2000 | OriginalPaper | Buchkapitel
Gemeinschaft ohne Nähe?
Virtuelle Gruppen und reale Netze
verfasst von : Bettina Heintz
Erschienen in: Virtuelle Gruppen
Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Enthalten in: Professional Book Archive
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Der sozialwissenschaftliche Diskurs zum Internet beschert uns neue Mythen und beglückt uns mit tröstlichen Versprechen — angesichts der im südlichen Deutschland diagnostizierten Auflösung wärmender Gemeinschaften, die das Individuum ungeschützt in die unendliche Weite globalisierter Zusammenhänge entläßt, kann sich der forschende Online-Beobachter in die Geborgenheit virtueller Gemeinschaften zurückziehen, und von dort aus seinen realweltlichen Kollegen in der „Gesellschaft“ von der Rückkehr der „Gemeinschaft“ berichten. Hundert Jahre, nachdem die Klassiker der Soziologie die gesellschaftliche Zersetzung der Gemeinschaft und die irreversible Versachlichung persönlicher Beziehungen prognostiziert hatten, diagnostizieren die an ihnen geschulten Soziologen die Emergenz traditioneller Gemeinschaftsformen, sei es auch nur virtuell. Howard Rheingolds Hymne an die Herzenswärme der Mitglieder des Computernetzes WELL — ein „local village“ im südlichen Kalifornien — ist das populäre Beispiel dafür (Rheingold, 1994).2 Das Internet wird zur ultimativen Rettung vor den Folgeproblemen der Moderne — es ermöglicht Heimatgefühl trotz zunehmender Anonymisierung, Lokalität im Dickicht der Städte, persönliche Bindungen trotz Zunahme indirekter Beziehungen, und es überschreitet soziale und kulturelle Grenzen, indem es die Seelen der Menschen in dem einen weltumspannenden „globalen Dorf“ zusammenführt. Die Grundlage für diese Gemeinschaftsrhetorik ist theoretisch relativ unbedarft und empirisch nicht sonderlich fundiert. Theoretisch beruht sie auf einer nachgerade überholten Gemeinschafts-/Gesellschaftsdichtomie und empirisch auf vereinzelten Fallstudien zu virtuellen Gruppen, die trotz globalem Anspruch vor allem in den USA verankert sind.