpretationschancen.77 In diesen Debatten aus dem Umfeld der Postmodernen und Postkolonialen Historiographie wurde die Dekonstruktion fast aller großen Erzählungen der europäischen Geschichte gefordert. Materialistische, strukturalistische und andere kulturwissenschaftliche Positionen verbanden sich mit Dependenztheorien, subaltern studies, gender-Diskursen. »Eurozentrismus« war und bleibt bis heute der zentrale Vorwurf.78 Europa müsse »provinzialisiert« werden, es habe die Geschichte der anderen gestohlen, seine eigene Geschichte falsch geschrieben – diese sei nicht die einer einzigartigen Rationalisierung und Ausdifferenzierung, sondern die eines erst offen gewalttätigen, dann vor allem kulturellen Imperialismus, die Geschichte von Millionen Toten, von Doppelmoral, des moralischen Versagens und der Überheblichkeit.79 Selbst die nicht-europäischen Historiographien hätten sich dem europäischen Bild unterworfen, seien nur eine Spiegelung westlicher Geschichtserzählung und hätten die europäischen Kategorien geradezu internalisiert.80
So kam es zu einer breiten Diskussion über das Verhältnis nationaler, regionaler und globaler Historiographie. Aus den area studies, der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Globalisierung und verschiedenen Schulen nicht zuletzt der Weltwirtschaftsgeschichte entwickelte sich eine breite Debatte um analytische Chancen und Grenzen der Global History.81 Die historische Rolle Europas in der Welt wurde zum Problem, man stellte radikale Fragen an das europäische Selbstverständnis, nicht selten im Blick auf einen immer wieder mit Max Weber verbundenen Okzidentalismus.82
Viele Fragen beziehen sich auf unsere Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit und die europäischen oder westlichen Versuche, diese zu universalisieren oder zu monopolisieren.83 Manche Aufrufe zu einer emanzipatorischen De-Europäisierung der Rechtsgeschichte kamen aus der Disziplin selbst.84 Vor allem das Internationale Recht, seine Institutionen und seine Wissenschaft, aber auch die Bemühungen, Rechtsstaat und rule of law in andere Regionen zu exportieren, wurden als Verlängerung des Kolonialismus mit anderen Mitteln kritisiert.85 Das Fehlen der Darker Side of a Pluralist Heritage in der europäischen Selbstvergewisserung wird beklagt,86 das aus Europa geprägte Säkularisierungsdenken als historisch unzutreffend und hegemonial gegenüber solchen Gesellschaften angesehen, die das Verhältnis religiöser, rechtlicher | und anderer normativer Arenen anders definieren. Man wehrt sich gegen die Teleologie der Modernisierungstheorie und die unterschwelligen Implikationen im Blick auf die Geschichte anderer Regionen.87 Aus einem europäischen Verständnis heraus geführte Humanitäts- und Menschenrechtsdiskurse werden als Eingriff in kulturelle Selbstbestimmungsrechte gedeutet,88 manche halten diese sogar für eine Erfindung aus den 1970er Jahren.89 Auch die epistemische und diskursive Differenzierung von Recht und Wirtschaft wird als Machtstrategie angesehen, die letztlich nur dem wirtschaftlichen Imperialismus der sog. entwickelten Welt dienen soll.90
Methodisch öffneten sich mit dieser Debatte neue, zwangsläufig über Europa hinausführende Horizonte. Die »internalistische Geschichtsschreibung« Europas wurde kritisiert, man wies auf die soziale Konstruktion der geographischen Grenzen des Kontinents hin, entwickelte unter der Bezeichnung »Metageographie«91 kritische Reflexionen über die Weise, wie wir die Welt begreifen, Modelle einer Geschichtsschreibung Europas mit permeablen Außengrenzen wurden vorgestellt.92 Unter dem Eindruck der Forderung einer dezentralisierten Geschichtsschreibung wandten sich immer mehr Historikerinnen und Historiker den Verflechtungen der Weltgeschichte zu.93 Interaktionsräume wie der atlantische Raum, Imperien, global cities oder die Oceans of History wurden als Kommunikationszusammenhänge (wieder)entdeckt.94 Reisen von Missionaren, Kaufleuten, Sklaven, Soldaten, aber auch der Transport von Büchern und Artefakten rückten in den Fokus der Aufmerksamkeit.95 Die Bedeutung der Aneignungs- und Resignifikationsprozesse und damit der handelnden Akteure vor Ort – ihre agency – wurde betont, oft im Zusammenhang mit Übersetzungen von Rechtstexten.96 Viele Ergebnisse der oft noch aus einer diffusionistischen und reifizierenden Perspektive betriebenen Kulturtransferforschung, die seit der Belebung der transnationalen Geschichtsschreibung in den 80er Jahren blühte, gingen in diese Versuche einer dezentralen Rekonstruktion der Verflochtenheit Europas in globale Netze ein; je nach Überzeugung, vielleicht auch eigenem Fachgebiet, setzt man diese bereits im Mittelalter, mit der europäischen Expansion oder erst im 19. Jahrhundert an.97 Zunehmend fand auch ethnologische Reflexion über den Umgang mit kulturell Fremden Eingang in die Historischen Geistes- und die Sozialwissenschaften.
Die Europäische Rechtsgeschichte, die aufgrund ihrer Beschäftigung mit dem ius commune schon traditionell »transnational« gearbeitet hat und mit ihren vielen Rezeptionsstudien über erhebliches Anschauungsmaterial verfügt, nahm – vielleicht gerade deswegen – nur wenig von diesen Anregungen auf. Eine Auseinandersetzung mit der Kritik an den Europamodellen der traditionellen Historiographie hat, soweit ich sehe, nicht stattgefunden.
Auch wenn ausdrückliche konzeptionelle Debatten um die Europäische Rechtsgeschichte fehlen, bemühten sich – natürlich auf die eine oder | andere Weise von den eben skizzierten Debatten inspiriert – allerdings immer mehr Arbeiten in den letzten Jahren um eine über Europa hinausgehende Perspektivenbildung. Wir verfügen also bereits über zahlreiche Ansatzpunkte für eine Rechtsgeschichte in globalhistorischer Perspektive.
So werden in der Geschichte des Internationalen Rechts Fragen nach dem Anteil der imperialen Kontexte für die Herausbildung von Wissenschaft und völkerrechtlichen Praktiken gestellt,98 man untersucht Handelsvertragspolitik, Extraterritorialität und in anderen völkerrechtlichen Instituten Spuren von Legal Imperialism oder unterstreicht die Bedeutung von (semi-)peripherical jurists und ihrer europäischen Gesprächspartner bei den Aushandlungsprozessen, mit der Folge eines »particularistic universalism«.99 Jüngst wurde die Integration Chinas in das internationale System des Völkerrechts als Resignifikation und Beispiel lokaler Verankerung mit den entsprechenden Anpassungsprozessen analysiert.100 Es liegt auf der Hand, dass jeder rein europäische Ansatz im Bereich des Internationalen Rechts unsinnig wäre.101 Auch wurde die Bedeutung der nicht-europäischen Dimension für die Geschichte grundlegender staatstheoretischer Konzepte herausgearbeitet, die eigentlich immer noch als Frucht europäischen Geistes gesehen werden.102
Nicht zuletzt im Kontext der Forderungen eines neuen, die indigenen Völker berücksichtigenden lateinamerikanischen Konstitutionalismus103 hat Bartolomé Clavero die traditionelle Verfassungsgeschichtsschreibung massiv wegen ihrer Farben- und Geschlechterblindheit kritisiert.104 Gerade die Verfassungsgeschichte bietet allerdings auch beispielhafte Reflexionen über die Bedeutung der Machtprozesse beim Transfer von Staatsmodellen.105 Vor allem von spanischen, englischen und amerikanischen Autoren ist vermehrt die atlantische Dimension des Konstitutionalismus erforscht worden.106 Auch für die Rechtsgeschichte erschienen Kolonien als Laboratorien der Moderne107 – mit allen Problemen, die das mit sich brachte – und als Raum des kulturellen Imperialismus,108 Kolonialrechtsgeschichte ist seit gut einem Jahrzehnt geradezu en vogue.109
Viele Untersuchungen widmen sich den Austauschprozessen mit osteuropäischen Regionen – wenn man diese nicht ohnehin zu Europa zählen möchte.110 Intensiv ist auch die Forschung zur Öffnung Japans, zunehmend auch Chinas, für westliches Recht.111 Auch mit Blick auf die Geschichte des Kirchenrechts wurden frühneuzeitliche Reproduktionen des kirchlichen Rechts und der Moraltheologie in lateinamerikanischen Kontexten112 und die Rolle der Moraltheologie als normative Ordnung mit universalem Anspruch und globaler Dimension untersucht;113 das Missionsrecht wurde als Innovationsfaktor des Kirchenrechts bezeichnet und nicht-europäische Anteile bei der Arbeit am Codex Iuris Canonici von 1917 unterstrichen.114
Manche rechtshistorische Untersuchungen könnten als Teil der Imperienforschung gesehen werden: Forschungen zum Alten Reich,115 Arbeiten zu den Binnenstrukturen in südeuropäischen imperialen Herrschaftsräumen116 oder vergleichende Analysen der Legal Communication im spanischen und britischen Empire.117 Etabliert, aber jenseits der engeren Forschergemeinschaft kaum beachtet ist auch die Geschichte des sog. Derecho Indiano, also des in den Überseegebieten der spanischen Monarchie angewandten Rechts in seinen europäisch-amerikanischen Dimensionen;118 | noch weniger präsent ist die bis nach Asien reichende Rechtsgeschichte des portugiesischen Imperiums.119
Manche methodische und theoretische Anregungen der globalhistorischen Forschung fanden hier ihr Echo. Es gibt kritische Reflexionen zum Western Legal Imperialism,120 im Zusammenhang mit Studienaufenthalten chinesischer Juristen in den USA und Europa wird auf biculturalism und die Netzwerke der Kommunikation hingewiesen,121 man unterstreicht die Bedeutung der lokalen Umstände für die Reproduktion und Lokalisierung von juristischem Wissen in Lateinamerika oder Asien.122 Die Auswirkungen westlicher Geschichtskonzeptionen auf die Rechtsgeschichtsschreibung etwa Japans werden kritisch abwägend reflektiert.123 Die Diskussion um Modernisierung und »multiple Modernen« wird häufiger in die rechtshistorischen Reflexionen einbezogen.124 Gerade in den letzten Jahren ist auch auf der terminologischen Ebene einiges in Bewegung geraten. Die Globalisierung inspiriert nun rechtshistorische Darstellungen auf sehr unterschiedliche Weise. Globalisation and Western Legal Tradition werden in Verbindung gebracht;125 Ditlev Tamm schreibt seine Rechtsgeschichte in eine Globale Rechtskultur ein, Paolo Grossi zieht Linien von der Rechtsordnung im Mittelalter zur globalisierten Welt, Pia Letto-Vanamo hat den Weg Towards a Global Legal History skizziert.126
Besonders wichtig sind für den vorliegenden Zusammenhang schließlich die Arbeiten, die auf einen Zusammenhang zwischen der imperialen oder kolonialen Dimension der Rechtsgeschichten der Kolonialmächte in Europa und der Formierung eines Diskurses hinweisen, in dem sich Europa trotz aller Differenzen nach innen sowie in der klaren Abgrenzung nach außen als Kontinent der überlegenen Rechtskultur beschreibt, dessen Recht in zivilisierender Absicht über den Erdball verbreitet werden muss.127 Vor diesem Hintergrund lassen sich manche provokativen Fragen an das europäische Selbstverständnis stellen, etwa: Wie verhalten sich rassistische, auf Ungleichheit aufgebaute, Politik und Religion verbindende, auf wirtschaftliche Ausbeutung und Herrschaft gerichtete Rechtsregime der europäischen Mächte in ihren kolonialen Territorien zu unserem Anspruch, der Kontinent von funktionaler Differenzierung der Teilsysteme, der Erfindung von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und der universalen Menschenrechte zu sein?
Ganz unabhängig davon, wie man zu solchen Sichtweisen stehen mag: Wir können sie nicht einfach als modisches, politisch korrektes Gerede zur Seite schieben. In einem nicht unerheblichen Teil der Welt werden solche, auf zentrale Aspekte der Europäischen Rechtsgeschichte zielende Fragen formuliert. Will die Europäische Rechtsgeschichte glaubwürdig sein und im internationalen Gespräch ernst genommen werden, so wird sie in diese Diskussion jedenfalls eintreten müssen. Eine »Weltgesellschaft« bedarf der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, einer »Dialogischen Erinnerung«.128
Stammen die meisten der eben genannten Arbeiten nicht aus dem Bereich der Privatrechtsgeschichte, dem Zentrum der Europäischen Rechtsgeschichte, so hat sich auch diese natürlich schon seit langer Zeit für andere Weltregionen geöffnet. So erscheinen eine Fülle von Untersuchungen zur »Rezeption« oder dem »Transfer« von Recht und Rechtskultur aus Europa nach und in China, Japan, anderen asiatisch-pazifischen Ländern, USA oder Lateinamerika, vereinzelt auch Afrika. Rechtshistoriker finden auf ihren Reisen »viel bedenkenswertes Material zur Analyse und | zum besseren Verständnis diverser Rezeptionsvorgänge […], und zwar auch jener großen Rezeption des gemeinen Rechts in Europa«.129 Einzelstudien zur Übernahme von Institutionen, Gesetzestexten, Dogmatik, wissenschaftlichen Lehren, zu Wissenschaftleraustausch, Reisen, Exil haben wichtige Informationen geliefert, gerade aus dem Bereich des Privatrechts. Auch koloniale Kontexte sind untersucht worden, nicht zuletzt von romanistisch geprägter und besonders am Privatrecht interessierter Seite; man hat sich in diesem Zuge auch den sog. Mischrechtsordnungen zugewandt.130 Vereinzelt werden auch kritische Überlegungen zur Übertragbarkeit unserer Vorstellungen auf fremde Rechtsordnungen angestellt131 oder sogar ins Religiöse gehende Motivationen des juristischen »Missionsgeschäfts« herausgearbeitet.132 Gerade im Umfeld des Jubiläums des französischen Code civil ist eine Flut von Publikationen erschienen, zum Teil reine Normenexportstudien, zum Teil aber auch differenzierte Überlegungen zur Modellfunktion des Code civil und dessen Schicksal in der Globalisierung.133
Reflexionen über die Konzeption oder die Grenzen Europas hat auch dies aber, soweit ich sehe, nicht ausgelöst. Solange man die Verflechtungen als »Wirkungsgeschichte« in den Rahmen der Europäischen Rechtsgeschichte einpasst, bereiten sie keine konzeptionellen Probleme. Unterschiede nach innen werden durch Binnendifferenzierungen aufgefangen, die letztlich das Einheitsdenken nach außen stabilisieren – man spricht dann, wie schon Coing, von einem »Kern« und »Randgebieten« (England, Schottland, Skandinavien, Osteuropa);134 der Rest ist nicht einmal mehr Rand. Was »Wirkung« eigentlich bedeuten soll – und welche Vorstellung über die Funktionsweise von Austauschprozessen dahinter steht –, bleibt meist offen. So kann man auch heute noch lesen, das römische Recht sei ein »Weltrecht«, ein Recht, das nicht zufällig »die Welt erobert« habe.135 Das ist kaum anders als das, was Koschaker schon 50 Jahre vorher schrieb, als er das römische Recht als Exponent der europäischen Kultur bezeichnete, »ein Mittler unter den großen europäischen Privatrechtssystemen […] die sich schließlich über den ganzen Erdball verbreitet haben«.136
So blieb auch die von der Kulturtransferforschung initiierte Suche nach einer fruchtbaren Heuristik zur Rekonstruktion der überwiegend sprachlich vermittelten Austauschprozesse ohne größeren forschungspraktischen Widerhall in Bezug auf die Konzeption der »Europäischen Rechtsgeschichte«; das gleiche gilt für die intensive Debatte über Legal Transfer und Transplants.137 Auch die mit der Diskussion um Transnationale Geschichte und Globalgeschichte einhergehende intensive Reflexion über die Bedeutung der räumlichen Dimension für die historische Forschung138 ist kaum rezipiert worden – einer der vielen turns der letzten Jahrzehnte, die vielleicht auch wegen der Relevanzrhetorik, mit der sie zum Teil vorgebracht werden, bei manchen Beobachtern mehr Skepsis als Interesse ausgelöst haben dürften. Doch auch hier sollte gelten: abusus non tollit usum. Denn die Frage nach der Art, wie die Europäische Rechtsgeschichte ihren Forschungsraum definiert, ist nun einmal von grundlegender Bedeutung. Wenn von der historischen Forschung Europa zunehmend als ein strukturell offener Raum bezeichnet wird, der bereits im Mittelalter beständig externe Einflüsse verarbeitete und dessen Gebiet in Grenz- und Kontaktzonen förmlich ausfranste,139 so müsste das unsere auf einem Einheitsdenken aufgebaute Disziplin eigentlich beunruhigen: Denn wenn man dieses »Ausfransen« für die Neuzeit und die europäische Expansion weiterdenkt, verschieben sich die Grenzen Europas weit über die Ozeane; ich komme darauf noch zurück. |
Noch in einer weiteren Hinsicht hat sich das wissenschaftliche Umfeld der Rechtsgeschichte in den letzten drei Jahrzehnten schließlich massiv verändert. War die Europäische Rechtsgeschichte Kind einer Zeit, in der die Rechtswissenschaft sich mit der Überwindung nationalstaatlicher Grenzen durch die europäische Integration beschäftigte – ein Problem, das offensichtlich fortbesteht –, so ist inzwischen das Bewusstsein dafür gewachsen, dass eine der zentralen Herausforderungen der Rechts- und Sozialwissenschaften eben nicht mehr allein in der europäischen Integration liegt, sondern in der rechtlichen Ordnung einer globalen Welt.140
Das zeigt sich schon beim Blick vor die eigene Tür. Wird in den ehemaligen Kolonialnationen wie England, Frankreich oder Belgien bereits länger und intensiv über die rechtliche Dimension der kulturellen Diversität gestritten, die mit der Migration von Süden nach Norden verbunden ist,141 zeigen auch bei uns Kopftuch-, Schulgebet-, Beschneidungsurteile oder die Diskussion um die Anwendung der Scharia, was als »reverse colonisation« bezeichnet worden ist:142 dass wir vor der Tatsache eines Nebeneinander von normativen Sphären unterschiedlicher kultureller Verankerung innerhalb des staatlichen Systems stehen, Formen von »Recht ohne Staat«.143 Die manchen so theoretisch scheinende Debatte über Rechtspluralismus144 ist also von uns unmittelbar betreffender Aktualität. Die Gestaltung von Steuerungs- und Entscheidungssystemen, die auf diese kulturelle Diversität und die mit ihr verbundenen »ethnic implants« angemessen reagieren können, wird nur vor dem Hintergrund eines vertieften – und damit auch historisch gegründeten – Verständnisses der jeweiligen kulturellen Bedingtheiten des Normativitätsverständnisses der Akteure gelingen.145
Zugleich rücken Probleme der Gestaltung der normativen Steuerungs- und Entscheidungssysteme einer Weltgesellschaft in den Fokus der rechtswissenschaftlichen Forschung.146 Grundlegende Fragen nach dem Rechtsbegriff müssen nun in interkultureller Perspektive diskutiert werden.147 In Debatten um Global governance und Governance in Räumen schwacher Staatlichkeit wird historische Expertise verarbeitet.148 Von führenden Theoretikern der Globalisierung wie Saskia Sassen wird die historische Perspektive geradezu als Schlüssel zum Verständnis der Globalisierungsprozesse verstanden.149 Unabhängig davon, wie man sich die Strukturen der Weltgesellschaft vorstellt, bedarf es für die Integration der verschiedenen Ebenen jedenfalls einer Reflexion über die jeweiligen Pfadabhängigkeiten und Vorverständnisse der Beteiligten, die nur historisch zu leisten ist.150 Auch die Überlegungen über eine Isomorphie sozialer Ordnungen durch lokale Imitationen globaler Modelle – und deren Folgen für die Vorstellung einer »Weltgesellschaft« – bauen jedenfalls zum Teil auf rechtshistorischen Diagnosen auf.151
Ähnliches gilt für die mit der Herausbildung globaler normativer Strukturen verbundenen legitimationstheoretischen Probleme. So wird beispielsweise diskutiert, ob und wie globale Demokratie funktionieren kann,152 wie eine interkulturelle Idea of Justice aussehen könnte,153 ob und wie zwischen westlicher rule of law und der chinesischen Vorstellung von »Harmonie« vermittelt werden kann,154 ob es so etwas wie eine »rechtliche Metasprache« gibt, in der wir auch jenseits kultureller Grenzen über Normativität kommunizieren können.155 Meist beruhen diese Erörterungen auf Geschichtsbildern, manchmal unterstellt man bei der Suche nach einer solchen rechtlichen Meta | sprache oder anderen Modellen globaler Gerechtigkeit weltweite Verflechtungs- und Austauschprozesse. »Law and legal scholarship« erscheinen deswegen, so der finnische Rechtstheoretiker Kaarlo Tuori, als »thoroughly historical enterprises«.156 Selbst wenn nicht von einem historischen Prozess der »sedimentation« gesprochen,157 sondern eher prospektiv nach dem »trickle-down effect of international norms into domestic legal orders« gefragt wird,158 wird mit Amalgamierung von Normativität argumentiert – es werden also Aussagen über die Entwicklung von Recht in der Zeit getätigt. Ob und wie sich diese Verflechtungsprozesse dann wiederum in klassifikatorischer Weise umsetzen lassen, sind Fragen, an denen nicht zuletzt die Rechtsvergleichung interessiert sein muss – die sie mit ihrem traditionellen analytischen Instrumentarium aber wohl kaum lösen wird.159 Die Rechtsgeschichtsschreibung hat hier die Chance, ihre Expertise zu solchem diachronen und inter- bzw. transkulturellem Translationsgeschehen zu mobilisieren, zu schärfen und in diese Diskurse einzubringen.
Blicken wir auf diese Umfeldveränderungen, so dürfte deutlich geworden sein, dass wir – vielleicht dringender denn je – eine methodisch reflektierte Rechtsgeschichte Europas brauchen, dass diese sich als Teil der traditionellen Europahistoriographie allerdings zugleich manchen Infragestellungen ausgesetzt sieht. Gleichzeitig öffnen sich mit der wissenschaftlichen Reflexion über die Herausbildung globaler normativer Ordnungen ganz neue Felder rechtshistorischer Grundlagenforschung. Die Rechtsgeschichte Europas, dieses gewaltigen Erfahrungsraums der Organisation von Vielfalt, in und jenseits des Kontinents, kann zu vielen in diesem Kontext erörterten Problemen erhebliches Reflexionspotential bereitstellen. Auch die Globalgeschichte könnte davon profitieren, wenn die in ihr bisher kaum präsente rechtliche Dimension der »Mundialisierung«, der »Geburt der modernen Welt«, der »Verwandlung der Welt« erschlossen würde – bleibt doch bisher mit dem Recht eine wesentliche Sinndimension von Gesellschaften und eine für die imperiale und koloniale Expansion geradezu elementare politische Handlungsform außer Betracht.160
Sind wir auf diese Herausforderungen aber vorbereitet, wenn wir weiterhin an einer Erkenntnismechanik festhalten, die das »europäische« Recht als eine Einheit ansieht – und den Rest der Welt als bloßen Diffusionsraum? Nimmt man auch nur einen Teil der vorgebrachten Kritik ernst, wird man sagen müssen: wohl kaum. Es bedarf deswegen einer kritischen Rückfrage, welcher Europabegriff unserer Disziplin eigentlich zu Grunde liegt. Vor allem: Was rechtfertigt unsere durch die Jahrhunderte gezogene einheitliche Konzeptualisierung der auf dem Kontinent mit seinen unscharfen Grenzen liegenden variablen historischen Räume – und wieso grenzen wir diesen unscharfen Raum »Europa« dann kategorisch von jenseits des Kontinents liegenden Räumen ab? Warum ist für uns die »Rezeption« ein für die europäische Rechtsgeschichte geradezu konstitutiver kulturhistorischer Vorgang – und warum sind vergleichbare Phänomene jenseits Europas nur eine »Rezeption europäischen Rechts«, eine Sichtweise, die letztlich die Trennungssemantik fortschreibt und vielleicht sogar kontrafaktisch verfestigt? Kurz: Was macht denn die Einheit Europas und seine Abgeschlossenheit gegenüber dem Rest der Welt aus? |
Diese Fragen führen zum Europabegriff. Ganze Bibliotheken sind über ihn geschrieben worden. Sucht man aber in der neueren rechtshistorischen Literatur nach Antworten auf die elementare Frage nach dem Europabegriff der Europäischen Rechtsgeschichte, so ist die Bilanz eher ernüchternd.161 Europa wird als Raum einfach vorausgesetzt, nicht-Europa kommt in der Regel nicht vor. Meist unausgesprochen, oft unter Berufung auf eine Geburt Europas im Mittelalter, manchmal in Bezug auf die heutige politische Gestalt der EU, nur selten so offen wie beim lakonischen Uwe Wesel, der in seiner betont vorsichtig betitelten »Geschichte des Rechts in Europa« den Raum nur näherungsweise umreißt und sich dann auf die Regionen konzentriert, die ihm intellektuell zugänglich sind.162 An anderer Stelle spricht er selbst im Blick auf die Binnendifferenzierungen von der »Schachtel«, in der globalhistorischen Forschung wird so etwas das »Container-Modell« genannt – Europa ist ein geschlossener Raum, in den alles hineingepackt wird.163 Es fehlt natürlich nicht an Hinweisen auf die Unbestimmtheit, die flexiblen Grenzen, auch nicht an Distanz zu essentialistischen Betrachtungen; vergleichend-differenzierende Perspektiven findet man etwa bei Heinz Mohnhaupt, Antonio Padoa Schioppa, Michael Stolleis, um nur einige zu nennen.164 Aber eben auch bei ihnen keine konzeptionellen Rückfragen. Eher selten stößt man noch auf den identifikatorischen Appell an eine irgendwie material definierte Vorstellung von Europa – Europa sei, so Hans Hattenhauer, »kein geographischer, sondern ein geschichtlich gewordener Begriff«.165
Der Sache nach wird von den meisten Rechtshistorikern auch keine »Europäische« Rechtsgeschichte geschrieben, sondern eine Rechtsgeschichte in einem Raum Europa; Europa ist, wie in weiten Teilen der Europahistoriographie, Raum historischen Geschehens. Irgendwann nach den ersten Kapiteln zu Antike und Mittelalter, in denen wir ohnehin nur Inseln auf dem Kontinent und seinen gegenüber heute ganz andersartigen Grenzen beschreiben können, wird der Blick national verengt. Doch die Versuchung, die Ergebnisse als »europäisch« zu deklarieren, ist latent. Viele Texte evozieren den Eindruck, dass es jenseits Europas anders wäre. Doch echte Besonderheiten kann eine auf Europa beschränkte Rechtsgeschichte gar nicht behaupten. Es ist vielleicht banal, aber nicht überflüssig zu unterstreichen, dass wir schon wegen der Frage nach den Besonderheiten Europas eine Öffnung unserer Europäischen Rechtsgeschichte hin zu Regionen jenseits von Europa brauchen – eine Öffnung, die freilich nicht allein in der Suche nach abgrenzender Selbstbestätigung bestehen kann.
Gibt es aber jenseits der diffusen Anrufung eines europäischen Geistes, einer aus der Gegenwart und ihren politischen Projekten entnommenen Grenzziehung oder einer pragmatischen Beschränkung auf einen bestimmten Ausschnitt aus den Ländern auf dem Kontinent – also einer nicht wirklich »europäischen« Rechtsgeschichte – keine andere Definition dessen, was das Europa der Rechtsgeschichte ausmacht?
Sehr oft finden wir den Topos von »Einheit und Vielfalt« als Charakteristikum der europäischen Rechtsgeschichte.166 »Das ius commune bildet insofern kein Bild der Uniformität, sondern großer Vielfalt, im Rahmen allerdings einer übergreifenden intellektuellen Einheit«, heißt es bei Reinhard Zimmermann, ähnlich formulieren auch so unterschiedliche Autoren wie Heinz Mohnhaupt oder Uwe Wesel.167 Die europäischen Privatrechtsordnungen könnten, so Zimmermann weiter, als »Mischrechtssysteme« bezeichnet werden, »reine« Formen des ius commune gebe es ohnehin nicht; die Einheit dieser Vielfalt werde gewährleistet »vor | allem durch eine an denselben Quellen orientierte wissenschaftliche Ausbildung, die eine rationale und grenzüberschreitende Diskussion erlaubte und die verschiedenen Ausprägungen des ius commune als Varianten ein und desselben Themas erscheinen lässt«.168 Das ist alles sicher richtig – genauso wie die Überlegung, dass wir bestimmte Prozesse der Konvergenz und die Durchsetzung mancher Prinzipien feststellen können, die man in immer mehr Rechtsordnungen Europas vorfindet, etwa im Bereich eines Ius Publicum Europaeum.169
Doch das Problem liegt auch bei diesen Beschreibungen einiger Merkmale der Rechtsgeschichte in Europa darin, dass keine das leistet, was man von einer Definition verlangen muss: nämlich nicht nur anzugeben, was zu der analytischen Einheit gehört, sondern auch, was gerade nicht dazu gehört. Allein die identifikatorischen, letztlich metaphysischen Annahmen eines irgendwie an einen Raum gebundenen europäischen Geistes leisten dies – sie können aber wohl kaum unsere Antwort auf die Frage nach Inhalt und Grenzen der »Europäischen Rechtsgeschichte« sein.
Nun könnte man sagen, dass man es mit dem Begriff nicht so eng sehen dürfe; jeder wisse ja letztlich, was mit Europa gemeint sei. Doch ein Blick auf Lateinamerika, eine hybrid region par excellence, aus der eine Fülle von Beiträgen zur postkolonialen Historiographie stammt und in der man sich lange schon Gedanken über das Verhältnis zu Europa macht,170 mag illustrieren, in welche konzeptionellen Probleme uns dieser lässige Umgang mit dem Terminus »europäisch« bringt – oder besser: welche konzeptionellen Probleme er verbirgt.171
Denn wohl alle üblicherweise für die Europäische Rechtsgeschichte angeführten Charakteristika treffen vom Moment der Etablierung der Herrschaft der spanischen und portugiesischen Krone auch auf die Rechtsgeschichten in Lateinamerika zu. Es gab jedenfalls in Hispanoamerika bald Seminare und Universitäten, überdies viele in den europäischen Teilen der spanischen Monarchie ausgebildete Juristen und Kanonisten, eine »an denselben Quellen orientierte wissenschaftliche Ausbildung«, eine »grenzüberschreitende Diskussion« und Ausprägungen des ius commune als »Varianten ein und desselben Themas«.172 Man besaß aus Europa kommende – und auch schon bald vor Ort gedruckte – Bücher, man baute die politischen Institutionen nach kastilischem und anderen Vorbildern, man schrieb, teilweise auf Latein, Traktate, zitierte ius canonicum und ius civile, Partikularrecht – Einheit und Vielfalt finden wir also auch dort.173 Natürlich gab es angesichts der indigenen Völker eine besonders bunte Vielfalt, vor allem auf lokaler Ebene, und weite Regionen, in die das gelehrte Recht lange Zeit überhaupt nicht vorgedrungen ist. Es gab wenige Zentren und weite Peripherien. Aber gab es alles dies im frühneuzeitlichen und neuzeitlichen Europa nicht auch? Sind die Unterschiede hier kategorisch oder graduell – und sind sie wirklich konsequent zwischen den Kontinenten verteilt?
Blicken wir auf die »gelehrte Tradition«. Bei vielen, gerade den am stärksten verbreiteten Werken und Autoren lässt sich keine Zuordnung nach Kontinenten treffen. So finden wir Bücher wie die Tomás de Mercados, Juan de Zapata y Sandovals, Juan de Solórzano Pereiras, Pedro Murillo Velardes, um nur ein paar der wichtigsten Autoren aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert zu nennen, die sich genau unter die Beschreibungen der europäischen Tradition fassen ließen – und doch sind sie nicht einfach »europäische« Literatur oder »lateinamerikanisch«. Die Autoren waren entweder in der Neuen Welt geboren oder hatten dort viele Jahre gelebt, ihre Gedanken und Bücher lassen sich nicht mehr einem Kontinent zuordnen: Tomás de Mercado kam als Kind nach Mexiko, studierte dort und später nochmals in Salamanca, schrieb auf Bitten | der Kaufleute von Sevilla ein Vertragshandbuch, das aus seiner Erfahrung in Neu-Spanien stammte, und kehrte später wieder nach Amerika zurück;174 Juan de Zapata y Sandoval, in Mexiko geboren, später einige Jahre in Spanien, bevor er als Bischof nach Amerika zurückkehrte, verfasste einen lateinischen Traktat, 1609 in Valladolid gedruckt, orientiert an der iustitia distributiva, um beim Präsidenten des Indienrates für die Privilegierung der Kreolen bei der Besetzung von Ämtern zu werben;175 Juan de Solórzano Pereiras grundlegende Arbeiten De Indiarum Iure, Política Indiana oder auch sein Alterswerk, die Emblemata, dürften geradezu ein klassisches Beispiel »europäischer« juristischer Kultur sein, sind aber auf die Neue Welt bezogen und speisen sich aus der Erfahrung seiner Jahre in Peru;176 Pedro Murillo Velarde, 1696 in Spanien geboren, studierte in Salamanca, lebte von 1723 bis 1749 auf den Philippinen, wo er seinen Cursus juris Canonici hispani et indici schrieb, den man dreimal in Madrid auflegte (1743, 1763, 1791), ein Standardwerk – nicht wenige Leser dürften sich unter den indi, von denen er schreibt, die Angehörigen der indigenen Völker Amerikas vorstellen, nicht die der Philippinen, die Murillo Velarde vor Augen hatte.177
Mit ihren zwischen den Kontinenten verlaufenden Biographien waren auch die Wahrnehmungs- und Handlungshorizonte, die mental maps, vieler Juristen, Kanonisten und Moraltheologen geprägt von Erfahrungen an verschiedenen Orten der spanischen Monarchie. Trotz aller Unterschiede zwischen den verschiedenen Teilen des polyzentrischen Reiches diente ihnen dieses als ein intellektueller Bezugsrahmen, der von Asien über Europa bis Amerika reichte – mit Mexiko als einem aus der Sicht mancher sogar zentralen Ort, über den zu Beginn ein wichtiger Teil der Chinamission erfolgte.178 Wenn zum Beispiel der Dominikanermönch Domingo de Salazar,179 der nach dem Studium in Salamanca viele Jahre in Mexiko verbracht hatte, bevor er während eines Aufenthaltes in Madrid 1579 zum Bischof von Manila ernannt wurde, im Jahr 1584 von den Philippinen ein Memorial an das Provinzialkonzil von Mexiko richtete, so verglich er darin ganz unwillkürlich seine Erfahrungen aus den drei Kontinenten und argumentierte mit Gewohnheiten in den verschiedenen Teilen der polyzentrischen Monarchie;180 wenn er in Manila eine Synode abhielt, so stützte er sich dabei auf die Vorlagen, die er aus Spanien mitgebracht hatte – und auf seine mexikanischen Erfahrungen und Materialien. Nicht anders ging es den Konzilsvätern in Mexiko selbst, an die er sich richtete, gehörte seine Diözese doch zur Kirchenprovinz Mexiko. Ein großer Teil von ihnen hatte ebenfalls in Salamanca studiert, auch sie dachten sich die später in Rom korrigierten und approbierten Konstitutionen des Dritten Provinzialkonzils von Mexiko aus dem Jahr 1585 natürlich nicht aus, sondern zogen Texte aus verschiedenen Teilen Europas zu Rate, in nicht geringem Maße aber auch die wenige Jahre vorher gefassten Beschlüsse des Dritten Peruanischen Provinzialkonzils.181 Über Monate traf man sich, stritt, verhandelte über Eingaben, gab Gutachten in Auftrag, suchte nach den besten Lösungen für die spezifischen Probleme vor Ort.182 Diesen kreativen, vor allem die lokalen Bedingungen berücksichtigenden Aushandlungsprozess schlicht als »Rezeption« europäischen Rechts zu bezeichnen, sieht nur auf das Äußere des Wortlautes einiger Konstitutionen, verkennt aber die Komplexität der dahinterliegenden Normbildungsprozesse. Was hier entstand, war weder eine »lateinamerikanische« creatio ex nihilo noch eine Rezeption »europäischen« Rechts. Es war Rechtsfindung vor Ort, im Horizont eines normativen Angebots von relativer Autorität und unter ganz spezifischen institutionellen und kulturellen Bedingungen – nicht kategorisch anders als an vielen Orten in Europa.
Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen, und sie enden nicht mit dem spanischen Imperium. Im Gegenteil: In dem Maße, in dem sich im 19. Jahrhundert das weltweite Austauschgeschehen intensivierte, beschleunigten sich auch die juristi | schen Austauschprozesse. Die Instituciones de derecho real de Castilla y de Indias des José María Álvarez mögen als letztes Beispiel dienen.183 Ursprünglich ein eng an den postum herausgegebenen Recitationes in elementa iuris civilis secundum ordinem institutionum des Johann Gottlieb Heineccius orientiertes Institutionenlehrbuch eines guatemaltekischen Juristen, erschienen 1818 in Guatemala, wurden die Instituciones in den nächsten Jahren an unterschiedlichen Orten gedruckt, »nuevamente revista, corregida y aumentada« 1826 in Mexiko, 1826 auch in Philadelphia, 1827 in New York, 1829 in Madrid; es folgten eine Reihe weiterer Auflagen. 1834 gab auch der spätere Autor des argentinischen Código Civil, Dalmacio Vélez Sarsfield, eine in Buenos Aires gedruckte Ausgabe heraus – wiederum »Adicionadas con varios apéndices, párrafos, &c.« Er habe, so schildert er im Vorwort, nur die spanische Edition zur Verfügung gehabt, aus der alle von Álvarez eingefügten Anmerkungen über die legislación de Indias entfernt worden waren. Deswegen habe er Anmerkungen eingefügt, das Buch korrigiert, manche Normen zitiert, die der Autor vergessen habe, und manches hinzugefügt, auch eigene Anmerkungen, neue Themen und Apendices; daher findet man z.B. nach den Ausführungen zum Personenrecht einen Anhang zur rechtlichen Lage der Sklaven nach der Unabhängigkeit im Gebiet des Río de la Plata.184 Überall gaben sich die jungen Republiken nun Studienpläne, man schrieb und druckte vor allem für den Lehrbetrieb Bücher, vermischte Übersetzungen oder orientierte sich zum Teil auch wieder direkt an anderen Vorlagen, so wie Andrés Bello, der spätere Kodifikator des chilenischen Zivilgesetzbuchs, für sein Institutionenlehrbuch; es baute auf einer – wie es heißt: eigenen – Übersetzung von Heineccius’ Elementa iuris naturae et gentium auf, in die er aber Teile von Werken von Vinnius und anderen Autoren eingearbeitet hatte.185 Was haben wir vor uns: Rezipiertes europäisches Recht? Lateinamerikanisches? Oder gar Römisches Recht, das die Welt erobert?
Diese Schlaglichter machen vielleicht deutlich: Spätestens die europäische Expansion in der Neuzeit bringt die Vorstellung einer an einen Raum »Europa« gebundenen Rechtskultur in grundlegende Probleme. In der spanischen Monarchie | gab es Orte wie Mexiko, Manila, Madrid, die auf unterschiedlichen Kontinenten lagen – und dennoch einander rechtshistorisch näher gewesen sein dürften als etwa Madrid und Merseburg. Jedenfalls die Juristen und Kanonisten, letztlich aber die gesamte koloniale Elite, verband die Zugehörigkeit zu einem Imperium mit seinen vielfältigen institutionellen und kulturellen Bindungen, die auch nach dem Ende der Kolonialzeit nicht plötzlich abbrachen.
Wegen dieser imperialen Vergangenheit mag man Lateinamerika natürlich als einen besonderen Fall ansehen. Aber Geschichte ist eine Summe von besonderen Fällen, und schon ein Blick auf die linguistische Weltkarte macht deutlich, wie sehr der Globus nach dem Ende der frühneuzeitlichen Imperien und der Dekolonisierung Spuren des europäischen Imperialismus trägt, der nicht allein Sprach-, sondern auch Rechtsräume geprägt haben dürfte. Die Prozesse einer selektiven Aneignung des normativen Angebots, die wir in diesen imperialen Kontexten oder auch später beobachten können, sind keineswegs ein Einzelfall – sie haben in Lateinamerika wohl nur eine längere Tradition als etwa in Asien; vielleicht sind sie auch gar nicht so anders als innerhalb Europas selbst.
Wollen wir trotzdem eine ganze Globalregion wie Lateinamerika einfach zum Teil der europäischen (Privat)Rechtsgeschichte erklären – so, wie es vor einigen Jahren Eugen Bucher im Titel eines Beitrags in der ZEuP tat: »Zu Europa gehört auch Lateinamerika!«?186 Das kann kaum ernsthaft eine Antwort sein – schon gar nicht angesichts einer Welt, in der Hybridbildungen, Translationsprozesse, Amalgamierungen, Mestizierungen, Resignifikationsprozesse in immer höherer Geschwindigkeit ablaufen und unsere Reflexion herausfordern.187
Die Europäische Rechtsgeschichte steht heute mutatis mutandis vor dem Phänomen der von Wolfgang Reinhard festgestellten »dialektischen Selbstaufhebung der europäischen Expansion im Zuge ihrer Interaktion mit den übrigen Völkern der Erde«.188 Anstatt auf diesen Prozess mit einer grenzenlosen Ausweitung unserer herkömmlichen, Recht letztlich doch mit Räumen identifizierenden Kategorien zu reagieren, sollten wir die Chance begreifen, auf die uns das klassifikatorische Problem aufmerksam macht – und nach neuen Konzepten suchen, die uns normative Austauschprozesse besser verstehen lassen.
Doch bevor wir nach neuen Konzepten suchen, möchte ich nochmals einen Schritt zurückgehen und fragen, ob und warum man die eben aufgezeigten Aporien bisher nicht gesehen hat: Warum hat die Disziplin Europa bis heute weitgehend unhinterfragt als geschlossene Einheit konzipiert und die gerade in der neuzeitlichen Geschichte so wichtigen nicht-europäischen Kontexte ausgeblendet? Warum hat man sich mit der konzeptionellen Unschärfe zufrieden gegeben? Warum hat man in dieser Unschärfe kein Problem gesehen? – Die Suche nach einer Antwort auf diese Fragen führt nochmals zu Helmut Coing und einem Versuch, anhand seines Werkes besser zu verstehen, warum welche Fragen nicht gestellt wurden, und auf welchen konzeptionellen Grundlagen die Disziplin – bewusst oder in schlicht unreflektierter Übernahme – vielleicht noch heute beruht.
Helmut Coing ist für einen solchen archäologischen Versuch nicht nur wegen seiner besonderen Rolle in der Disziplingeschichte prädestiniert. Vor allem hat er sich im Gegensatz zu späteren Rechtshistorikern um eine methodische Begründung ausdrücklich bemüht – der Eröffnungsaufsatz des Ius | Commune von 1967, seine vielleicht neben den »Aufgaben« am deutlichsten programmatische Schrift, ist allein diesem Problem gewidmet: Die europäische Privatrechtsgeschichte der neueren Zeit als einheitliches Forschungsgebiet.189
Er beginnt seine Ausführungen mit dem Bekenntnis zur Notwendigkeit, das nationalstaatliche Paradigma zu überwinden. »Die moderne rechtshistorische Forschung hat als nationale Geschichtsschreibung begonnen«,190 doch inzwischen sei die Diskrepanz zwischen den nationalen und den historischen Grenzen überdeutlich. Auch die Überzeugung von der Verwurzelung des Rechts im Volksgeist sei nicht mehr in dieser Weise vertretbar; das kanonische Recht sei ein besonders augenfälliges Beispiel dafür. Auf die nationale Rechtsgeschichte ließe sich, so fasst er den Auftakt zusammen, vielmehr der Satz Arnold Toynbees anwenden: »No single nation or national state of Europe can show a history which is in itself selfexplanatory.«191 Als kulturelle Einheit, der die rechtlichen Entwicklungen zugeordnet werden könnten, biete sich dagegen das Lateinische Mittelalter im Sinne von Ernst Robert Curtius’ Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) an. Da man nun aber nicht einfach »Europa« als Bezugseinheit der rechtsgeschichtlichen Forschung setzen könne, bedürfe es »grundsätzlicher Überlegungen darüber, was im Bereich der Rechtsgeschichte ein einheitliches Forschungsgebiet sein kann«.192
Diesen Überlegungen widmet er den Aufsatz. Sein theoretischer Orientierungspunkt ist Toynbee. Dessen »Kriterien […], bei deren Vorliegen man in sinnvoller Weise von einer einheitlichen Kulturentwicklung und infolgedessen auch von einem einheitlichen Forschungsgebiet in den historischen Wissenschaften sprechen könnte«,193 macht Coing sich zu Eigen.194 Drei Faktoren, so fasst er Toynbees Kriterienkatalog zusammen, müssten zusammenkommen, damit »Kulturentwicklungen in verschiedenen Gebieten und Gruppen […] als einheitlich angesehen werden können«: erstens, dass in ihnen »gemeinsame geistige Grundlagen wirksam werden«, zweitens, dass »eine intensive gegenseitige Beeinflussung der vorhandenen Einzelgruppen stattfindet«, und drittens, »wenn schließlich in diesen Einzelgruppen parallele, zeitlich gleichlaufende Entwicklungen stattfinden«.195 Ein abgeschlossenes Kulturgebiet liege nach Toynbee dann vor, »wenn eine Geschichte voll oder doch im wesentlichen aus sich selbst verständlich ist, ohne daß die Entwicklung der geographisch benachbarten Gebiete berücksichtigt zu werden braucht«.196 Gerade dies verneine Toynbee für die einzelnen europäischen Staaten – und gerade dies wird Coing am Ende für Europa annehmen.
Im Rest des Textes prüft Coing das Vorliegen dieser Voraussetzungen, indem er ein weites Panorama von Wissenschaft und Privatrechtsgesetzgebung entfaltet. Der von Coing dabei zurückgelegte Argumentationsgang gleicht dem oben skizzierten – und weitgehend dem Bild, das noch der heutigen Europäischen Privatrechtsgeschichte zu Grunde liegt: Die Anfänge der europäischen Rechtsgeschichte werden an einer »Geburt« der Rechtswissenschaft im Hochmittelalter festgemacht, es folgen eine daran anknüpfende Traditionsbildung unter Bezug auf ein bestimmtes corpus von Texten, die Herausbildung eines einheitlichen Juristenstandes, der weitgehend einheitliche Probleme zu lösen hatte und mit einem begrenzten set von Möglichkeiten auch löste; schließlich die bis über die Kodifikationszeiten hinausreichenden europäischen Gemeinsamkeiten. Coing zeichnet also das Bild einer europäischen Rechtsgeschichte von diachroner Einheitlichkeit, entworfen vom perspektivischen Fluchtpunkt in Bologna, von dort aus durch die Jahrhunderte ausstrahlend. Noch im 19. und 20. Jahrhundert – und »obwohl diese Zeit gewiß einen Höhepunkt der Trennung der europäischen Nationen dargestellt hat« – fehlten »verbindende Züge« nicht, und parallele Entwicklungen hätten sich in breitem Umfang vollzogen.197 So kommt Coing zu dem Ergebnis, dass »es berechtigt ist, in der Rechtsentwicklung dieser Völker in der neueren Zeit eine einheitliche Kulturentwicklung zu sehen und damit auch ein Gebiet einheitlicher Forschung, um noch einmal eine Toyn | bee’sche Wendung aufzugreifen: ein ›intelligible field of study‹«.198
Es mag aus heutiger Perspektive erstaunen, dass Coing sich derart klar auf Arnold Toynbee beruft, von manchen als der »englische Spengler« bezeichnet, aus einer Reihe von Gründen bis heute umstritten.199 Doch Toynbee wurde in den 50er und 60er Jahren von weiten Kreisen der bürgerlichen Eliten im Westen geradezu bewundert; die Kurzfassung seiner Studien wurde in 17 Sprachen übersetzt.200 In Deutschland bezog sich auch Heinz Gollwitzer in seinem Europabild und Europagedanke (1951) ausdrücklich auf Toynbee,201 und der von Coing zitierte Ernst Robert Curtius, seit der Publikation seines Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) selbst eine Autorität,202 sah in Toynbees Historik nicht weniger als »die größte historische Denkleistung unserer Tage«.203 Toynbees Historik könne, so Curtius, »für alle Geschichtswissenschaften eine Grundlagenrevision und eine Horizonterweiterung bedeuten, die ihre Analogie in der Atomphysik hat«.204 Curtius’ Werk wiederum hatte Coing derart beeindruckt, dass es ihm geradezu vorbildlich wurde: »Dem Gedanken einer europäischen Literaturgeschichte entspricht die Idee einer europäischen Rechtsgeschichte«, schrieb er 1952 in einer Rezension zur Curtius’schen Literaturgeschichte in der Savigny-Zeitschrift.205 Eine nach Curtius’ »Vorbild aufgebaute Dogmengeschichte« würde »ein Beitrag zur Erkenntnis der bleibenden materiellen Ordnungsideen im Recht sein«. Bereits Koschaker habe eine solche vor Augen gehabt, als er »die Gedanken von Rechtsgeschichte und Naturrecht verknüpfte«. Ihm als Juristen stehe, so schloss Coing die Rezension, ein Urteil über die Literaturgeschichte nicht zu – »aber ich möchte wünschen, daß es dereinst einmal eine Rechtsgeschichte des lateinischen Mittelalters gäbe, die seinem Werk an die Seite treten könnte«.206 Mit der Gründung des Max-Planck-Instituts schien dieser von ihm schon in den 50er Jahren an der Universität Frankfurt und mit den IRMAE verfolgte Wunsch in Erfüllung zu gehen.
Dass Coing die europäische Rechtsgeschichte als ein »intelligible field of study« im Toynbee’schen Sinn sah, ist in den späteren Diskussionen um Sinn und Zweck einer Europäischen Rechtsgeschichte nie wirklich problematisiert worden. Das ist erstaunlich, ist es doch mindestens bemerkenswert, dass sich die Europäische Privatrechtsgeschichte Coings auf ein eindeutiges theoretisches Modell bezieht: Europa ist für Coing ein »intellegible field of study« im Sinne Toynbees.
Das wirft eine Reihe von Fragen auf. Ein Aspekt der Coing’schen Toynbee-Lektüre erscheint mir in Bezug auf das Verhältnis von Europa und anderen Regionen besonders wichtig. Coing schneidet – wie schon Curtius – aus der Toynbee’schen universalen Kulturmorphologie mit Europa nämlich lediglich einen Teil heraus; Nicht-Europa spielt bei ihm – anders als bei Toynbee, der gerade um eine nicht eurozentrische Perspektive bemüht war207 – überhaupt keine Rolle. Selbst wenn Coing »Randgebiete« ausmacht, liegen diese nicht etwa jenseits Europas, sondern in der geographischen und rechtshistorischen Peripherie: England, Schottland, Skandinavien und die osteuropäischen Länder.208
Coing verkürzt damit das Toynbee’sche System: Aus Europa, das bei Toynbee zwar monadenhaft, aber immerhin Teil einer universalhistorischen Konstellationsanalyse war, ist bei Coing der einzige Raum, das einzige field of study geworden. Interessanterweise rezipierte Coing auch nicht die Toynbee’schen Überlegungen zu »encounters«, »colliding cultures«, »contact between civilizations« – diese eine Sensibilität für Übergangszonen und Prozesse der kulturellen Amalgamierung zwischen den Kultureinheiten zeigenden Überlegungen finden sich im 1954 erschienenen Band VIII von A Study of History; Coing zitiert auch 1967 nur die populäre Kurzfassung Toynbees der ersten Teile aus dem Jahr 1947, auch Curtius hatte sich noch in späteren Auflagen allein auf die Bände 1 bis 6 bezogen.209 |
Man mag darin eine gewisse Oberflächlichkeit in der Toynbee-Rezeption sehen, es mag aber auch daran liegen, dass es Coing eben gar nicht um Universalgeschichte ging, sondern letztlich um eine – trotz seiner eigenen Bemühungen, das Nationale zu überschreiten – noch immer stark vom Nationalen her gedachte Rechtsgeschichte, für die er einen Bezugsrahmen brauchte. Zugespitzt formuliert: Während Toynbee den nationalen Rahmen der Historiographie für verkürzt hielt, um die Welt – und als deren kleine Partikel auch die Nationen – zu begreifen, hielt Coing die nationale Perspektive für verkürzt, um die jeweiligen nationalen Rechtsgeschichten in Europa zu begreifen. Diese ließen sich für ihn nur, aber eben auch hinreichend im Kontext der europäischen Geschichte verstehen. Nicht-Europa hatte für ihn keinen Einfluss auf die Rechtsgeschichte, muss man jedenfalls annehmen – denn ein abgeschlossenes Kulturgebiet lag eben vor, »wenn eine Geschichte voll oder doch im wesentlichen aus sich selbst verständlich ist, ohne daß die Entwicklung der geographisch benachbarten Gebiete berücksichtigt zu werden braucht«.210 Die imperialen Kontexte und vieles andere, was wir heute als Teil der Geschichte sehen, ohne die gerade Europa nicht zu verstehen ist, blieben für ihn gänzlich ohne Bedeutung.
Mit diesem Denken Europas vom Nationalen her, mit dieser Zuwendung zu Europa aus dem Interesse, das Eigene besser zu verstehen, stand Coing nicht allein. Man spricht auch in anderen Kontexten von der Europabewegung als Versuch der Rettung des Nationalstaats. Sehr deutlich wird diese Perspektive bei Erich Genzmer, Coings Lehrer und Koordinator des Ius Romanum Medii Aevi. »Savigny war sicherlich ein guter Europäer«, schrieb Genzmer im Einleitungsband zum IRMAE bei der Darlegung, weswegen der von den Bearbeitern selbst so genannte »Neue Savigny« in manchem vom Vorbild abweichen müsse, »doch seine Anschauung vom Wachsen des Rechts aus dem Volksgeist zog ihm Grenzen. Seitdem haben wir die Notwendigkeit, die Geschichte, auch die Rechtsgeschichte, unter europäischem Gesichtspunkt zu erforschen, deutlich erkannt.« Dann folgt ein charakteristischer Zusatz: »Um ein Wort von E.R. Curtius zu gebrauchen: ›Keine moderne Nationalgeschichte wird verständlich, wenn sie nicht als Teilvorgang der europäischen Geschichte gesehen wird.‹«211
Genau mit dieser Absicht, das Nationale besser zu verstehen, hatte man im »Neuen Savigny« auch den zeitlichen Rahmen der Forschung erweitert: Man zog die historische Linie nun bis ins Spätmittelalter und fügte dem Forschungsprogramm einen fünften Teil hinzu: »Die Einflüsse des römischen Rechts und seiner Wissenschaft auf das kanonische Recht und die nationalen Rechte bis zum Ende des 15. Jahrhunderts«.212 Coing verlängerte diese Linie in seinen Arbeiten sukzessive bis in die Kodifikationszeit. Schritt für Schritt erarbeitete man sich so eine vom 12. bis in das 19. Jahrhundert verlaufende Tradition, die sich in einem gänzlich stabilen Raum vollzog. In dessen Zentrum lag Bologna, und seine Außengrenzen markierten die dekolonisierten westeuropäischen Nationalstaaten des 20. Jahrhunderts.
Wieso man sich in den 50er und 60er Jahren in dieser Weise auf Europa und meist eben allein auf Europa ausrichtete – so sehr, dass man sogar Savigny zum guten Europäer erklären musste –, ist von der zeitgeschichtlichen Forschung inzwischen gut herausgearbeitet worden.213 Die allgemeine Europahistoriographie blühte,214 jedes Land begriff Europa aus seiner eigenen Vergangenheit heraus als Chance, oft wohl auch unreflektiert; wir sind heute erheblich aufmerksamer geworden für die Fragmentiertheit der europäischen Identitätsbildungsprozesse215 und den Legitimitätsvorschuss, den das europäische Narrativ für eine ganz unterschiedlichen Interessen dienende Integrationspolitik bereitgestellt hat.216
In Deutschland bot die Berufung auf Europa eine willkommene Möglichkeit, nach der NS-Zeit | nun andere als die nationalen Traditionsstränge stark zu machen. Bis weit in die Zwischenkriegszeit zurückreichende Vorstellungen – man denke nur an den Abendlandgedanken217 – wurden im politischen Kontext des Kalten Krieges, der Dekolonisierung und der wirtschaftlichen und politischen Integration aufgegriffen. Der Blick auf die europäische Geschichte ließ an eine scheinbar ungebrochene Tradition kultureller Leistungen anknüpfen. Man mag das als moralische Entschuldungsstrategie bezeichnen, doch die Generation Coings und Wieackers bedurfte dieser Anknüpfung in einem uns heute vielleicht kaum mehr vorstellbaren, angesichts ihrer bildungsbürgerlichen Prägung und ihres Selbstverständnisses von Deutschland als dem Land der Philosophie, der Rechts- und der Geisteswissenschaften geradezu existentiellen Maße. Coing hatte seinen »Versuch der Neu[be]gründung des Naturrechts« (1947) noch in der Kriegsgefangenschaft218 aus »Verzweiflung und Skepsis gegenüber dem Recht überhaupt« begonnen, ganz ähnliche Motive finden sich bei Curtius.219 Auch später war für Coing die NS-Zeit immer wieder Anlass seiner rechtsphilosophischen Selbstvergewisserung,220 so wie auch Wieackers Geschichte des Privatrechts nicht von ungefähr als »Apologie des Juristen«221 bezeichnet worden ist. Europa bot den Deutschen Halt und Hoffnung.
Dazu kam der praktische Nutzen.222 Auch in den anderen Teildisziplinen der Rechtswissenschaft begann man, sich immer stärker mit Europa zu beschäftigen. Die europäischen Gemeinschaften formierten sich,223 das Europarecht begann, sich als eigene Disziplin zu verankern, europarechtliche Bezüge wurden immer wichtiger.224 Die historische Legitimation des europäischen Projekts war auch den nicht auf die Rechtsgeschichte spezialisierten Rechtswissenschaftlern wichtig. Sollte Europa, wie Walter Hallstein es formuliert hatte, »Rechtsgemeinschaft« werden,225 so musste es darum gehen, die Legitimität dieser Rechtsgemeinschaft in der Geschichte des Rechts aufzuweisen. Die »Einheit des Kontinents«, so hatte es Hallstein in seinem in den Jahren der Grundlegung der Disziplin publizierten Der unvollendete Bundesstaat formuliert, schien eben »ein Jahrtausend lang nie ganz erloschen«, die europäische Integration »ein organischer Vorgang, der eine in Kultur, Wirtschaft und politischem Bewußtsein lange angelegte, eine bereits vorhandene strukturelle Einheit in eine definitive politische Form übersetzt«.226 Bei diesem Prozess der Übersetzung hatte das Recht eine besondere Funktion: »Die Gemeinschaft ist eine Schöpfung des Rechts. Das ist das entscheidend Neue, was sie gegenüber früheren Versuchen auszeichnet, Europa zu einigen. Nicht Gewalt, nicht Unterwerfung ist als Mittel eingesetzt, sondern eine geistige, eine kulturelle Kraft, das Recht. Die Majestät des Rechts soll schaffen, was Blut und Eisen in Jahrhunderten nicht vermochten.«227 In Europa galt es nun etwas zu konsolidieren, das schon in der Vergangenheit die Welt geprägt hatte und es auch in Zukunft wieder tun sollte: »Die abendländische Kultur, die »Western Civilization«, die heute den ganzen atlantischen Raum erfüllt, sprießt aus europäischen Wurzeln.«228
Zu diesem zeitgeschichtlichen Kontext trat schließlich noch ein weiterer Faktor, der Coings Methode geprägt hat – seine philosophische Erkenntnishaltung. Helmut Coing war bekanntlich nicht allein Rechtshistoriker, sondern arbeitete auch rechtsphilosophisch,229 und einiges spricht dafür, dass ein besonderer Antrieb für seine rechtshistorische Arbeit in der Suche nach normativer | Orientierung lag. Denn Coing betrieb Rechtsgeschichte zwar auch in ganz pragmatisch-rechtsvergleichender Weise. Zugleich aber – das kommt vor allem in den meist getrennt analysierten rechtsphilosophischen Publikationen zum Ausdruck – auch in philosophischer, oder wie er selbst es bezeichnete: in naturrechtlicher Absicht.
Beides, Naturrecht und Geschichte, waren für ihn nicht zu trennen. Denn bei seinem Naturrecht ging es ihm zwar nicht – wie früheren Generationen – um eine unmittelbare Ableitung von Rechtsgrundsätzen aus der Natur: »Nichts Ganzes, nur Aspekte der Gerechtigkeit, nur einzelne Elemente des Baues vermag sie vorzuweisen; nicht ewige Regeln der Weltvernunft vermag sie darzustellen, nur Stücke schwer errungener menschlicher Einsicht in gerechte Ordnungen unter Menschen kann sie beschreiben.« Aber sie »zeigt und bewahrt, was Erfahrung immer wieder als gerecht bewährt hat«.230 Naturrecht war, so liest man in Coings Grundzügen der Rechtsphilosophie, die »Summe der Erfahrungen, die der Mensch in seinem Suchen nach gerechter Ordnung in challenge und response gemacht hat«231 – wobei er mit der Formulierung von »challenge und response« auch hier Toynbee’sche Begrifflichkeit aufnimmt.232 Coings Naturrecht brauchte deswegen vor allem eines, es bestand geradezu aus einem: aus rechtshistorischer Forschung – und zwar nicht zuletzt zum historischen positiven Recht und den Ergebnissen der Rechtswissenschaft. »Damit kann aber doch, was sie [= die moderne Wissenschaft] an »Naturrecht« erkennt, zugleich ein Element der positiven Rechtswissenschaft sein«, denn die positive Rechtswissenschaft arbeite, wie jede »wahre Hermeneutik«, auf der Grundlage »wahrer Sacherkenntnis«.233 Wegen dieser Historizität seines Natur-, letztlich eines Kulturrechts234 glichen die Ergebnisse auch weitgehend einem Katalog westlicher Verfassungsprinzipien, was ihm einige Kritik eingebracht hat.235
Diese philosophische Erkenntnishaltung ist nicht ohne Folgen für sein Geschichtsdenken. Denn nicht allein die großen Prinzipien, sondern auch die kleine Münze der rechtshistorischen Institutionen kann vor dem Hintergrund eines solchen Wirklichkeitsverständnisses nicht bloße historische Zufälligkeit sein. Auch seine manchmal geradezu holzschnittartigen Arbeiten zur Dogmengeschichte lassen sich nur in diesem philosophischen Licht lesen: Coing ging es nicht um das historische Detail, sondern um die in den vielen Ausprägungen sichtbar werdenden Strukturen. Es war deswegen nicht nur legitim, sondern geradezu notwendig, von Details zu abstrahieren.
Coings phänomenologische, wertphilosophisch-naturrechtliche Erkenntnishaltung legt es nicht nur nahe, dass er die damals verbreiteten essentialistischen Vorstellungen eines christlich-abendländischen Europas und seines universalen Wertesystems geteilt haben dürfte – Anrufungen des Abendlandgedankens findet man, so weit ich sehe, beim Protestanten Coing allerdings nicht. Sie bildete auch die Brücke von der Geschichte zur Dogmatik. Gerade weil sich an den Institutionen für ihn mehr als nur zufällige Ereignisse zeigten, ließ sich das Recht der europäischen Gemeinschaften auf der Grundlage historischer Forschung gestalten – ganz, wie es bei Hallstein stand, wenn dieser schrieb, dass die europäische Integration »eine bereits vorhandene strukturelle Einheit in eine definitive politische Form übersetzt«.236
Vor allem hatte dieses ontologische Verständnis aber Auswirkungen auf die geringe Bedeutung, die Coing der räumlichen Dimension für die rechtshistorische Forschung zumaß. Denn wenn Rechtsgeschichte auf die Erkenntnis universaler Prinzipien, Dogmen und Institutionen zielt, dann ist der Raum, in dem diese Beobachtungen stattfinden, letztlich zweitrangig. Er muss nur hinreichend komplex sein, um das ganze Potential beobachtbarer Rechtsinstitutionen hervorbringen zu können; je höher entwickelt Gesetzgebung, Rechtsprechung und allgemeine »Kultur« – also die formativen Elemente seines Rechtsbegriffs – waren, um so besser. Ob dieses Labor zur Beobachtung historischer Normativität nun ganz Europa umfasst oder nur einen Teil, ob es an den Grenzen im Osten Halt macht oder auch noch Lateinamerika einschließt, ist von untergeordneter Bedeutung – zumal »die Lösungen, die der menschliche Geist für diese Probleme in der sozialen Ordnung gefunden hat, keineswegs der Zahl nach unbegrenzt sind. Man kann vielmehr feststellen, daß für diese Probleme | jeweils nur eine begrenzte Anzahl von Lösungen offenbar überhaupt denkbar sind.«237
Diese eurozentrische und zugleich universalistische Episteme hat schließlich noch eine weitere, für unseren Zusammenhang wichtige Folge: Vom historischen Zentrum Europa aus gesehen erschien das Ausmaß der Übernahme von Elementen dieser europäischen Tradition in Asien, in Lateinamerika oder an anderen Orten der Welt eigentlich nur wie eine erneute Bestätigung, dass die in Europa gefundenen Lösungen brauchbar – und von universaler Geltung waren. Universalismus und Diffusionismus stützten einander.
Coings Vorstellung von einer Europäischen Rechtsgeschichte war natürlich nicht der einzige Entwurf. Es wäre wichtig, auch auf andere Akteure zu blicken – etwa Francesco Calasso. Im – aus den genannten Gründen für die Disziplin besonders wichtigen – deutschen Sprachraum stand vor allem Franz Wieacker, dessen Privatrechtsgeschichte der Neuzeit in erster Auflage 1952, in der deutlich veränderten 2. Auflage 1967 erschienen war, für einen anderen konzeptionellen Zugang. Er kommt, was das Europabild angeht, letztlich allerdings zu ähnlichen Ergebnissen.238
Beides, Wieackers methodisches Denken wie auch sein Europabild, sind deutlich von Max Weber beeinflusst:239 Europa war auch für Wieacker Träger eines umfassenden, diesen Kontinent von anderen Weltregionen kategorial unterscheidenden Rationalisierungsprozesses.240 Der Anspruch, Konflikte einer rationalen Regelung zuzuführen, habe das »öffentliche Leben in Europa für immer juridifiziert und rationalisiert; unter allen Kulturen der Erde ist durch ihn die europäische die einzig legalistische geworden. Indem sie ein rationales Prinzip fand, das den gewaltsamen Austrag menschlicher Konflikte wenigstens innerhalb der Staaten ersetzte, hat die Jurisprudenz eine der wesentlichen Voraussetzungen für den Aufstieg der materiellen Kultur, besonders der Verwaltungskunst, der rationalen Wirtschaftsgesellschaft und selbst der technischen Naturbeherrschung der Neuzeit geschaffen«, schreibt er in seiner Privatrechtsgeschichte.241 Auch später – 1983 – streicht er drei Merkmale als Kennzeichen der »europäisch-okzidentalen« Rechtskultur heraus: Personalismus, Legalismus, Intellektualismus – ihrerseits erklärbar aus drei »europäischen« Phänomenen: dem Primat der Einzelperson als Subjekt; der Unterwerfung der sozialen Beziehungen unter eine allgemeine Rechtsregel; der Tendenz zu gedanklicher Konsequenz.242 Gerade in ihrem »dauernden Zusammenspiel machen sie die spezifische Eigenart« der okzidentalen Rechtskultur aus.243 Wieacker definiert Europa also durch ein Ensemble von Idealtypen, das anderen Kulturen im kontrastierenden Vergleich gegenübergestellt wird.244 Ihm geht es dabei nicht so sehr um Institutionen, sondern um eine »Geschichte des rechtswissenschaftlichen Denkens und seiner Wirkungen auf die Entwicklung von Staat und Gesellschaft der Neuzeit«.245
Die Einwände, die gegen Max Webers historische Konstellationsanalyse erhoben worden sind, müssen also mutatis mutandis auch auf die Wieacker’sche Konstrastierung von Europa und dem Rest der Welt übertragen werden246 – die Methode aber auch nicht gänzlich diskreditieren. Doch auch eine typisierende Differenzkonstruktion wie die Wieackers ist natürlich erst als Teil eines Ver | gleichs heuristisch fruchtbar;247 wie sehr auch Wieackers Vorstellung der Rezeption als Vorgang der Verwissenschaftlichung – und damit als geradezu konstitutiver Faktor der Herausbildung eines Europäischen Privatrechts – auf einer ontologischen Hermeneutik beruht, ist bereits erwähnt worden.248 Auch dies dürfte die kategorischen Unterscheidungen zwischen Europa und dem Rest der Welt stimuliert haben.
Blicken wir zurück. Ausgangspunkt des Versuchs der wissenschaftshistorischen Selbstvergewisserung war der Befund, dass sich die Europäische Rechtsgeschichte als Teil der Europahistoriographie zahlreichen Einwänden ausgesetzt sieht. In der neueren Literatur finden wir keine überzeugende Begründung, wo eigentlich die räumlichen Grenzen der Europäischen Rechtsgeschichte verlaufen – und was die konzeptionelle Grundlage der Disziplin ist. Vor allem scheint der herkömmliche, die »Europäische Rechtsgeschichte« mit dem Raum »Europa« identifizierende Ansatz für das mittelalterliche Europa vielleicht noch begründbar; doch die Mobilisierung des Rechts im Zuge der europäischen Expansion führt – so zeigte der Blick auf Lateinamerika – diese Bindung von bestimmten Ausprägungen von Normativität an einen geographischen Raum ad absurdum.
Wieso arbeiten wir aber weiterhin und trotz aller Kritik mit der Vorstellung einer historischen Einheit »Europa«, durch alle Jahrhunderte und für alle Rechtsgebiete? Eine gewisse Perplexität angesichts des Reflexionsdefizits in der aktuellen Literatur führte zu dem Versuch einer wissenschaftshistorischen Erklärung. Diese hat einige Pfadabhängigkeiten aufzeigen und vielleicht auch anschaulich machen können, wieso Helmut Coing diese Ausrichtung auf Europa – und nur Europa – vornahm. Zugleich wurde deutlich, dass wir jedenfalls die Grundlagen der Coing’schen Europäischen Rechtsgeschichte heute als überwunden ansehen müssen. Die wesentlichen Gründe sind benannt: der ihr zu Grunde liegende ontologische Rechtsbegriff, die rechtsphilosophisch induzierte Konzentration auf die gelehrte Rechtswissenschaft als diejenige, die das eigentliche Recht durch einen hermeneutischen Erkenntnisakt in die Welt des Erfahrbaren hineinholt; die Annahme, dass die europäische Geschichte weitgehend aus sich selbst heraus verständlich wäre; seine naturrechtlich geprägte Erkenntnishaltung, die mit essentialistischen Vorstellungen von Europa und von der Art der Identitätsbildung einherging; schließlich auch die von diesem universalistisch-eurozentrischen Bild der Geschichte gestützte geringe Sensibilität für Plastizität historischer Räume. Bedenken begegnet auch der stärker auf der Weber’schen Differenzierungstypologie beruhende Ansatz Wieackers, der ebenfalls in zentralen Punkten auf ontologischen Grundannahmen steht, seine Vorstellung von »Rezeption« darauf entworfen hat und in der scharfen Kontrastierung, ähnlich wie Weber, kaum Raum für Randzonen und Zwischenbereiche lässt.
Beiden Entwürfen – Wieacker und Coing – ist gemeinsam, dass sie das Recht vor allem als weltliches Juristenrecht interpretiert haben, das über das ius commune in ein etatistisch-legalistisches System mündete, mit einer pyramidalen Rechtsquellenhierarchie, nach der man die historische Rekonstruktion vornahm.249 Trotz aller Bemühungen um eine Überwindung von reiner Ideengeschichte blieb ihr Bild der Europäischen Rechtsgeschichte von einem primär geistesgeschichtlichen, um manche Elemente wie die Professionalisierungsgeschichte erweiterten Zugriff geprägt. Die »Rezeption« war ein Prozess der Verwissenschaftlichung, die europäische Rechtsintegration ein Werk der Rechtswissenschaft, egal ob man, wie Coing, den Blick auf Dogmatik und Institutionen, oder, wie Wieacker, auf die Rechtswissenschaft und ihre Methoden richtet. So entstand ein Bild der Europäischen Rechtsgeschichte, das besonders dem deutschen Rechtshistoriker absolut schlüssig erscheinen musste, das aber, wie wir heute wissen, unterkomplex ist und manche specifica der mittelalterlichen Geschichte Europas zum Charakteristikum der gesamten Rechtsgeschichte Europas bis in die Neuzeit hinein erklärt. Was den Europabegriff angeht, so dürfte klar geworden sein, dass wir also auch bei diesen Gründergestalten keine Konzeption »Europas« als Raum der | Rechtsgeschichte finden, an die wir anknüpfen können. Letztlich stehen beide für das, was als »identifikatorische Europakonzepte« oder eine Verbindung von »deduktivem« und »induktivem Tendenzmodell« sowie »Essenz-Modell« der europäischen Geschichte bezeichnet worden ist.250
Die Disziplin wandelte auf diesem Pfad weiter.
Das Problem, wie wir einen analytischen Rahmen für eine die Nationalgeschichte überschreitende Rechtsgeschichte finden, besteht deswegen fort. Coings großes Verdienst dürfte es sein, die transnationale Dimension der Rechtsgeschichte betont, institutionalisiert und forschungspraktisch in vielerlei Hinsicht umgesetzt zu haben. Er verfolgte übrigens auch viel aufmerksamer, als es nach dieser auf die unterschwelligen Prägungen seines Europabegriffs ausgerichteten Rekonstruktion seines Rechts- und Geschichtsdenkens scheinen mag, die historische Methodendebatte und trat für Methodenpluralismus ein, vor allem in seinen Aufgaben des Rechtshistorikers von 1976. Dort unterstrich er die besondere Bedeutung »der Ergebnisse der französischen Historikerschule der ›Annales‹«, wies darauf hin, dass auch »die Auseinandersetzung mit den gleichen ökonomischen Phänomenen (etwa dem Übergang zur Industriewirtschaft)« Faktoren sein könnten, »welche die Auswahl des Rahmens« der rechtshistorischen Forschung bestimmen;251 vergleichende Rechtsgeschichte könne »schon in die Ethnologie oder in die Entwicklung soziologischer oder sozialgeschichtlicher Typen« münden, es öffne sich »die weite Perspektive in eine historische oder kulturwissenschaftliche Anthropologie«.252 Auch war ihm natürlich die Variabilität historischer Räume vertraut, und die Unterschiede zwischen politischer und historischer Geographie waren für ihn geradezu Ausgangspunkt seiner Arbeit an der Europäischen Rechtsgeschichte: »Ein erster Grund« für die Ersetzung der Bindung der neueren Rechtsgeschichte an die nationalen Entwicklungen, so schrieb er 1967, »liegt in der Diskrepanz zwischen den Grenzen der heutigen Nationalstaaten und derjenigen Rechtsgebiete, in denen sich frühere Rechtsentwicklungen vollzogen haben«.253 Genauso stand ihm die Inkongruenz zwischen geographischem Raum und der Ausbreitung einer Rechtskultur klar vor Augen: »Die Grenzen einer Kulturentwicklung entziehen sich ihrem Wesen nach einer Festlegung durch feste geographische Linien im Raum«.254 Auch er hatte also einen letztlich graduellen Europabegriff, wir würden heute sagen: er kannte Kontaktzonen, Grenzen, Hybridbildungen. Die »Übernahme europäischer Gesetze in der Türkei oder in Japan« eröffne der »vergleichenden Rechtsgeschichte ein weites Feld«, Ziel müsse es sein, »zu einer Typologie der Rezeption zu gelangen«.255 Doch in seiner eurozentrischen Zeit wurde Europa eben doch von einem Kern her begriffen, der zum Rand hin ausfranste – und nur noch einzelne Fäden reichten über die Meere oder nach Osten. Hinzu kam die Orientierung an Toynbee. Die Toynbee’sche Methode, Kultureinheiten zu konstruieren, bot seiner transnationalen Rechtsgeschichte zwar einen Bezugsrahmen mit festen Außengrenzen – festere, als Toynbee selbst vor Augen hatte. Für ontologisch geprägte Denker wie Coing oder Curtius war diese Kultureinheit zudem nicht nur eine konstruktive diachrone, sondern eben auch überzeitliche Einheit, innerhalb derer sich kulturelle Phänomene beobachten ließen, es war eine »historische Anschauung«.256 Dadurch dass Coing und Curtius, anders als Toynbee, nur auf Europa blickten, wurde ihnen Europa zur ganzen Welt.
Alles das hat natürlich sehr viel mit den zeitgeschichtlichen Umständen zu tun, vielleicht bot Toynbee auch nur eine Methode für das, was politisch von ihm und seiner Generation gewünscht und weltanschaulich nahe liegend war. Gerade den Rechtshistorikern dürfte die Begrenzung auf Europa auch deswegen nicht als eine Begrenztheit erschienen sein, weil die Geschichte des gelehrten Rechts nun einmal durch den Übervater Savigny vom Mittelalter her entworfen und langsam bis in die Neuzeit fortgeschrieben worden war. So schritt man unwillkürlich-teleologisch vom kleinen Hörsaal in Bologna fort, durch Hoch- und Spätmittelalter bis zur »Vollrezeption« in Deutschland. |
Es sind jedoch nicht allein diese eher wissenschaftstheoretischen Einwände, die gegen die überlieferten Europakonzeptionen vorgebracht werden müssen. Auch die skizzierten Ergebnisse der historischen Forschung sprechen gegen das abgeschlossene Bild Europas. Für unseren Zusammenhang dürfte entscheidend sein, dass die Auswirkungen der vielfältigen technischen Revolutionen und andere historische Kontexte übersehen werden, die gerade seit dem späten 15. Jahrhundert die europäische Expansion möglich gemacht und zu globalen Austauschprozessen geführt haben – und mit denen die normativen Ordnungen teilweise gänzlich aus ihren Entstehungskontexten herausgelöst und weltweit reproduziert wurden: die Medienrevolution, über die in kurzer Zeit eine ungeheure Masse an normativer Literatur produziert und mit deren Hilfe die Kommunikation über Recht in ungeheurem Maß mobilisiert werden konnte; die Fortschritte in der Technik, die zunächst die europäische Expansion über die Ozeane möglich machten und dann die Welt zu erschließen und zu ordnen halfen; die massenhafte Migration von Menschen, Ideen und Objekten materieller Kultur, die nun über den Globus zirkulierten, von Juristen und ihren Praktiken, von Missionaren, Soldaten und Siedlern des 16. bis zu den Auswanderungswellen im 19. Jahrhundert, in deren Zuge sich Millionen Europäer in anderen Teilen der Welt niederließen; die intensive Kommunikation über Recht im 20. Jahrhundert in Form von Kongressen, Wissenschaftleraustausch, durch Exilaufenthalte und an ausländischen Modellen orientierte Reformprozesse in allen Teilen der Welt.
Dieser geradezu das Signum der Neuzeit bedeutenden Mobilisierung und der mit ihr einhergehenden Austausch- und Expansionsprozesse – die neben vielem anderen eben auch weit über Europa hinausreichende Netze und Rechtsräume herausgebildet haben – werden wir durch eine Rückbindung eines gesellschaftlichen Sinnsystems an einen geographisch bestimmten, diachron stabilen und für noch so unterschiedliche Felder einheitlich zugeschnittenen Raum nicht gerecht. Um es mit Coing zu sagen: »Die Grenzen einer Kulturentwicklung entziehen sich ihrem Wesen nach einer Festlegung durch feste geographische Linien im Raum.«257 Für die Neuzeit,258 aber wahrscheinlich nicht einmal nur für diese, wird man hinzufügen müssen: Sie können eben auch Meere überwinden – und Europa weit hinter sich lassen.
2. Teil – Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive – Ausgangspunkte und Aufgaben
Welcher Bezugsrahmen kann aber an die Stelle des Konzepts der »Europäischen Rechtsgeschichte« treten? Auch heute bedarf es – wie schon 1967 – »grundsätzlicher Überlegungen darüber, was im Bereich der Rechtsgeschichte ein einheitliches Forschungsgebiet sein kann«.259 Denn die Frage ist eben noch immer nicht überzeugend beantwortet – dies zu zeigen, ist ein wesentliches Anliegen dieses Beitrags.
Doch es gibt, um Jürgen Osterhammels eingangs zitierte Formulierung aufzugreifen, »Alternativen zu einer europäischen Geschichte als Geschichte abendländischer Wertemobilisierung und abgrenzender Identitätsverweigerung«:260 eine Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive.
Einige elementare Überlegungen zu ihren Ausgangspunkten möchte ich im Folgenden zur Diskussion stellen; sie sind eigentlich nicht mehr als der Versuch, manche in den oben skizzierten Debatten über postkoloniale und globale Historiographie entwickelte und bewährte Überlegungen, mir einschlägig erscheinende Ansätze aus Sozial- und Kulturwissenschaften sowie rechtstheoretische Reflexion zusammenzuführen und auf unser Feld, die Rechtsgeschichte, zu beziehen (7–11).
Der erste Ausgangspunkt dürfte bereits deutlich geworden sein: der globale Rahmen. Das Fehlen einer überzeugenden Antwort auf die Coing’sche Frage danach, was im Bereich der Rechtsgeschichte ein einheitliches Forschungsgebiet sein kann, dürf | te daran liegen, dass die Frage selbst falsch gestellt ist: Denn es kann für die Neuere Rechtsgeschichte eben nicht ein einheitliches Forschungsgebiet geben – jedenfalls nicht in dem Sinn, dass dieses ganz Europa und nur Europa umfasst. Was es geben kann, ist eine Fülle von Forschungsgebieten von je eigenem Zuschnitt. Denn Europa ist – das haben die rechtshistorischen Anstrengungen der vergangenen Jahrzehnte eindringlich unter Beweis gestellt – ein Kontinent, auf dem sich Punkte, Korridore, manchmal sogar Regionen intensiven Kommunikationsgeschehens über Recht beobachten lassen, gemeinsame Praktiken, Ideen, Kanones, die allerdings niemals gleichermaßen über den gesamten Kontinent verteilt waren; es ist Ort verdichteter Institutionalisierung, die viele, aber nicht alle Regionen umfasst; es kennt Zonen der Konvergenz, aber auch gegenläufiger Pluralisierung, manchmal sogar innerhalb derselben Gebiete; es ist ein Knotenpunkt, oft auch Zentrum, von weit über Europa hinaus gespannten Netzen normativer Verflochtenheit; es ist schließlich eine Region, die sich als Einheit begreift und die durch diesen kontinuierlichen Prozess der Europäisierung einen weiteren, Einheitlichkeit nahe legenden Ring über die vielen in Europa liegenden, einander schneidenden, überlagernden Kreise, Korridore und weit über Europa hinausreichenden Netze legt. Kurz: Es gibt nicht einen abgeschlossenen Rahmen der rechtshistorischen Forschung, sondern nur eine große Zahl von Einheiten, die je nach Gegenstandsbereich definiert werden müssen und diachron instabil sein dürften – und die ihre Gemeinsamkeit allein darin finden, dass sie jeweils mindestens einen Punkt, vielleicht auch Regionen, auf dem Kontinent Europa einschließen. Die Bildstrecke in diesem Heft mag das veranschaulichen – anders als wir es gewohnt sind, wird man Teile Europas als Peripherie anderer Zentren sehen müssen.
Ein erster Ausgangspunkt für eine die Aporien der »Europäischen Rechtsgeschichte« überwindende Konzeption liegt also in der Offenheit für einen globalen Bezugsrahmen. Selbst wenn wir es nicht wollten, wir könnten gar nicht anders, als uns auf eine auch jenseits von Europa liegende Welt des Rechts einzulassen – und haben darüber hinaus viele gute, hier nicht zu wiederholende Gründe, dies zu tun.261 Da wir für Frühe Neuzeit und Moderne von einer immer weiter reichenden, in manchen Bereichen sogar globalen Präsenz normativer Angebote auszugehen haben, die zu einem großen Teil in Europa entwickelt wurden und dann an verschiedenen Orten der Welt in ganz unterschiedlicher Form verstanden und vielleicht auch in die eigenen Systeme integriert werden konnten, muss der Bezugsrahmen einer »transnationalen« Rechtsgeschichte zunächst ebenso weit gefasst sein. Nur über eine potentiell globale Perspektive können wir die frühneuzeitlichen Imperien, die Kommunikationsräume wie den Atlantik, die Missionsgebiete oder die im 19. Jahrhundert zu beobachtenden Prozesse des politischen, ökonomischen und kulturellen Hegemonialstrebens europäischer Mächte und die damit einhergehenden komplexen normativen Verflechtungen auch im Bereich des Rechts beobachten und ggf. vergleichend nebeneinander stellen. Das heißt natürlich nicht, Weltrechtsgeschichte zu schreiben,262 und viele Arbeiten werden den Raum Europas nicht verlassen; aber wir dürfen den analytischen Raum unserer transnationalen Forschungen nicht a priori verkürzen.
Der zweite Ausgangspunkt liegt in einer konsequenten Priorisierung des Lokalen. Das mag erstaunen, scheint »transnationale« oder »globale« Rechtsgeschichte doch genau das Gegenteil zu sein: die Suche nach großen Linien. Doch nur im Blick auf die kleinste Einheit können die Prozesse der Rechtserzeugung rekonstruiert werden, nur von hier aus können auch regionale oder globale Verknüpfungen erschlossen werden.
Ich möchte die Notwendigkeit dieser lokalen Perspektive hier nicht unter Berufung auf die in der Globalgeschichte geführte Debatte um Notwendigkeit und Möglichkeiten der Kombination von globaler und lokaler Ebene263 oder die nicht | minder oft zitierte sozialwissenschaftliche Diagnose der »Glokalisierung«,264 sondern zunächst aus der Eigenart des Gegenstands der rechtshistorischen Rekonstruktion stark machen: dem Recht.
Geht man nämlich von einem erfahrungswissenschaftlichen Rechtsbegriff aus – alles andere ist schon epistemologisch unmöglich, und der Blick auf Coing hat die heuristischen Grenzen eines normativen Rechtsbegriffs anschaulich gemacht265 –, so ist »Recht« nicht eine irgendwie vorgegebene Ordnung; diese mag es geben oder nicht, sie ist aber, wie auch die historischen Rechtsbegriffe, allein als Teil der Vorstellung der Akteure von Bedeutung. Gegenstand der rechtshistorischen Analyse kann vielmehr nur die Kommunikation der Beteiligten darüber sein, was als richtig oder nicht richtig anzusehen ist. Das Objekt unserer historischen Beobachtung, »Recht«, besteht, etwas präziser, aber dennoch in gewollter Unschärfe, also aus Regelungsmustern, »deren bindender Anspruch mehr oder weniger anerkannt, die in rechtsinstitutionellen Kontexten mehr oder weniger kompetent zur Wirkung gebracht werden und mit denen man im Rahmen der Kontingenzen der Sozialwelt umgehen muß«.266 Rechtsgeschichte ist deswegen, so etwa Michael Stolleis, eine »Abfolge von sprachlich dokumentierten Bewußtseinszuständen einer Kommunikationsgemeinschaft derer, die an Recht und Verfassung beteiligt sind« – eine Definition, die hilft, die Dichotomie von Denken und Handeln, letztlich aber auch von Institution und Person zu überwinden.267 Da Recht zudem nicht allein sprachlich vermittelt wird, sondern ein komplexes gesellschaftliches Symbolsystem ist, müssen wir uns gerade in vormodernen europäischen und auch in außereuropäischen Gesellschaften besonders um die Rekonstruktion der Kontexte bemühen, die dazu dienen, diesem sprachlichen und nicht-sprachlichen Symbolsystem Bedeutung zu verleihen.268
Dieser Prozess der Bedeutungskonstitution findet, streng genommen, bei jedem Akt der Interpretation, also jedes Mal statt, wenn eine normative Aussage auf irgendeiner Grundlage formuliert wird. Das entspricht der sprachwissenschaftlichen Analyse, es ist bisher vor allem in Bezug auf die richterliche Rechtsfortbildung, in der Debatte um die Legal Transplants zum Teil auch im interkulturellen Kontext diskutiert worden. So wird im Umfeld der Analyse der richterlichen Entscheidungsfindung hervorgehoben, dass der Akt der »Rechtsfindung« oder »Rechtsanwendung« im Grunde ein Akt der Rechtserzeugung sei.269 Rechtsprechung wird aus dieser Sicht zur »delegierten Rechtsetzung« und »gebundenen Rechtsbildung«,270 Richterrecht konsequenterweise zu einer eigenen Rechtsquelle.271 Deswegen wird auch die Bedeutung des »gemeinsamen Wissens« betont, das die Entscheidungsprozesse steuere. Rechtsfindung wird damit geradezu zum »Management der Kohärenz rechtlicher und außerrechtlicher Regelhaftigkeit«.272
Überträgt man diese Einsichten aus dem Kontext der Normkonkretisierung bei der richterlichen Entscheidung auf die Normkonkretisierung durch Selektion und Aneigung bestimmter normativer Angebote, bedeutet dies für die Rechtsgeschichte, dass wir bei der historischen Rekonstruktion von Aneignungsgeschehen den Schwerpunkt unserer Aufmerksamkeit nicht auf die Normen, sondern auf die Bedingungen der Reproduktionsprozesse dieser Kommunikation und ihrer Materialisierung in Symbolen sowie die sprachliche Verfasstheit legen müssen. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein, wird forschungspraktisch auch vielfach getan, in Bezug auf die Europäische Privatrechts | geschichte auch jüngst wieder ausdrücklich gefordert.273 Doch gerade für die »transnationalen« Kontexte mit ihrer zu textsubstanzialistischen Betrachtungen neigenden Transfer-, Rezeptions-, Transplantsemantik dürfte es wichtig sein, auf diese Notwendigkeit der Analyse der Umstände des Aktes der Bedeutungskonstitution besonders hinzuweisen. Wir müssen diese methodisch geradezu priorisieren. Das gilt natürlich um so mehr, wenn wir uns im interkulturellen Kontext bewegen, in dem erheblich komplexere Prozesse der Interpretation und Translation ablaufen.274 Nur auf diesem indirekten Weg mögen sich dann auch wieder Fragen wie die der »Modernisierung«, der »multiple modernities« etc. wirklich fruchtbar diskutieren lassen.275 Auch wir müssen bei der rechtshistorischen Rekonstruktion auf die »außerrechtliche Regelhaftigkeit« und das akkumulierte Wissen der Kommunikationsgemeinschaft achten, nicht allein und nicht einmal in erster Linie auf die »Objekte« und deren angebliche Herkunft.276
Priorisierung des Lokalen heißt notwendig eine Priorisierung der lokalen Praxis. Mit lokaler Praxis ist dann natürlich nicht allein die justizielle, sondern jede lokale Praxis gemeint, die den Akt der Rechtserzeugung oder Reproduktion von Normativität betrifft – und »Praxis« im Sinne der embodied practice, die auch das implizite Wissen, gelehrte oder kulturelle Praktiken umfasst.277 Sie mag das Verfassen eines Gesetzes oder eines Buches, das Urteilen, Reden oder das Malen eines einschlägigen Bildes steuern, das gerade in den sog. vormodernen Gesellschaften ein besonders wichtiger Beitrag zur Kommunikation über Recht sein kann; natürlich stellen sich je nach Zeit und Art der reproduzierten Kommunikation eigene Anforderungen – die Reproduktion einer komplexen Theorie oder hochtechnischen juristischen Dogmatik durch oft in der »Ausgangskultur« geschulte Experten dürfte fast einer Implementierung derselben Theorie gleichen.278 Doch dürften dies statistisch eher die Ausnahmefälle – und auch diese nicht vor Verzerrungen im Verstehensprozess sicher sein; auch bleibt die Frage nach dem weiteren Schicksal dieser »Rezeptionen« meist ungestellt.279 Wichtiger ist, dass sich nur aus der von der kleinsten Einheit aufsteigenden Perspektive auch das living law erfassen lässt, das beim Blick »von oben« oft unsichtbar bleibt – und das seinerseits zwar auch nur eine Auswahl aus den normativen Optionen ist, die in der europäischen Vormoderne und vielleicht auch in anderen historischen Situationen zur Verfügung standen, das aber sonst oft im toten Winkel unseres regelgeleiteten Blicks bleibt. Auch dürften wir auf manche die Selektionsprozesse steuernde normative Sphären aufmerksam werden, etwa weltanschauliche oder religiöse Überzeugungen, und wir bleiben nicht von den intentional gebundenen Selbstbeschreibungen der Akteure und deren politischer Sprache gefangen; das dürfte gerade im Fall der oft in politischen Kontexten stehenden Rechtsreformen durch Bezugnahme auf ausländische Normen besonders wichtig sein.280 Gerade im interkulturellen Raum ist es schließlich von entscheidender Bedeutung, dass wir bei der Rekonstruktion von Aneignungspro | zessen nicht auf der Ebene der Begriffe verbleiben, sondern uns die Lebenskontexte erschließen, für die die Normen erzeugt werden; nur eine solche kasuistische, notwendig lokal gebundene Perspektive könnte helfen, die interkulturelle Differenz im Begriffsverständnis kleiner werden zu lassen.
Bei der Suche nach einer Methode, die sich gerade für eine Analyse von inter- oder transkulturellen Aneignungsprozessen eignet, stellt sich ein zusätzliches Problem – nämlich wie wir das, was wir nach dem erfahrungswissenschaftlichen Rechtsbegriff als »Recht« ansehen, also nach der oben genannten Definition in einen Kontext z.B. von justiziellen Institutionen setzen, von anderen Formen der Normativität abgrenzen; genauso müssen wir uns fragen, inwieweit die eben zusammengefassten, aus der westlichen Rechtstheorie stammenden Analysen interkulturell gültig sind – und welche transkulturell verwendbare Terminologie uns überhaupt für die Kommunikation über Normativität zur Verfügung steht.
Das sind Fragen, die in der gegenwärtigen Debatte um die Herausbildung von globaler Normativität intensiv diskutiert werden, oft unter dem Stichwort des Legal Pluralism.281 Brian Z. Tamanaha hat jüngst einen Vorschlag für einen pragmatischen Rahmen der Verständigung über pluralistic socio-legal arenas vorgelegt. Dieser scheint mir auch für die rechtshistorische Rekonstruktion von inter- bzw. transkulturellen Austausch- und Aneignungsprozessen geeignet zu sein; auch für die Beschreibung der in den europäischen vormodernen Gesellschaften bestehenden Rechtsvielfalt könnte er hilfreich sein. Tamanaha erhebt dabei ausdrücklich nicht den Anspruch, eine Theorie inter- oder transkulturellen Rechts aufzustellen, sondern bietet eine ebenfalls aus erfahrungswissenschaftlichen Zugängen gewonnene unscharfe Unterscheidung verschiedener Felder von Normativität. Er nennt: Official legal systems; Custormary/Cultural normative systems; Religious/Cultural normative systems; Economic/Capitalist normative systems; Functional normative systems; Community/Cultural normatve systems.282 Hinsichtlich des status dieser Arenen betont er: »They overlap, there are borderline cases, different lines could have been drawn, and different categories could have been created. The value of this framework depends entirely upon whether it offers a useful way to approach, study, and understand situations of legal pluralism.«283 Ein interessantes, interkulturell validiertes Modell verschiedener Formen von Normativität hat über Jahre hinweg auch Werner Menski entwickelt.284
Ohne hier über ein schlichtes Benennen dieses analytischen Potentials hinausgehen zu können, scheint mir, dass auch eine rechtshistorische Analyse sich solcher Differenzierungen bedienen kann, um den zentralen Gegenstand ihres Interesses, juridische Normativität, in das Feld anderer Normativitäten einzuordnen. Sie dürften eine Möglichkeit bieten, den aus unserem europäischen Verständnis formulierten erfahrungswissenschaftlichen Rechtsbegriff für interkulturelle Kontexte zu flexibilisieren; vielleicht können sie sogar anregend für unsere eigenen Arbeiten zu vormodernen Formen der Rechtsvielfalt in Europa sein.
Ein dritter Ausgangspunkt muss darin liegen, dass wir eine Heuristik entwickeln, die uns hilft, das Spezifische des Aneignungs- und Reproduktionsgeschehens in Bezug auf Normativität fruchtbar zu analysieren. Mir scheint hier wegen der sprachlichen Gebundenheit des Rechts und wegen der konzeptionellen Priorisierung lokaler Praktiken der Ansatz der in den letzten Jahrzehnten als Cultural Translation ausgeformten Translationswissenschaften vielversprechend (9.3). Diese Vorstellung bietet einige Vorteile gegenüber den Konzepten von »Rezeption« (9.1), »Legal Transplants« und »Legal Transfer« oder »Transfer« (9.2) und kann diese m.E. sinnvoll ergänzen.
Vor allem die Vorstellung der »Rezeption« dürfte heuristisch erschöpft sein. Schon vor einigen Jahrzehnten hatte man den Terminus kritisiert, | zum Teil sogar verwerfen wollen;285 Wieacker gab ihm dann, wie erwähnt, eine ontologische Dimension.286 Trotz – oder gerade wegen – der auf dieser materialen Füllung beruhenden überragenden Bedeutung für das Selbstverständnis der Disziplin ist konzeptionell sehr viel ungeklärt. Es gebe keinen einheitlichen Begriff, heißt es in dem wohl vollständigsten Forschungsüberblick.287 Dieser zeigt auch den Theoriebedarf: Die Rezeption erscheint als »ein lange andauernder, schleichender und nahezu lautloser Rechtsakkulturationsprozeß«,288 alle Arbeiten stünden noch immer auf den von Wieacker und Coing gelegten Fundamenten.289 Die Rezeption sei »kein Einzelakt, sondern die ›Summe unzählbarer Handlungen‹, vielschichtiger ›Ereignisse und innerer Vorgänge‹«, wird unter Verweis auf Wieacker hervorgehoben, bevor das Curtius-Zitat folgt, das Genzmer schon 1961 in der Einleitung des IRMAE verwandt hatte.290
Gerade in der ontologischen Hypothek und in der geringen Operationalisierbarkeit der Vorstellung von »Rezeption« liegt eine wesentliche Beschränkung ihrer Brauchbarkeit für die Analyse der normativen Verflechtungsprozesse – innerhalb und jenseits von Europa. Eine konzeptionelle Auseinandersetzung mit den rezeptionstheoretischen Modellen, die in den 70er Jahren in den Geistes- und Sozialwissenschaften intensiv diskutiert worden sind, hat es nicht wirklich gegeben – trotz zahlreicher Einzelstudien,291 deren Differenziertheit sich aber nicht in eine kohärente Terminologie oder Kasuistik dazu umgesetzt hat, was bei dem »Akkulturationsprozess« tatsächlich geschieht Die reifizierende und diffusionistische Prägung der historiographischen Tradition zur Rezeption hat bei vielen Untersuchungen vielmehr dazu geführt, dass bei aller Betonung der Bedeutung des »Rezipienten« letztlich doch die Vorstellung leitend ist, dass mit dem Recht »etwas« übertragen wird. Zudem insinuiert der Begriff der »Rezeption« auch das Bild einer eher passiven Entgegennahme und fördert textsubstanzialistische Rekonstruktionen – obwohl es uns doch um die kreativen Produktionsprozesse und ihre Bedingungen gehen muss. Die Rezeptionssemantik trägt deswegen in europäischen Kontexten an ihrer eigenen problematischen Verwendung zur Beschreibung eines irgendwie metaphysisch-teleologischen Prozesses – und ist für nicht-europäische Kontexte zu einem Synonym für die gerade zu überwindende »Wirkungsgeschichte« geworden.
Auf die Beschreibung und Analyse der Übertragung von Recht von einer Ausgangs- in eine Zielkultur zielen auch die intensiv diskutierten Vorstellungen von »Legal Transplant« und »Legal Transfer.292 Seit den 70er Jahren hat man sich für diese Phänomene der Übertragung von Modellen in zunehmendem Maße interessiert, vor allem in der Debatte um die von Alan Watson entwickelte und seitdem und noch immer kontrovers diskutierte Theorie der Legal Transplants.293
Auch hier ist der Entstehungskontext nicht unwichtig für die Ausprägung der Konzepte. So stand hinter der Vorstellung von Legal Transplants zunächst ein primär modernisierungstheoretisches Anliegen, ging es Watson doch darum, Legal Transplants als Mittel zur Entwicklung von Gesellschaften zu propagieren. Nicht alle, die mit dieser Terminologie operierten, übernahmen zwar den gesamten theoretischen Apparat; oft dürfte »Transplant« schlicht eine modern scheinende Formulierung für das gewesen sein, was man lange »Rezeption« genannt hatte. Auch Kritik an dieser Vorstellung blieb nicht aus: Gewichtige Stimmen verwiesen auf die Unmöglichkeit erfolgreicher Transplants, gerade mit dem Hinweis auf die historische Spezifität aller Rechtsentwicklung. Seitdem wird mit verschiedenen Schattierungen die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Übernahme von Rechtsnormen aus einem Entstehungskontext und deren Wirkung in einem anderen gestritten. Häufig wird | auch von »Transfer« gesprochen, von der »circulation of legal models«. »The terminology of the field is still surrounded by some uncertainty«, heißt es.294
Was im Einzelnen aber bei der Übertragung von Recht in ein anderes Umfeld geschieht, wurde wegen der Konzentration auf die systemische Wirkung von Transfer und Transplant nur wenig diskutiert. Die Polarisierung zwischen zwei Extremen – einer ebenfalls reifizierenden Tendenz der Legal Transplant-Theorie und einer radikalen Leugnung aller Möglichkeit von Übertragung aus dem historisch-kulturellen Entstehungskontext – hat dazu geführt, dass an einer Heuristik des Aneignungsgeschehens und besonders der sie bedingenden Faktoren nicht gearbeitet wurde; eine gewissse Neigung zur Reifizierung ist auch der Transfer- und Transplant-Terminologie zu Eigen, zumal sie ebenfalls nicht selten im Kontext von Normenexportstudien benutzt wird.
Auch Systemtheorie sowie eine systemtheoretisch geleitete Rechtsgeschichte haben sich mit dem Transferkonzept beschäftigt. Dem eigenen Anliegen entsprechend fragte man allerdings auch hier vor allem nach der Wirkung von Transferprozessen auf das Rechtssystem. Unterschiedliche Entwicklungspfade der Rechtskulturen machten, so Marie Theres Fögen und Gunther Teubner in der Rg, eine glatte Übernahme von Rechtsbegriffen unmöglich.295 Die Unverträglichkeit von Rechtskulturen führe bei Transplantationsprozessen nicht selten zu »Immunreaktionen«; insoweit teilte man die transplant-pessimistische Perspektive. Hinter dieser Skepsis steht die Theorie eines evolutiven Prozesses von Recht, der zwar strukturell auf Austausch angelegt und Inkorporation von Einflüssen von außen gegenüber offen ist, dann aber wieder zur Ausbildung eigenständiger Rechtskulturen führt.296 Genau deswegen ist der Vorstellung eines »Transfer« aus dieser Perspektive auch eine gewisse Grenze gesetzt. Denn letztlich werden die von außen kommenden Botschaften einem grundlegenden Prozess der »Resignifikation« unterzogen; andere soziologische Theorien sprechen von einer Verankerung in lokalen Kontexten über Prozesse der Imitation.297 Wo die Grenze aber liegt, wie sich ein Transferprozess gestaltet, lasse sich, so Fögen und Teubner, allgemein kaum sagen. An diesem Punkt braucht die Systemtheorie die Rechtsgeschichte: »Es gibt keinen Rechtstransfer, es gibt nur unterschiedliche Grenzüberschreitungen bei der Resignifikation von Rechtsnormen. Und diese unterschiedlichen Grenzüberschreitungen im Detail zu analysieren – darauf wird es in Zukunft ankommen.«298 Die für eine solche detaillierte Analyse der Aneignungs- und Resignifikationsprozesse notwendige Heuristik hat die systemtheoretisch inspirierte Rechtsgeschichte selbst allerdings nicht mehr und noch nicht zur Verfügung gestellt.
Genau darauf zielen die im letzten Jahrzehnt aus einem breiteren Feld kulturwissenschaftlicher Forschungen, vor allem der Kulturtransferforschung und der Übersetzungswissenschaft, hervorgegangenen translationswissenschaftlichen Ansätze.299 Ihnen geht es darum, die intersubjektive Übertragbarkeit von Zeichen- und Sinnträgersystemen und die Voraussetzungen und Wirkungsweisen von sprachlichen oder auch nicht-sprachlichen Transferprozessen mit ihren kognitionswissenschaftlichen und linguistischen Implikationen zu analysieren. Selbst wenn man nicht alle transkulturellen Studien gleich als ein Translationsproblem sehen will,300 dürfte es schon im Blick auf die oben skizzierte sprachliche Konstitution unseres Gegenstands »Recht« einleuchten, dass ein sprach- und kulturwissenschaftlich informierter Zugang unent | behrlich ist – und geradezu erkenntnisleitende Funktion haben muss, wenn es sich um transkulturelle Kontexte handelt.301
Für die Rechtsgeschichte der Frühen Neuzeit und Moderne könnten die Bemühungen besonders interessant sein, begriffsgeschichtliche und translationswissenschaftliche Perspektiven zusammenzuführen. Peter Burke hat hier die Vorstellung einer Cultural Translation entwickelt.302 Er sieht in ihr einen zentralen Baustein zu einer modernen Kulturgeschichte,303 greift dabei auf den aus der anthropologischen Forschung stammenden, später auch von anderen Disziplinen übernommenen Gebrauch von »Translation« zurück und konzentriert sich auf die im interkulturellen Kontakt zu leistende kulturelle, auch sprachliche, aber eben nicht allein sprachlich gebundene Übersetzung.304 Unter Bezug auf dieses Konzept der Translation oder jedenfalls mit besonderer Aufmerksamkeit für diese Translationsprozesse sind in den vergangenen Jahren verschiedene historische Studien erschienen, die – etwa zum Austauschgeschehen mit Japan und China305 – die Aneignungsprozesse im Bereich von Normativität detailliert und mit besonderer Aufmerksamkeit für die jeweiligen Translationsprozesse beschrieben haben.
Ich sehe große Chancen in dieser Heuristik. Der Ansatzpunkt bei den im Bereich des Rechts ganz überwiegend sprachlich gebundenen Translationsprozessen macht uns nicht allein auf die Bedeutung des Prozesses des Übersetzens aufmerksam; er zwingt uns geradezu zu einer besonderen Sensibilität für Fragen der historischen Semantik, die für die Rechtsgeschichte fundamental ist. Er hat vor allem den Vorteil, dass die Rekonstruktion zwangsläufig im Kontext der sozialen Praktiken stattfinden muss; die Heuristik priorisiert die lokale Situierung, translinguale Aspekte und praxeologische Fragestellungen306 und arbeitet damit der oben (8) vom Recht her begründeten Priorisierung des Lokalen zu. Sie hilft, neben dem impliziten Wissen auch die institutionellen Kontexte und symbolisch-rituellen Geltungsgarantien zu erschließen, die medialen Bedingtheiten und Formen, in denen sich das Bedeutungssystem »Recht« materialisiert.307 Die kulturellen Konnexionen, deren Bedeutung nicht nur die allgemeine historische Methode, die Sprachwissenschaften, sondern auch sozialwissenschaftliche und rechtstheoretische Analysen der Rechtserzeugungsprozesse unterstreichen, könnten über die Heuristik der Cultural Translation deswegen vielleicht auf besonders fruchtbare Weise erfasst werden; sie wäre eine Heuristik, die einen empirischen Weg dazu weisen könnte, Recht auch rechtshistorisch als Teil der Kultur zu rekonstruieren. Woher der Text, der reproduziert wird, kommt, ist damit nur noch von nachgeordneter Bedeutung.308
Dass die Rechtsgeschichte insgesamt geradezu als ein großer diachroner Translationsprozess angesehen werden kann,309 verleiht der Heuristik noch einen zusätzlichen Reiz – und mag auch für die europäischen normativen Verflechtungsprozesse manche analytische Chance eröffnen, indem sie uns gezielt und nicht nur vereinzelt und eher zufällig auf die Bedingungen der Translation von Normativität aufmerksam macht. Nicht unproblematisch dürfte allerdings die im Umfeld dieser kulturwissenschaftlichen und postkolonial inspirierten Forschung festzustellende Tendenz sein, die Welt in ein Meer von Hybridbildungen, Mestizierungen, Amalgamierungen etc. aufzulösen.310 |
Um so wichtiger ist die Frage, ob und wie es möglich ist, nicht bei einem »Buchstabieren von Einzelerscheinungen«, dem Konstatieren allgegenwärtiger Hybridbildungen oder der Formel der »Glokalisierung« stehen zu bleiben, sondern die Fülle der Beobachtungen aus der Perspektive des Lokalen – und auch die Translationen der aus einem anderen Entstehungskontext stammenden, vielleicht sogar »global« zirkulierenden Autoritäten – in einen sinnvollen makrohistorischen Rahmen einzufügen.
Ein solcher Bezugsrahmen kann auf unterschiedliche Weise definiert werden. Auch hier betreten wir ein in den letzten Jahren (wieder)entdecktes Feld. Es betrifft die lange Zeit als unvereinbar dargestellten (kontrastiv-)vergleichenden und auf die Rekonstruktion von Verflechtungen zielenden analytischen Traditionen in den Geschichtswissenschaften. Letztlich brauchen beide einen Bezugsrahmen – vor allem bedarf jeder kontrastierende Vergleich auch einer beziehungsgeschichtlichen Reflexion, erst recht in Zeiten intensiver Kommunikation.311 Im Bereich der rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung wird das Problem in der Rechtsvergleichung diskutiert,312 Historiker schreiben vom spatial turn, und von rechtsethnologischer und sozialwissenschaftlicher Seite wird ein Mapping the law oder auch Spatializing Law diskutiert;313 auch diese für eine Rechtsgeschichte in globalhistorischer Perspektive wichtigen Diskussionen kann ich nur andeuten.
Der Bezugsrahmen mag gerade für die Rechtsgeschichte gelegentlich, wird aber sicher nicht stets und auch nicht unmittelbar ein räumlicher sein. Die ihn konstituierenden Kriterien müssen gerade für die Frühe Neuzeit und Neuzeit andere sein. Für die rechtshistorische Analyse dürfte dabei der Rückgriff auf die Weber’sche Typenbildung naheliegen.314 Diese darf allerdings gerade nicht von apriorischen Grundannahmen über Kultureinheiten ausgehen – es sind vor allem die schmale empirische Basis und die in mancher Hinsicht eurozentrischen Spiegelungen, die Weber bei seinen Kontrastierungen leiteten, in denen heute der wesentliche Kritikpunkt an den Ergebnissen seiner universalhistorischen Konstellationsanalysen liegt315 und die auch andere Formen des kontrastierenden Vergleichs in die Kritik gebracht haben.316 Auch hier dürfte nur ein dezentrales Forschungsdesign vor eurozentrischen Fallen schützen – eine der steten Forderungen globalhistorischer Programmatik.
Was Grundlage der Typenbildung sein soll, lässt sich nicht allgemein definieren.317 Doch dürften nicht zuletzt die im Prozess der Cultural Translation von Normativität beobachteten sozialen Praktiken und Autoritäten ein wichtiger Ansatzpunkt sein; hier könnte sich das Potential einer kulturwissenschaftlich reflektierten Heuristik der Translationsprozesse auch für die Synthese eines Bezugsrahmens realisieren. Man mag die Gesamtheit oder | einen Ausschnitt der Bedingungen, unter denen ein Translationsprozess stattfindet, dann wiederum als »Rechtskultur« bezeichnen. Dieser schillernde und vielfach ebenfalls zu Essentialismen verführende Begriff birgt allerdings die Gefahr, selbst Einheiten vorzutäuschen, die es gerade erst zu rekonstruieren gilt – es sei denn, man könnte ihn, wie es auch versucht wird, durch eine konsequente Analyse des Rechts als Kultur hinreichend explizieren. Er mag so als Hypothese für einen Bezugsrahmen dienen, die in detaillierten Studien zu überprüfen ist.318
Viele Indizien für die Bedingungen, die bei der Cultural Translation von Normativität wichtig werden, und damit ein erstes Raster zur Auswahl von Vergleichsgruppen zur Typenbildung hat die rechtshistorische Forschung bereits zur Verfügung: die Zugehörigkeit zu einer politischen Einheit, etwa aufgrund imperialer oder kolonialer Herrschaft oder Vergangenheit; zu einer Sprachgemeinschaft; zu einer Institution, etwa einer Kirche oder Glaubensgemeinschaft; zu einer Profession; zu einem Raum spezifisch verdichteter Kommunikation, wie es einige global cities etwa im Atlantikraum gewesen sein mögen; die für Normsetzungsprozesse zur Verfügung stehenden Texte, Übersetzungen, Wissenschaftleraustausch etc. Gerade die intensive Forschung zu (rechts)historischen Verflechtungsprozessen wird hier zu einem wichtigen Ausgangspunkt für vergleichende Studien. Auch in Modellbildungen über integrative Faktoren für bestimmte Regionen – etwa das »Modell institutioneller Integration«, das auf Strukturen und Institutionen achtet, oder das »Kommunikationsmodell«, nach dem sich Europa als ein durch Medien geschaffener und gestützter Kommunikationsraum begreifen lässt319 – können Ansatzpunkte für eine Hypothesenbildung sein, die am Beginn jeder Typenbildung steht.
Gerade im Fall der über Europa hinausgehenden Bezugsrahmen dürfte es besonders wichtig sein, auf konsequent dezentrale Typenbildung zu achten, d.h. diese nicht aus einem »europäischen« Vorbegriff abzuleiten.320 Über diese Typen könnten Einheiten gebildet werden, die sich im Raum abbilden mögen, bei denen die Lage der Orte im Raum wahrscheinlich auch eine Rolle gespielt haben dürfte, die aber nicht unmittelbar räumlich bedingt sind – also nicht geographische, sondern kulturgeographische Räume; manches, was als mapping the law bezeichnet wird, ist nichts anderes als das. Die Feststellung von nicht kontrastiven, sondern abgeschichteten, ineinander übergehenden Geschichtsregionen – einem weiteren großen, in den letzten Jahren intensiv diskutierten und hier nur zu benennenden Problem – muss aber in jedem Fall das Ergebnis, sie darf nicht der Ausgangspunkt der Forschung sein. Das unterscheidet die historisch-empirische Arbeit an diesen Bezugsrahmen auch von den oft von Geltungsvorstellungen aus dem 20. Jahrhundert getragenen, tendenziell legalistischen und auf Komplexitätsreduktion ausgerichteten Einheitsbildungen der Rechtsvergleichung, etwa den Rechtskreisen oder Rechtsfamilien.321 Die in den letzten Jahren intensiv geführte Debatte über die soziale Konstruktion von Räumen hat für die Versuchung sensibilisiert, aus der Gegenwart stammende Raumvorstellungen leichtfertig in die Geschichte zurückzuprojizieren. Vor allem hat sie aber auf die Notwendigkeit der Rekonstruktion historischer – also etwa topologischer – Raumvorstellungen, die daraus resultierenden spezifischen Handlungs- und Wahrnehmungshorizonte sowie auf die Bedeutung der Vorstellung der Akteure, zu einer bestimmten räumlichen oder kulturellen Einheit zu gehören – es mag diese Einheit tatsächlich gegeben oder auch nicht –, aufmerksam gemacht. Solche Zuschreibungsprozesse können große wissensorganisatorische und handlungsleitende Kraft haben und mitunter handfeste Realitäten produzieren.
Die Europäisierung Europas dürfte ein solcher Fall sein.322 Die zunehmende Präsenz Europas als kulturelles Referenzsystem seit dem 16., 17., brei | ter dann im 18. Jahrhundert und die Kohärenzwirkung dieser Europäisierungsprozesse ist vielfach beschrieben worden323 – sie wurden natürlich stimuliert durch die europäische Expansion und die damit einhergehende »Mundialisierung«. Im Blick auf die Weltkarten, Globen und Allegorien der Erdteile begriff man sich selbst als Einheit. Auch Juristen haben – oft in der Begegnung mit nicht-europäischen Kulturen – diese Vorstellung eines Rechtsraumes »Europa« beschrieben und damit an seiner Realisierung performativ mitgewirkt; im Blick auf das Osmanische Reich schärfte sich zum Beispiel die Idee eines »europäischen Völkerrechts«, im Gespräch mit japanischen Juristen die Vorstellung einer europäischen Rechtsgeschichte.324 Hier gibt es noch viel zu erforschen – nicht zuletzt die Geschichte der Europäisierung der nationalen Rechte. Noch die im Umfeld der Begründung der »Europäischen Rechtsgeschichte« als Disziplin aufscheinende Europabegeisterung vieler Juristen der 50er und 60er Jahre, die Dynamik der von Appellen an europäische Werte begleiteten rechtlichen Integration der 90er Jahre oder die bewusste Symbolpolitik der Gegenwart sind Teil dieser Konstruktion eines Rechtsraumes und damit der »Europäisierung Europas«. Neben die Rekonstruktion von Typen oder Rechtsgeschichtsregionen als Ergebnis einer Fülle von Einzelstudien tritt damit eine Rechtsgeschichte der Europäisierung des Rechts in Europa. Auch sie muss in ganz besonderer Weise auf die Prozesse der Identitätszuschreibung durch Fremderfahrung – und damit globale Kontexte Bezug nehmen.
Schon dieser tentative Überblick über mögliche Ausgangspunkte einer Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive mag gezeigt haben, dass es sich um ein durchaus ambitioniertes Programm handelt. Dabei konnten viele Anwendungsfälle nur angedeutet werden – zum Beispiel die einer »Rechtsgeschichte von Normativität in der Globalisierung«. Diese könnte sich nicht nur der Geschichte der Verbreitung, sondern dezidiert den lokalen Reaktionen auf diese globalen Einflüsse und deren Folgen für die jeweiligen Systeme widmen und so gerade das Nebeneinander von Diffusions- und Fragmentarisierungsprozessen, letztlich also das Spiel von Lokalem und Globalem im Recht beobachten. Die analytischen Chancen dieser Perspektive für die Rekonstruktion normativer Systeme mit universalem Anspruch und globaler Präsenz wie dem frühneuzeitlichen und neuzeitlichen katholischen Kirchenrecht und der mitihm auf das Engste verbundenen moraltheologisch-philosophischen Rationalität, verkörpert etwa durch die »Schule von Salamanca«, dürften auf der Hand liegen; es ist eine Geschichte, die bisher eigentlich fast nur aus Europa heraus oder europäisierend und der Rechtsquellentheorie folgend als Geschichte des Universalen und Partikularen erzählt wurde – die in globaler Perspektive aber deutlich andere Gestalt annehmen dürfte.
Das sind große Herausforderungen. Doch können wir auf einer Fülle von rechtshistorischen Studien und eine lebendige Debatte in den Sozial- und Historischen Geisteswissenschaften aufbauen. Die große Herausforderung besteht darin, diese Forschungen in einen konzeptionellen Rahmen einzufügen, der heuristisch fruchtbar ist und eine dezentrale Konzeptualisierung zulässt. Einen ersten Anstoß zu einer Debatte darüber, wie dieser Rahmen aussehen könnte, wollte ich mit diesen Ausführungen geben. Sie versuchen, der Transnationalen Rechtsgeschichte einen Perspektivenwechsel zum Lokalen vorzuschlagen, aus dessen Horizont heraus die Rechtserzeugungsprozesse mit Hilfe einer kulturwissenschaftlich geschärften Heuristik erfasst und über Typenbildung in einen Bezugsrahmen eingefügt werden – und bis hin zur Beobachtung von Normativität in der Globalisierung gehen mögen. Es geht, das macht es so schwierig und so wichtig, dabei um elementare, intensiv diskutierte Fragen der rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung. |
Auch in der Rechtsgeschichte selbst ist ein solcher, weit über Europa hinausgehender Ansatz keineswegs neu. Versuche einer universalen Rechtsvergleichung oder auch einer Universalrechtsgeschichte hat es immer gegeben – an vieles davon werden wir nicht anknüpfen wollen. Doch es gibt auch andere, vorsichtig vergleichende Traditionsstränge. Selbst in den Zeiten der Europa-Euphorie gab es Stimmen, die trotz aller Bedenken gegenüber universalhistorischen Versuchen und flüchtiger Komparatistik auf die Notwendigkeit einer solchen, auch die nicht-europäischen Regionen erschließenden Rechtsgeschichte hinweisen. Als man vor gut 50 Jahren Gutachten über die Gründung des Max-Planck-Instituts einholte, schrieb Karl S. Bader, dass bei der Forschung eines zukünftigen Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte auch »der Rechtsentwicklung bisher vernachlässigter Staaten und Völker, etwa der arabisch-afrikanischen Gruppe, und zwar nicht unter dem Gesichtspunkt der »Primitivforschung« und reiner juristischer Ethnologie, grösseres Gewicht beizulegen sei«. Und der – wie wohl nur wenige Kollegen seiner Zeit mit beiden Beinen im Leben stehende – Zürcher Rechtshistoriker mahnte zu Mut: »Nach der Frage, ob es sich bei der […] Ausweitung […] um ein utopisches Gebilde handelt, habe ich mich bewusst nicht gerichtet. Wie der Gang unserer wissenschaftlichen Entwicklung zeigt, ist die Utopie von heute der Zustand von morgen.«325 Dieses »morgen« ist inzwischen wohl unser »heute«.