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26.08.2013 | Umwelt | Interview | Online-Artikel

Den Radverkehr fördern – eine Gemeinschaftsaufgabe

verfasst von: Günter Knackfuß

9 Min. Lesedauer

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Die verkehrspolitischen Leitbilder sind im Wandel begriffen. Das Radfahren ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Der Radverkehr liefert mit seinen Effekten auf die Umwelt, das Klima, die Lebensqualität in den Kommunen sowie die Gesundheit Beiträge zu vielen aktuellen und künftigen gesellschaftlichen Herausforderungen. Im Interview mit Springer für Professionals Dipl.-Volkswirt Tilman Bracher vom Deutschen Institut für Urbanistik (difu).

Springer für Professionals: Warum kommt unsere Gesellschaft am Fahrrad definitiv nicht mehr vorbei?

Tilmann Bracher: Mit dem Fahrrad lassen sich mit vergleichsweise geringem Finanzaufwand einige der drängendsten Probleme unserer mobilen Gesellschaft lösen. Die Förderung des Radverkehrs kommt allen Menschen zugute, auch denjenigen, die überwiegend das Auto nutzen oder zu Fuß gehen. Wettbewerbe und Städteumfragen belegen, dass Städte, Gemeinden und Regionen mit hohen Radverkehrsanteilen besonders lebendig und lebenswert sind. Lebensqualität ist ein zentraler Standortfaktor im kommunalen Wettbewerb um Bewohner, Fachkräfte und als Wirtschaftsstandort. Im Kosten-Nutzen-Vergleich erweisen sich Maßnahmen der Radverkehrsförderung als besonders effektiv. Oft ist es mit relativ geringen Mitteln möglich, zum Beispiel durch Markierungen von Schutzstreifen auf der Fahrbahn, die Infrastruktur zu verbessern.

Welche Entwicklung hat denn der Radverkehr in den letzten Jahren genommen?

In Deutschland hat der Radverkehr zwischen 2002 und 2008 um 17% zugenommen. In einigen Städten aber deutlich mehr: Der Anteil der Wege, die beispielsweise in München mit dem Rad gefahren werden, ist von 6 Prozent im Jahr 1996 auf 17 Prozent (2011) gestiegen. In Frankfurt am Main ist deren Anteil zwischen 1998 und 2008 von 6 auf 14 Prozent angewachsen, und in Rostock stieg er innerhalb von zehn Jahren von 9 Prozent auf 20 Prozent. In Berlin hat sich der Radverkehr seit der Wende mehr als verdreifacht (vor 1989: West-Berlin 6%, Ost-Berlin 3%, 2008: 13%), bei weiter steigender Tendenz.

Das Fahrrad wird also ein wichtiger Teil unserer modernen Mobilität. Welche Tendenzen hat ihr Institut festgestellt?

Die verkehrspolitischen Leitbilder sind im Wandel begriffen; das Radfahren ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. In den meisten Gemeinden gibt es mittlerweile einen politischen Konsens zur Radverkehrsförderung. Das Fahrrad wird zum zentralen Bestandteil einer Mobilitätskultur, welche die Autonutzung auf die wirklich notwendigen Fahrten beschränkt und die Funktion von Straßen und Plätzen als Lebensraum in den Mittelpunkt rückt. Noch nie war die Bereitschaft höher, vom Auto aufs Fahrrad umzusteigen. Für den öffentlichen Verkehr fungiert das Fahrrad als Zubringer und Abbringer in Verbindung mit Abstellstationen, Fahrradmitnahme und Fahrradverleih. Im ländlichen Raum kann das Fahrrad auch den im Zuge rückläufiger Schüler- und Einwohnerzahlen bedrohten Nahverkehr in der Fläche stärken.

Deutschland hat sogar einen NRVP, einen Nationalen Radverkehrsplan. Was kann dieser bewirken?

Mit dem NRVP bekräftigt die Bundesregierung den Stellenwert des Radverkehrs, und unterstützt alle, die sich um das Thema "Radverkehr" kümmern. Der Nationale Radverkehrsplan setzt das Ziel, den Radverkehr als "Element einer integrierten Verkehrs- und Mobilitätspolitik von Bund, Ländern und Kommunen" zu fördern, und liefert gute Argumente. Oft scheitern fahrradfreundliche Lösungen an Partikularinteressen. Radverkehr braucht ausreichend Platz. Städte, die für Autos geplant haben, haben auch Fläche für Räder. Jeder Autofahrer, der aufs Rad umsteigt, verringert den Platzbedarf für Verkehr. Gleichzeitig ist der NRVP ein moderner Leitfaden zu den richtigen Maßnahmen. Moderne Radverkehrsplanung muss alle gesellschaftlichen Schichten fürs Fahrrad gewinnen und ernst nehmen – beispielsweise die Angst vor Verkehrsunfällen, Diebstahl, einer Panne, nächtlichen Übergriffen und Regen.

Für Radfahrer wird der Straßenverkehr oft gefährlich. Was muss für mehr Sicherheit getan werden?

Zu diesem Thema wurde in Deutschland schon viel geforscht. Wir sollten gleichzeitig am Verhalten der Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer ansetzen, Infrastruktur und Verkehrsregelung und die Fahrzeuge technisch verbessern – sowohl beim Fahrrad als auch beim Kraftfahrzeug. Und es geht um subjektive Sicherheit: Wer sich auf dem Fahrrad besonders unsicher fühlt, fährt weniger Fahrrad. Radfahrerinnen und Radfahrer haben ein großes Maß an Eigenverantwortung, was das Verhalten im Straßenverkehr und die Vermeidung von Unfällen anbetrifft. Alle am Verkehr Teilnehmenden müssen durch angepasstes Verhalten zur Risikovermeidung beizutragen. Zu besonders unfallrelevanten Themen gilt es Regelkenntnis und die Durchsetzung der Regelungen bei den Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer hinter Lenkrad und Fahrradlenker zu verbessern und für defensives, vorausschauendes Verhalten im Straßenverkehr zu werben. Insbesondere die Kommunen müssen die Unfallschwerpunkte vor Ort identifizieren und entschärfen. Auf Straßen ohne Radverkehrsanlagen – gerade bei hohem Radverkehrsaufkommen sind weitere Geschwindigkeitsbeschränkungen sinnvoll, um die Sicherheit für die Radfahrenden und die der anderen VerkehrsteilnehmerInnen zu erhöhen. Helme schützen zwar vor Kopfverletzungen, aber nicht vor Unfällen. Dagegen helfen technische Verbesserungen an den Fahrzeugen. Die Hersteller von Kraftfahrzeugen entwickeln Warnsysteme (z. B. für sich öffnende Türen), Außenairbags und Systeme zur Vermeidung von Abbiegeunfällen (etwa bei Lkw). Hersteller sollten Assistenzsysteme zur Vermeidung von Abbiegeunfällen mit Lkw bereits jetzt in ihre Fahrzeuge einbauen.

Wie bei allen Projekten geht es auch ums Geld. Wie bewerten sie die gegenwärtige Situation?

Aus fahrradfreundlichen aus- und inländischen Städten weiß man, das die Städte und Gemeinden je nach Ausgangsniveau laut NRVP um einen guten Standard zu erreichen zwischen 8 bis 19 Euro pro Einwohner und Jahr benötigen. Das ist ein Vielfaches der heute verfügbaren Mittel, aber nur ein Bruchteil des Betrags, der in den Autoverkehr und in öffentliche Verkehrsmittel fließt. Die Radfahrer sind im "Kampf um Geld" noch nicht aufgestellt. Dazu kommt der Mittelbedarf von Bund und Ländern für Radwegen an Bundes- und Landesstraßen, insbesondere für die Verbreiterung und Sanierung des alt gewordenen Bestands (es gibt 19.000 km Radwege an Bundesstraßen) für zunehmende Verkehrsmengen und moderne Fahrräder (z.B. Pedelecs, Lastenräder) in Höhe von mehreren Hundert Millionen pro Jahr. Leider stehen dafür im Etat 2013 nur noch 71 Mio. € - deutlich weniger als vor 2010.

Welche Fördermöglichkeiten können von den Kommunen genutzt werden?

Neben Eigenmitteln können Kommunen auch unterschiedlichste Fördergelder einsetzen. Einen Überblick bietet die sogenannte "Förderfibel Radverkehr", die auf dem Internet-Portal zum NRVP abrufbar ist. Förderinstrumente wie der Nationale Radverkehrsplan des Bundesverkehrsministeriums oder die Kommunalrichtlinie des Bundesumweltministeriums bieten Finanzmöglichkeiten für innovative Projekte. Auch Mittel der Tourismusförderung können häufig für den Radverkehr verwendet werden. Die zentralen Finanzquellen des Bundes, Entflechtungsgesetz und Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) laufen jedoch bis 2020 aus, ohne dass es eine Nachfolgeregelung gibt. Die vielleicht entscheidendste Ressource ist aber das geschickte und wirkungsvolle Zusammenwirken aller Akteure, gerade innerhalb der Verwaltung. Viele Maßnahmen der Radverkehrsförderung können in ohnehin bereits beabsichtigte und finanzierte Vorhaben – wie beispielsweise die Sanierung des Fahrbahnbelags einer Straße – integriert werden. Dies setzt aber voraus, dass Radverkehr von möglichst vielen Köpfen mitgedacht und berücksichtigt wird.

Das difu betreibt im Internet das "Fahrradportal". Welchen Mehrwert erreichen sie damit für die Fahrradbranche?

Das Fahrradportal www.nrvp.de richtet sich vor allem an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kommunen, die Informationen rund um den Radverkehr benötigen. Dazu gehören sowohl Informationen zur Planung von Radverkehrsmaßnahmen im weitesten Sinne (seien es infrastrukturelle Maßnahmen, die Ausrichtung von Radverkehrskonzepten oder kommunikative Maßnahmen) als auch statistische Informationen zum Mobilitätsverhalten, Daten zur Verkehrssicherheit oder ordnungsrechtliche Grundlagen. Angeboten werden Neuigkeiten, Terminhinweise und Literaturquellen (zum Großteil mit Volltextdownload), Informationen zur Förderung durch den Bund und die Übersicht über die bisher geförderten Maßnahmen, eine Förderfibel zum Radverkehr, die Programmübersicht der "Fahrradakademie" und vieles mehr. Speziell die Fahrradakademie ist ein Fortbildungsangebot für Vertreter aus Kommunen. Die Informationen des Fahrradportals nützen natürlich auch weiteren Akteuren, wie z.B. den verschiedenen Verbänden (ADFC, VCD, BUND und weiteren) oder touristisch ausgerichteten Institutionen - also all denen, die im Bereich der Radverkehrsförderung tätig sind. Die Fahrradbranche im engeren Sinne gehört eher nicht zur Zielgruppe des Portals, ist dort (sowohl bei den Nutzern als auch bei den Contentzulieferern) aber ebenso vertreten. Ein noch eher zu den "neueren" Feldern gehörendes Thema sind z.B. Pedelecs oder Lastenräder im Wirtschaftsbereich, über die etwas ausführlicher berichtet wird. Das Portal ist damit aber kein "Sprachrohr" der Fahrradbranche, informiert auch nicht über konkrete technische Neuerungen, es sei denn, diese haben einen eher übergreifenden, z.B. den Rechtsrahmen oder andere Bereiche tangierenden Charakter. Ist dies der Fall, werden auch Meldungen der Fahrradbranche oder deren Veröffentlichungen im Portal und über den Newsletter bekannt gemacht und erhalten dadurch einen hohen Verbreitungsgrad, da das Portal DIE einschlägige Informationsquelle der deutschsprachigen Fachcommunity ist.

Die Tourismusbranche setzt heute auf moderne E-Bikes. Wird damit die Gesundheitsprävention nicht konterkariert?

Nein. Selbst der Einsatz von Elektrofahrrädern, die so genannten Pedelecs, welches Fahrräder mit elektrischer Trittunterstützung bis zu einer Geschwindigkeit von 25 km/h sind, erfordert Muskelkraft, um diese in Bewegung zu bringen und birgt somit alle positiven Effekte des Fahrradfahrens wie z.B. Stärkung der Muskulatur, Verbesserung der Ausdauer, Abbau von psychischen Stress etc.. Sie bieten älteren Mitbürgern die Gelegenheit bis ins höhere Alter aktiv und gleichzeitig mobil zu bleiben. Gerade die Tourismusbranche ist eine hervorragende Plattform, um "Wiedereinsteigern" oder "Wenignutzern" die Freude am Fahrradfahren, ggf. mit Hilfe von Pedelecs, aufzuzeigen, um das Fahrradfahren auch langfristig in die Alltagsmobilität zu integrieren. Der Nationale Radverkehrsplan 2020 schreibt dazu auf S. 46: "In hügeligen Gebieten oder in bergigen Regionen wird das Radfahren durch die neue Technik für breite Nutzergruppen sowohl im Alltags- als auch im Tourismusbereich attraktiv". Fahrradfahren als Gesundheitsprävention – egal ob traditionell oder verstärkt mit elektrischer Trittunterstützung – wird erst durch die Integration in den Alltag vollständig wirksam.

Durch Deutschland führen verschiedene europäische Radwanderwege. Wie werden diese genutzt?

Von Inländern und Ausländern, Aktivurlaubern und Streckenradlern. Der Fahrradtourismus ist ein bedeutendes Segment der Tourismuswirtschaft geworden. Mittlerweile durchziehen mehr als 200 überwiegend regionale touristische Radwege das Bundesgebiet. Die zwölf Radfernwege des "Radnetzes Deutschland" sind in das europäische Radfernwegenetz (EuroVelo) eingebunden. Nach der Radreiseanalyse 2013 des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) sind der Elberadweg, der Main-Radweg und der Donauradweg die drei beliebtesten Radwege Deutschlands. Mit dem Fahrradtourismus in Deutschland sind nach einer Studie des Bundeswirtschaftsministeriums rund vier Milliarden Euro an Gesamtwertschöpfung sowie mehr als 9 Milliarden Euro an Bruttoumsätzen verbunden. Dem Fahrradtourismus wurden dabei rund 153 Mio. Tagesreisen und 22 Mio. Übernachtungen zugeordnet.

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