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2009 | Buch

Politik in Mehrebenensystemen

verfasst von: Arthur Benz

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Über dieses Buch

1 Einleitung Gegenstand des vorliegenden Textes ist das Regieren in komplexen Mehre- nensystemen (multilevel governance). Mit der Einführung dieses Begriffs bricht die Politikwissenschaft mit einer lange verbreiteten Prämisse, wonach Herrschaft in der modernen Gesellschaft überwiegend in autonomen und hierarchisch - gliederten Organisationen des Regierens ausgeübt wird. Wenngleich sich dieser Perspektivenwandel lange abzeichnete und eher schleichend vollzog, kommt er erst neuerdings in Konzepten des Politischen deutlich zum Ausdruck. Multilevel governance ist eines dieser Konzepte. Einheit und Differen- Die Vorstellung, Gesellschaften würden in hierarchisch geordneten Einh- zierung im modernen ten gesteuert, hat lange Zeit nicht nur das Denken über Wirtschaftsbetriebe, Ver- Staat bände und Verwaltungen beeinflusst, die als Unternehmen oder Bürokratie - trachtet wurden, sie prägte vor allem auch die Beschreibung politischer Systeme als Staaten. Der Begriff des modernen Staates erfasst eine Vereinigung von Menschen zu einer Staatsbürgernation, die durch Selbstbestimmung die He- schaft in einem nach außen abgegrenzten Gebiet organisiert (Benz 2008: 105- 168). Dabei wurde vielfach unterstellt, der Staat konstituiere eine Einheit von Staatsgebiet, Staatsvolk und souveräner Staatsgewalt. Diese Annahme ist jedoch nicht nur theoretisch unangemessen, weil zu abstrakt, sie ignoriert auch unt- schiedliche Formen der politischen Herrschaft, die im Laufe der Geschichte entstanden. Die genannte Definition berücksichtigt nicht, dass die interne Str- tur eines konkreten Staates in territorialer und funktionaler Hinsicht differenziert ist.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Einleitung
Gegenstand des vorliegenden Textes ist das Regieren in komplexen Mehrebenensystemen (multilevel governance). Mit der Einführung dieses Begriffs bricht die Politikwissenschaft mit einer lange verbreiteten Prämisse, wonach Herrschaft in der modernen Gesellschaft überwiegend in autonomen und hierarchisch gegliederten Organisationen des Regierens ausgeübt wird. Wenngleich sich dieser Perspektivenwandel lange abzeichnete und eher schleichend vollzog, kommt er erst neuerdings in Konzepten des Politischen deutlich zum Ausdruck. Multilevel governance ist eines dieser Konzepte.
Arthur Benz
2. Ursachen von Mehrebenenpolitik
Mehrebenenpolitik wird dann relevant, wenn Aufgaben und Kompetenzen in politischen Systemen auf sich überlagernde territoriale Einheiten aufgeteilt werden und wenn die Aufgaben der einzelnen Einheiten interdependent sind (d.h. externe Effekte im weitesten Sinne auftreten), weshalb Handlungen und Entscheidungen koordiniert werden müssen. Sie entsteht also infolge von vertikaler Differenzierung eines politischen Systems und funktionaler Interdependenzen zwischen den Ebenen.
Arthur Benz
3. Theorien von Governance in Mehrebenensystemen
Mehrebenensysteme und Mehrebenenpolitik sind Gegenstand verschiedener Theorien und Forschungsbereiche. Da wir uns im Folgenden mit Governance in Mehrebenensystemen befassen, sind nur solche Theorien relevant, die Aussagen über die Zusammenhänge zwischen institutionellen Strukturen, Interaktionen und Politikergebnissen enthalten. Aus ihnen sollen Erkenntnisse darüber gewonnen werden, ob und wie in Mehrebenensystemen effektive und demokratische Politik möglich ist.
Arthur Benz
4. Analyserahmen
Alle der genannten Theorien der Politik im Mehrebenensystem sind von begrenzter Reichweite. Sie erfassen spezifische Formen von Mehrebenensystemen und konzentrieren sich auf bestimmte Forschungsfragen, sei es der Steuerungsfähigkeit bzw. Regierbarkeit, der Innovationsfähigkeit oder der Entwicklung bzw. Reform. Die Politikwissenschaft ist also noch weit entfernt von einer allgemeinen Theorie der Mehrebenenpolitik. Wenn eine Theorie dazu dient, beobachtete Prozesse und Ergebnisse zu erklären, ist angesichts der Variation von Politik in Mehrebenensystemen auch nicht zu erwarten, dass wir zu Aussagen gelangen, die einen hohen Grad an Verallgemeinerungsfähigkeit erreichen können.
Arthur Benz
5. Varianten der Mehrebenenpolitik im deutschen Bundesstaat
Der deutsche Bundesstaat gilt als das Musterbeispiel einer stark durch Blockaden gefährdeten Konfiguration eines Mehrebenensystems. Seine Verfassung weist zwei Merkmale auf, die das Regieren maßgeblich prägen und erschweren. Es verbindet einen Föderalismus, der weitgehend Entscheidungen nach den Regeln des joint decision-making erfordert, mit einem parlamentarischen Regierungssystem im Bund und in den Ländern (Lehmbruch 2000; Scharpf 1989, 1995).
Arthur Benz
6. Varianten der Mehrebenenpolitik in der Europäischen Union
Nach den hier zugrunde gelegten theoretischen Annahmen funktionieren „intergouvernementale“ Verhandlungssysteme unter den Bedingungen einer Verhandlungsdemokratie anders, als wenn sie mit einer parlamentarischen Wettbewerbsdemokratie gekoppelt sind, und der intergouvernementale Wettbewerb müsste sich eher entfalten. Prozesse der Konkordanzdemokratie beruhen auf einer Pluralität von Interessen, was Konfrontationen, wie wir sie im deutschen Parteiensystem beobachten können, verhindert oder abschwächt, und sie verlaufen nach Spielregeln, die die Kooperationsbereitschaft der Beteiligten fördern. Die Beteiligung an Entscheidungen ist in der Regel freiwillig, weshalb nur der Wille zur Kooperation den Bestand sichert und nicht-kooperationsbereite Akteure ausgeschlossen werden, sofern sie nicht zur Mehrheitsbildung benötigt werden. Regierungen können unter diesen Bedingungen in der Mehrebenenpolitik anders agieren als in der parlamentarischen Wettbewerbsdemokratie. Ebenso ist zu vermuten, dass unter den Bedingungen einer Verhandlungsdemokratie der Wettbewerb in der Mehrebenenpolitik eher zustande kommt, als wenn Regierungen in einem harten Parteienwettbewerb stehen.
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7. Dynamik der Mehrebenenpolitik I: Akteure und Interaktionsstrategien
Nachdem im theoretischen Teil dargelegt wurde, dass Mehrebenensysteme vielfach hohe Entscheidungskosten verursachen, zeigen empirische Untersuchungen zu Bundesstaaten, zur EU und zu transnationalen Mehrebenensystemen, dass kollektives Handeln und politische Entscheidungen dennoch möglich sind und keinesfalls von Unregierbarkeit gesprochen werden kann. Für den deutschen Bundesstaat, der als besonders anfällig für Blockaden gilt, und die Europäische Union habe ich in den vorangegangenen beiden Kapitel gezeigt, dass Akteure Strategien entwickeln, um die Schwierigkeiten der Mehrebenenpolitik zu bewältigen. Dadurch erreichen sie nicht nur, die Regierbarkeit unter der Bedingung komplexer institutioneller Strukturen zu sichern, sondern erzeugen auch eine Dynamik, die für Mehrebenenpolitik typisch ist. In diesem Kapitel werde ich diese Strategien und Dynamik systematisch behandeln.
Arthur Benz
8. Dynamik der Mehrebenenpolitik II: Verfassungspolitik
Die Governance-Perspektive, die den Ausführungen in den vorangehenden Kapiteln zugrunde liegt (Benz u.a. 2007), lenkt den Blick auf Steuerung und Koordinierung in Kontexten, die nur teilweise durch institutionelle Strukturen erfasst sind. In der Mehrebenenpolitik geht es um „ Grenzen überschreitende“ Politik zwischen Gebietskörperschaften und Staaten, sie findet zudem vielfach unter direkter Beteiligung von Verbänden, Unternehmen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen statt. Politik in Mehrebenensystemen überschreitet damit auch die Grenzen der Institutionen des demokratischen Regierungssystems. Allein deswegen muss davon ausgegangen werden, dass die stabilisierende und handlungsleitende Wirkung von Institutionen begrenzt ist. Die bisher beschriebene Dynamik von Mehrebenenpolitik beruht auf der Art und Weise, wie Akteure mit dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher institutioneller Kontexte umgehen.
Arthur Benz
9. Möglichkeiten und Grenzen einer demokratischen Mehrebenenpolitik
In den vorangegangenen Kapiteln wurde dargestellt, wie Politik in Mehrebenensystemen funktioniert, d.h. wie angesichts der Störungsanfälligkeit bzw. der Wahrscheinlichkeit von Blockaden politische Entscheidungen möglich sind. Indem ich auf die Notwendigkeit verwiesen habe, dass Mehrebenenpolitik innerhalb der beteiligten Gebietskörperschaften Zustimmung finden muss, habe ich implizit vorausgesetzt, dass Politik nicht einfach effektive Machtausübung bedeutet, sondern demokratisch legitimiert werden muss. Der Begriff des demokratischen Regierens sollte dies ausdrücken. Ferner habe ich Störungen nicht nur hinsichtlich der Entscheidungsfähigkeit, sondern auch der Zustimmung der legitimierten Organe oder der Betroffenen erörtert.
Arthur Benz
10. Schluss
Die Probleme demokratischer Legitimation in Mehrebenensystemen werfen drängende Fragen für die Politikwissenschaft auf, die bisher unzureichend beantwortet sind. Der vorliegende Text sollte die komplexe Problematik der Mehrebenenpolitik darstellen, den Forschungsstand bilanzieren und einen analytischen Rahmen für vergleichende Forschung umreißen. Darüber hinaus sollten Möglichkeiten und Grenzen des demokratischen Regierens in Mehrebenensystemen ausgelotet werden. Als eine wichtige Erkenntnis ist dabei festzuhalten, dass Mehrebenenpolitik unter den Bedingungen demokratischer Regierungssysteme immer Dilemmasituationen aufwirft, die in konkreten Entscheidungssituationen geeignete Interaktionsstrategien der Akteure erfordern und in normativer Hinsicht eine Abwägung zwischen Kriterien demokratischer Legitimation verlangen. Für praktische Mehrebenenpolitik ist es hilfreich, wenn die Wissenschaft auf Dilemmasituationen aufmerksam macht, diese präzise analysiert und Optionen für Auswege darlegt. Insofern kann die politikwissenschaftliche Forschung über Mehrebenenpolitik inzwischen wichtige Hilfestellungen für die Praxis bieten.
Arthur Benz
Backmatter
Metadaten
Titel
Politik in Mehrebenensystemen
verfasst von
Arthur Benz
Copyright-Jahr
2009
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-91536-4
Print ISBN
978-3-531-14530-3
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-91536-4