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2011 | Buch

Extremismus in den EU-Staaten

herausgegeben von: Dr. Eckhard Jesse, Dr. Tom Thieme

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Über dieses Buch

Dieses Handbuch behandelt systematisch, vergleichbar und nach Ländern geordnet den politischen Extremismus in Europa und untersucht extremistische Politik, Parteien, Organisationen und Programme.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Einleitung

Frontmatter
Extremismus in den EU-Staaten
Theoretische und konzeptionelle Grundlagen
Zusammenfassung
Wer hätte das im Sommer 1989 gedacht ? Als vor dem Hintergrund der ökonomisch am Abgrund stehenden Sowjetunion die Schlagwörter Perestroika und Glasnost die Runde machten und erste zaghafte Reformen den maroden Staatssozialismus in Osteuropa retten (nicht abschaffen) sollten, rechneten weder die optimistischsten Beobachter im Westen noch die Bevölkerung im Ostblock mit dem baldigen Ende des so genannten „kurzen Jahrhunderts“. Der „Schwarze Freitag der Sozialwissenschaften“ (wegen der allgemeinen Verblüffung über das unvorhergesehene Ausmaß und Tempo des weithin friedlichen Wandels) wurde zur Sternstunde von Demokratie und Freiheit. Millionen Menschen stimmten auf den Straßen und Plätzen Ost- bzw. Ostmitteleuropas über ihre orthodoxen kommunistischen Eliten und damit über den Ausgang des Systemwettbewerbs ab. Im Wettstreit zwischen demokratischmarktwirtschaftlichen und diktatorisch-planwirtschaftlichen Staaten hatte sich die Idee der Freiheit gegenüber einem erzwungenen Gleichheitsanspruch durchgesetzt. Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 und die Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 wurden zum Symbol für das Ende der über vier Jahrzehnte währenden europäischen Teilung.
Eckhard Jesse, Tom Thieme

Länderporträts

Frontmatter
Extremismus in Belgien
Zusammenfassung
Die belgische Verfassung spricht sich nicht darüber aus, wie mit extremistischen Parteien oder Vereinigungen umgegangen werden sollte. Die generelle Existenz von Parteien bleibt im Verfassungstext unerwähnt. Zwischen 1831 und 1847 kannte Belgien keine Parteien; die Regierungen waren ein loses Bündnis von Katholiken und Freidenkern, die sich gegen den holländischen König aufgelehnt hatten. Die ideologischen Divergenzen, denen Parteien Ausdruck verleihen, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg von sprachgebundenen Interessengegensätzen überlagert, die im Zuge der 1970 einsetzenden Föderalisierung des Staates zur Spaltung der ehemals unitaristischen Parteien in jeweils flämische und frankophone Schwesterparteien führten. Nur strikt separatistische Parteien wie Vlaams Belang (VB) und Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) kennen keine Schwesterpartei auf der anderen Seite der innerbelgischen Sprachengrenze (zwischen Flandern im Norden und Wallonien im Süden). Das Verhältniswahlrecht und die vielen Gegensätze regionalen und weltanschaulichen Ursprungs machen absolute Mehrheiten auf Regierungsebene unmöglich. Die Bildung einer stabilen Regierung setzt eine Koalition von wenigstens zwei politischen Familien mit je zwei Parteien auf flämischer und frankophoner Seite voraus. Die großen Streitfragen mit Blick auf Kultur und Bildung, die auf die Gegensätze zwischen Flämisch- und Französischsprachigen bzw. zwischen Katholiken und Freidenkern zurückgehen, prägten den Parteienwettbewerb so stark, dass sich der Begriff der „Partikratie“ verbreitete.
Dirk Rochtus
Extremismus in Bulgarien
Zusammenfassung
Die Bestimmungen zum Verhältnis von Demokratie und politischem Extremismus finden sich in der nach den ersten freien Wahlen von der Großen Volksversammlung ausgearbeiteten Verfassung von 1991. So wird in Artikel 1, Absatz 3 festgehalten, dass sich keine Partei das Recht der Ausübung der Volkssouveränität aneignen kann. Dadurch soll die Herausbildung eines Machtmonopols, wie es bis 1989 die Staatspartei BKP (Bulgarische Kommunistische Partei) verkörperte, unterbunden werden. Artikel 11, Absatz 1 und 2 enthält ein klares Bekenntnis zum politischen Pluralismus und untersagt jede Form einer Staatspartei oder -ideologie. Weiterhin ist in Absatz 4 das Verbot von Parteien auf ethnischer, rassischer und religiöser Grundlage sowie von Parteien, die auf die „gewaltsame Übernahme der Staatsmacht“ zielen, geregelt. Die Kompetenz über ein etwaiges Parteienverbot liegt beim Verfassungsgericht, das durch seine Judikatur eine Präzisierung des vagen Begriffs der „ethnischen“ Partei im Sinne von Artikel 11 geliefert hat: So wird in der positiven Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der als „türkisch“ geltenden Partei Bewegung für Rechte und Freiheiten (Dviženie za Prava i Svobodi) ausgeführt, dass das Verbot lediglich darauf zielt, die Gründung jener Parteien zu verhindern, die Bürger aufgrund ihrer ethnischen Herkunft ausschließen.
Michael Meznik
Extremismus in Dänemark
Zusammenfassung
In der Tradition nordischer Konsensusdemokratien ist das dänische Grundgesetz (Danmarks Riges Grundlov) von 1953 minimalistisch. Es enthält keinen unabänderlichen Verfassungskern oder antiextremistischen Konsens, wiewohl eine Unantastbarkeitsklausel für das Parlament, das Folketing (Art. 34) – und damit für die parlamentarische Demokratie. Parteien verfügen in Dänemark nicht über Verfassungsrang. Sie sind „politische Vereine“ (Art. 78) und können weitgehend frei gegründet, organisiert und eliminiert werden. Indes eröffnet das Grundgesetz die Möglichkeit des Verbots politischer Vereine durch den Obersten Gerichtshof, „die sich unter Anwendung von Gewalt betätigen oder ihre Ziele durch Gewaltanwendung, Anstiftung zu Gewaltanwendung oder ähnliche strafbare Beeinflussung Andersdenkender zu erreichen suchen“ (Art. 78, Abs. 2). Ein Verbot von Parteien aus anderen Gründen ist unzulässig.
Thomas Schubert
Extremismus in Deutschland
Zusammenfassung
Die Bundesrepublik Deutschland wurde und wird stark durch die Hinterlassenschaft der NS-Diktatur geprägt, ebenso, wenngleich weniger, durch die der SED-Diktatur. Zwei Buchtitel zur deutschen Geschichte nach 1945 fangen gut die Traumata der Deutschen ein. Die Wendung „Nach der Katastrophe“ ist nicht nur temporal, sondern auch kausal gemeint. Sie spielt darauf an, dass Hitler bei vielen Debatten und Entscheidungen eine Art steinerner Gast ist. Die Anhänger wie die Gegner des Extremistenbeschlusses von 1972 zur Fernhaltung von Extremisten aus dem öffentlichen Dienst beriefen sich auf die historischen Erfahrungen: Die einen warnten vor staatlicher Laxheit mit Blick auf die abwehrschwache Weimarer Republik, die anderen vor staatlichen Exzessen mit Blick auf das NS-Unrechtsregime. Und die „Suche nach Sicherheit“ erscheint deswegen als ein wichtiges Element der zweiten deutschen Demokratie, wobei dieser Schlüsselbegriff höchst unterschiedliche Facetten besitzt, militärische, politische, kulturelle und wirtschaftliche. Allerdings ist auch Wandel eingetreten, zumal durch die deutsche Einheit. So hat sich das Verhältnis zu den nationalen Symbolen allmählich normalisiert, ist weniger verkrampft geworden.
Eckhard Jesse
Extremismus in Estland
Zusammenfassung
Nach der wiedererlangten staatlichen Eigenständigkeit Estlands am 21. August 1991 erarbeitete eine verfassungsgebende Versammlung aus dem Obersten Sowjet und dem als Gegenparlament gegründeten Estnischen Kongress eine neue Verfassung. Daraus entstand in Estland eine parlamentarische Demokratie, die auf der Unabhängigkeitserklärung und dem „Frieden von Tartu“ von 1918 gründet. Trotz der negativen Erfahrungen mit dem sowjetischen und deutschen Totalitarismus gibt es im estnischen Grundgesetz keinen unveränderlichen Verfassungskern. Stattdessen verpflichtet § 54 jeden Esten zur Verteidigung der Unabhängigkeit und der Verfassung: „Gibt es keine anderen Mittel, hat jeder estnische Staatsbürger das Recht, gegen eine gewaltsame Änderung der Verfassungsordnung eigenständigen Widerstand zu leisten.“ Zudem beinhaltet § 12 die Gleichheit vor dem Gesetz und das Verbot jeder Diskriminierung: „Nationaler, rassistischer, religiöser oder politischer Hass, Bedrohung mit Gewalt oder Diskriminierung sind gesetzlich verboten und strafbar.“ Von einer möglichen Verfassungsänderung sind diese Kernbestimmungen jedoch nicht ausgenommen; sowohl der Staatspräsident als auch ein Fünftel des Parlaments kann eine Verfassungsänderung initiieren. In der Praxis kommt es seit der neuerlichen staatlichen Unabhängigkeit 1991 weder im estnischen Parlament noch in der Bevölkerung zu größeren Kontroversen um die Inhalte der Verfassung.
Axel Reetz, Tom Thieme
Extremismus in Finnland
Zusammenfassung
Das Aufkommen extremistischer Kräfte in Finnland ist eng mit den historischen und geopolitischen Entwicklungen sowie der Bevölkerungsstruktur verbunden. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es sowohl rechts- als auch linksextremistische Bewegungen und Parteien, die Sitze im Parlament erringen konnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg determinierte die außenpolitische Doktrin bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion die Erscheinungsformen und Intensität des politischen Extremismus. Seit 1990 haben die Veränderungen der politischen Situation in Finnland zum vermehrten Auftreten radikaler und extremistischer Bewegungen insbesondere am rechten Rand geführt.
Kati Kuitto, Christoph Oberst
Extremismus in Frankreich
Zusammenfassung
Frankreich zählt zu jenen europäischen Staaten mit weit zurückreichender Verfassungsstaatstradition, die maßgeblichen Einfluss auf die konstitutionell-demokratische Entwicklung in anderen Teilen des Kontinents nahmen. In einer feierlichen Deklaration hatte die Konstituierende Nationalversammlung im Revolutionsjahr 1789 die Grundpfeiler des modernen Verfassungsstaates ex negativo definiert: „Eine Gesellschaft, in der weder die Rechtsgarantie gesichert, noch die Teilung der Gewalten gewährleistet ist, besitzt keine Verfassung.“ Die Durchsetzung dieser Prinzipien benötigte mehr als ein Jahrhundert, vollzog sich sprunghaft und war von heftigen Auseinandersetzungen geprägt. Die Ausbildung konstitutionell-demokratischer Schutzmechanismen gegen Feinde der neuen Ordnungsprinzipien war von gravierenden, den rechtsstaatlichen Maßstäben hohnsprechenden Eingriffen in die Freiheitsrechte als „republikfeindlich“ und „subversiv“ geltender Kräfte überschattet. Die neuen politischinstitutionellen Gestaltungsprinzipien und ihre normativen Grundlagen mussten durchgesetzt, konsolidiert und gegen die (tatsächlichen oder vermeintlichen) Anhänger des Ancien régime wie neuartiger, radikaler Systemalternativen verteidigt werden. In den Turbulenzen der Revolution begründeten „freiheitszerstörerische“ Intentionen wechselseitige Feind erklärungen. Der später wegen verschwörerischer Aktivitäten hingerichtete Agrarkommunist François Noël Babeuf brandmarkte derartige Angriffe als „projets liberticides“. In den Augen der Jakobiner rechtfertigte der Schutz der Republik sogar „terroristische“ Methoden. Antoine de Saint-Just wird die Parole zugeschrieben: „Pas de liberté pour les ennemis de la liberté !“ – „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit !“. Für viele subjektive wie objektive Feinde (im Sinne Hannah Arendts) der jakobinischen Tugendherrschaft bedeutete dies den Gang zur Guillotine. Am Ende waren es die Anführer der Jakobiner selbst, deren Köpfe in den Korb fielen.
Uwe Backes
Extremismus in Griechenland
Zusammenfassung
Trotz verfassungsrechtlicher Treuegrundsätze („Respektierung der Verfassung“ als „Grundpflicht für alle Griechen“ gemäß Artikel 120 Absatz 2 und „Grundpflicht des Beamten“ gemäß Artikel 103 Absatz 1 der griechischen Verfassung) und starker Unabänderlichkeitsprämissen in Bezug auf einen „Verfassungskern“ (Artikel 110 Absatz 1 der griechischen Verfassung, vergleichbar mit Artikel 79 Absatz 3 GG) besitzen extremistische Parteien in Griechenland in gesetzlicher Hinsicht einen relativ großen Bewegungsspielraum. Gemäß Abänderungsgesetz 3033/2002 muss ein Antrag auf Parteigründung, nebst 200 für die Genehmigung beizubringenden Unterschriften wahlberechtigter Bürger, nur noch den Wortlaut des Artikel 29 (1) der griechischen Verfassung wiederholen: „Die Organisation und Tätigkeit der Parteien hat dem freien Funktionieren der demokratischen Staatsordnung zu dienen.“ Materielle Überprüfungs- und Kontrollbefugnisse diesbezüglich existieren weder auf der Seite der Exekutive noch auf der Seite der Gerichte. Ein Parteiengesetz existiert nicht. Die einzige Einschränkung der Gründungs- und Betätigungsfreiheit im „Parteienartikel“ 29 der Verfassung besteht im Betätigungsverbot für Beamte (gemäß Absatz 3), das in Praxis und Rechtsprechung als relativ offenes „Neutralitätsgebot“ ausgelegt wird und als Gegengewicht zur traditionell einflussreichen Staatsbürokratie in Griechenland zu verstehen ist. Im Falle der Vereinigungen ist die Gesetzeslage zwar restriktiver, doch wird sie in der Praxis kaum angewandt.
Lazaros Miliopoulos
Extremismus in Großbritannien
Zusammenfassung
Bis heute beharrt das britische Gemeinwesen auf der Doktrin der Parlamentssouveränität und der komplementären Gesetzesbindung für alle im Lande lebenden Menschen („Rule of Law“). Das Vereinigte Königreich hat keine in einem Dokument niedergelegte geschriebene Verfassung. Die Offenheit und Flexibilität der britischen Verfassung ist durchaus zweischneidig. Sie kalkuliert den Zustand der freiwilligen Selbstbegrenzung der Macht politischer Amtsträger als Normalfall ein. Und bis heute findet die Auffassung Beifall, dass eine Diktatur im Lande wegen der politischen Kultur britischer Demokratie unmöglich sei. Allerdings fehlen institutionelle Sicherungen, was schon William Gladstone zu der viel zitierten Bemerkung veranlasste: „It presumes the good faith of those who work in it.“
Marleen Gambel, Roland Sturm
Extremismus in Irland
Zusammenfassung
Extremismus spielt im irischen Parteiensystem kaum eine Rolle. Was den Fall Irlands interessanter macht, ist, dass es keinerlei institutionelle Vorkehrungen gibt, die den Einzug einer extremistischen Partei in den Dáil (das irische Parlament) verhindern würden. Tatsächlich scheint das irische Wahlsystem Extremismus in all seinen Formen zu fördern. Zentral für diesen Beitrag ist die Frage, weshalb sich in Irland politischer Extremismus nicht ansatzweise im selben Maße wie in anderen europäischen Staaten entwickeln konnte. Während meist die Ursachen, die für das Aufkommen und das Ausmaß von Extremismus verantwortlich sind, im Mittelpunkt der Analysen stehen, gilt es für den irischen Fall zu untersuchen, welche Gründe die fehlende Unterstützung antidemokratischer Kräfte hat.
John Fitzgibbon
Extremismus in Italien
Zusammenfassung
Die italienische Verfassung von 1948 ist genau wie die Jahrzehnte nach ihrem Inkrafttreten nicht ohne den ganz speziellen Übergang Italiens vom Faschismus zur Demokratie zu verstehen. Die verfassungsgebende antifaschistische Allparteienkoalition beinhaltete auch die kommunistische und die sozialistische Partei, die zusammen auf 219 der 556 Sitze kamen. Vorkehrungen der wehrhaften Demokratie wie etwa ein Verbot systemwidriger Parteien, das sich aus Sicht der bürgerlich-liberalen Kräfte und im Lichte des heraufziehenden Kalten Krieges durchaus auch gegen kommunistische Parteien hätte richten können, waren unter diesen Umständen nicht durchsetzbar.
Stefan Köppl
Extremismus in Lettland
Zusammenfassung
Nach der internationalen Anerkennung der lettischen Unabhängigkeit und der damit verbundenen wiedererlangten staatlichen Eigenständigkeit am 21. August 1991 war die verfassungsrechtliche Situation in der parlamentarischen baltischen Republik bis 1993 unübersichtlich. Das politische System Lettlands musste in der Übergangszeit ohne gültige Verfassung (Satvers me) auskommen. Zwar setzte der Oberste Rat die alte Verfassung vom 22. Februar 1922 bereits am 4. Mai 1990 wieder in Kraft und verabschiedete ergänzend am 10. Dezember 1991 das „Verfassungsgesetz“, welches die Verfassung um ihren fehlenden Grundrechtskatalog erweiterte, die Bestimmungen der Satversme blieben jedoch im Wesentlichen bis zur ersten Zusammenkunft eines legitimen Parlaments suspendiert. Erst auf der Sitzung des neuen lettischen Parlaments (Saeima) am 6. Juli 1993 erfolgte die vollständige Inkraftsetzung der Verfassung des Jahres 1922. Ein Grundrechtskatalog – angelehnt an das „Verfassungsgesetz“ von 1991 – wurde am 8. Oktober 1998 ergänzt. Der umfangreiche Grundrechtsteil im Abschnitt VIII der Verfassung gründet auf den Negativerfahrungen der totalitären Vergangenheit Lettlands als Teil der Sowjetunion. Neben der Garantie von Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit in Artikel 99 legt Artikel 95 den Schutz der Menschenwürde fest. Zudem sieht Artikel 91 die Gleichheit vor dem Gesetz sowie eine Diskriminierungsverbot vor: „Die Menschenrechte werden ohne Diskriminierung jeder Art verwirklicht.“ Allerdings gelten gemäß Artikel 116 einige Grundrechte nur unter Vorbehalt. Einen unabänderlichen Verfassungskern gibt es nicht. Zur Verfassungsänderung bedarf es einer Stimmenmehrheit von zwei Dritteln der Abgeordneten der Saeima als auch einer Volksabstimmung, bei der mindestens die Hälfte aller Wahlberechtigten zustimmen muss. Vorschläge einer Verfassungsänderung benötigen die Unterstützung von mindestens zehn Prozent der Wahlberechtigten, bevor über diese abgestimmt wird.
Niels Dehmel, Axel Reetz
Extremismus in Litauen
Zusammenfassung
Kein anderes Merkmal prägt das postsozialistische Geschichtsbild Litauens mehr als die kategorische Ablehnung des von der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) oktroyierten Regimes. Es lassen sich aufgrund der Haltung zum Kommunismus als differentia specifica vier geschichtspolitische Regionen im östlichen Europa unterscheiden, für die verschiedene Abstufungen des Verhältnisses zur kommunistischen Vergangenheit charak teristisch sind. Während in Ungarn, Polen und Tschechien gesellschaftliche wie politische Deutungskontroversen ausgetragen werden, in Bulgarien, Rumänien, Albanien und Mazedonien Ambivalenz bzw. Apathie hinsichtlich dieser Themen herrschen, werden im postsowjetischen Raum zumeist sowjetische Kulturnormen durch nationale und regionale Attribute überlagert. Die drei baltischen Länder stellen in diesem Kontext einen deutlich unterscheidbaren baltisch-nordeuropäischen Sonderfall eines antitotalitären Konsens dar, der als Gründungsmythos der nationalstaatlichen Unabhängigkeit Litauens fungiert.
Michail Logvinov
Extremismus in den Niederlanden
Zusammenfassung
Das niederländische Parteiensystem wurde von Klassenkampf und Kulturkampf geprägt. Am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden evangelische, katholische und sozialistische Massenparteien, eng verbunden mit Gewerkschaften, Frauen- und Männervereinen, Hochschulen und Schulverbänden, Zeitungen usw. – kurz: eigenen gesellschaftlichen Milieus oder Säulen (zuilen). Die Eliten der Massenparteien und Massenorganisationen trafen sich regelmäßig. So entwickelte sich in den Niederlanden eine Konkordanzdemokratie – wenn nicht eine Konkordanzoligarchie, weil die Bevölkerung recht wenig Einfluss auf die Kompromisse zwischen den politischen Eliten nehmen konnte.
Paul Lucardie, Gerrit Voerman, Friso Wielenga
Extremismus in Österreich
Zusammenfassung
In Artikel 9 des 1955 unterzeichneten Staatsvertrags, welcher Bestandteil der Bundesverfassung ist, verpflichtete sich Österreich, alle nationalsozialistischen Organisationen aufzulösen und keine Wiederbetätigung zuzulassen. Als Grundlage dafür firmiert das Parteienverbotsgesetz. 1947 wurde die NSDAP verfassungsgesetzlich aufgelöst und die Entnazifizierung in Österreich gesetzlich geregelt. Das Gesetz wurde am 8. Mai 1945 beschlossen, jedoch 1947 neu verlautbart. Die bis heute gültige Rechtsordnung verbietet u. a. unter Androhung von Strafe jede Betätigung im Sinne des Nationalsozialismus. Darunter fällt die Leugnung des Holocaust. Auf Grundlage dieser Bestimmung wurde 2006 der international bekannte Rechtsextremist David Irving in Österreich wegen eines früheren Haftbefehls verurteilt, als er in Öster reich weilte. Die Anklage lautete auf Wiederbetätigung im Sinne des Nationalsozialismus.
Florian Hartleb
Extremismus in Polen
Zusammenfassung
Eine Folge des demokratischen Wandels in Polen 1989 war die Möglichkeit für extremistische politische Organisationen, sich frei zu betätigen. Das führte wiederum zu der Notwendigkeit, entsprechende Regelungen in das polnische Rechtssystem aufzunehmen, damit diese Organisationen keine Gefahr für die Beständigkeit der Demokratie darstellen. Noch in den 1990er Jahren gab es zahlreiche Rechtslücken, welche die Bekämpfung des Extremismus erschwerten. Ein Beispiel dafür war der 1996 unternommene Versuch, drei politische Parteien zu verbieten: die Polnische Nationale Gemeinschaft – Polnische Nationalpartei (PWN-PSN), die Polnische Nationale Front (PFN) und die Nationale Wiedergeburt Polens (NOP). Den Organisationen wurden eine aggressive Tätigkeit und ihr rassistischer Charakter vorgeworfen. Als Begründung für das Scheitern der Auflösungsanträge wies der Justizminister darauf hin, dass entsprechende Regelungen im polnischen Recht fehlten, was das Verbot der Gruppierungen verhindere.
Aleksandra Moroska, Anna Sroka
Extremismus in Portugal
Zusammenfassung
Je nach Definition von politischem Extremismus wären für den portugiesischen Fall verschiedene Aussagen zutreffend, die von einer großen bis hin zu einer minimalen Beteiligung extremistischer Gruppen am politischen Geschehen reichen. Wie eine Reihe von Autoren zeigt, sind die Kriterien zur Bestimmung extremistischer Parteien keinesfalls einheitlich und in hohem Maße durch den jeweiligen politischen Kontext bedingt. Wenn Roger Scruton in seinem Vorwort zur Definition des Konzepts „Extremismus“ diesen als „unklaren Terminus“ bezeichnet, so befinden Paul Horton , Gerald Leslie und Richard Larson nachdrücklich, dass keine Definition des politischen Extremismus zufriedenstellend sei. Auch Albert Breton , Gian luigi Galeotti, Pierre Salmon und Ronald Wintrobe stellen einen Mangel an Konsens über die Definition von Extremismus fest. Sie identifizieren fünf unterschiedliche Per spektiven, aus denen politischer Extremismus betrachtet wird: Lokalisierung im politischen Spektrum; Art der Behandlung politischer Werte und Ansichten (kompromisslos und unflexibel); Bandbreite politischer Wahlmöglichkeiten; Bevorzugung bestimmter Themen; Wahl des Mittels zur Erreichung politischer Ziele. Einige dieser fünf Dimensionen finden sich in Scrutons Definition des politischen Extremismus wieder: „1. Taking a political idea to its limits, regardless of ‚unfortunate‘ repercussions, impracticalities, arguments and feelings to the contrary, and with the intention not only to confront, but also to eliminate opposition. 2. Intolerance towards all views other than one’s own. 3. Adoption of means to political ends which show disregard for the life, liberty, and human rights of others.“ Folgt man Pia Knigge, so zeigt sich, dass die beiden dominanten Herangehensweisen an das Studium des Extremismus auf der Ebene des Individuums und auf derjenigen der Parteien liegen. Erstere konzentriert sich auf die Glaubenssysteme einzelner Personen, letztere auf die Identifizierung von Parteien, die als extremistisch innerhalb eines spezifischen Parteiensystems definiert werden können.
Carlos Jalali, Teresa Pinheiro
Extremismus in Rumänien
Zusammenfassung
Rumäniens Abschied vom Kommunismus 1989/90 stellt die Ausnahme unter den friedlichen Revolutionen in Ost- und Ostmitteleuropa dar. Die Etablierung der rumänischen Demokratie wurde nach dem blutigen Ende der Ceauşescu-Ära nicht durch Verhandlungen zwischen kommunistischer Elite und oppositionellen Gruppen am so genannten Runden Tisch organisiert, sondern geschah im radikalen Bruch mit der Spitze des alten Regimes. Aus dem revolutionären Staatsstreich am 22. Dezember 1989 leitete die neue Führung von Reformern aus der zweiten Reihe der Kommunistischen Partei Rumäniens (PCR), der Armee und des Geheimdienstes ihren Machtanspruch ab, der von einer überwältigenden Mehrheit der rumänischen Bevölkerung getragen wurde. Die Front der Nationalen Rettung (FSN) unterstrich ihre Selbstlegitimierung mit der Verabschiedung einer gänzlich neuen Verfassung.
Kevin Adamson, Sergiu Florean, Tom Thieme
Extremismus in Schweden
Zusammenfassung
Die Gründung und die Betätigung extremistischer Parteien und Gruppierungen stoßen in Schweden kaum auf staatliche Restriktionen, da Meinungs- und Vereinigungsfreiheit unveränderbare Grundwerte des politischen Systems sind. Zwar gibt es seit dem Zweiten Weltkrieg formale Kriterien, die festlegen, wann eine Organisation verboten werden kann, doch diese Regeln kamen bisher nie zur Anwendung. Erst durch eine Reihe von Gewaltverbrechen neonationalsozialistischer Gruppierungen und das Aufkommen rechtsextremer Parteien Anfang der 1990er Jahre wurde die Möglichkeit von Parteiverboten ernsthaft erörtert. Da die starke Skepsis der Schweden gegenüber Parteiverboten überwog, verabschiedete die sozialdemokratische Regierung stattdessen ein Gesetz zur Bekämpfung von „Rassenagitation gegen ethnische Gruppen“. Es stellt das Tragen nationalsozialistischer Symbole und das Zeigen des Hitlergrußes unter Strafe. Befürworter einer harten Gangart gegenüber dem Rechtsextremismus bemängeln, das Gesetz fände nicht in dem Maße Anwendung, wie es rechtlich könnte und sollte. Gegenüber linksextremistischen Vereinigungen exisitieren keine Vorkehrungen.
Jan Freitag, Tom Thieme
Extremismus in der Slowakei
Zusammenfassung
Die Regelung des Verhältnisses von Demokratie und politischem Extremismus ist Bestandteil des slowakischen Grundgesetzes. Die am 1. September 1992, also noch vor der staatlichen Unabhängigkeit, angenommene Verfassung orientiert sich in ihren Formulierungen und Standards an den erfolgreichen Vorbildern der westlichen Verfassungsstaaten. Ähnlich dem Prinzip der streitbaren Demokratie in Deutschland wurden aus den negativen historischen Erfahrungen totalitärer Regime Schlüsse gezogen, um die junge slowakische Demokratie gegenüber extremistischen Bestrebungen zu schützen. Dem Staat wird als Konsequenz aus den Erfahrungen mit der kommunistischen Diktatur ein ideologisches Monopol untersagt.
Tom Thieme
Extremismus in Slowenien
Zusammenfassung
Die Republik Slowenien ist 20 Jahre nach Ende des Kommunismus eine stabile Demokratie. Von Mitte der 1980er Jahre an ist für die slowenische Politik das Streben nach Demokratisierung sowie nach nationaler Unabhängigkeit charakteristisch. Nach dem kurzen Unabhängigkeitskrieg 1991 verließ Slowenien die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien. Die erfolgreiche postkommunistische Transformation stellt eine Ausnahme unter den post-jugoslawischen Republiken dar. Slowenien hat sich ökonomisch und in seiner demokratischen Entwicklung an die Spitze der postkommunistischen Staaten Osteuropas gesetzt. Seit Mitte der 1990er Jahre wird die slowenische Politik wesentlich vom Prozess der Europäisierung beeinfl usst. Slowenien ist seit 2004 Mitgliedsstaat der Europäischen Union sowie der NATO.
Miroslav Mareš
Extremismus in Spanien
Zusammenfassung
Sowohl die Etablierung des institutionellen Rahmens als auch das Verhalten der maßgeblichen politischen Akteure während der Anfangsphase der jungen spanischen Demokratie war durch eine starke Konsensorientierung geprägt. Die Erfahrungen der Zweiten Republik, deren Polarisierung den Hintergrund für die Eskalation in den Bürgerkrieg bildete, und die von Franco während seiner Diktatur propagierte Spaltung der Spanier in Sieger und Besiegte spielten dabei eine zentrale Rolle. Das Handeln der politischen Elite nach 1975 war darauf angelegt, eine ähnliche polarisierende Aufl adung zu vermeiden und es dominierte das Streben nach Versöhnung und Konsens. Auch die Verfassung und das Wahlgesetz sind in diesem Sinne sowohl mit Blick auf die Verfahren bei der Erarbeitung als auch auf ihre Inhalte als Produkt einer im hohen Maße an Konsens und Kompromiss orientierten Haltung der politischen Elite zu verstehen.
Marianne Kneuer
Extremismus in Tschechien
Zusammenfassung
Die Erfolge der Kommunistischen Partei von Böhmen und Mähren (KSČM) und ihre Position als drittstärkste politische Kraft zeigen deutlich, welche Schwierigkeiten es in der Tschechischen Republik mit der Vergangenheitsbewältigung gibt. Die Existenz der orthodoxkommunistischen Partei und ihre Stärke im Abgeordnetenhaus blockieren die Bildung von stabilen Regierungen, so dass die Schaffung stabiler Koalitionsmehrheiten aus programmatisch ähnlichen Parteien nur selten möglich war. Zwar wollte eine Minderheit innerhalb der Sozialdemokraten (ČSSD) zweimal nach den Wahlen von 1998 und 2002 mit den Kommunisten koalieren, doch ein offi zieller Parteibeschluss verbot es ihnen. Die Kommunisten profi tieren bisher als dauerhaft einzige Oppositionspartei von der Unzufriedenheit der Bürger mit ihrer sozialen Situation sowie von ihrer steigenden Skepsis gegenüber der Politik und den öffentlichen Organen. In der tschechischen Bevölkerung wächst das, was während des kommunistischen Regimes (zumindest in den 1970er und 1980er Jahren) bereits anwesend war: ein Misstrauen gegenüber den politischen Eliten. Das bietet Raum für politischen Extremismus. Wer die Entwicklung und die Besonderheiten im tschechischen Extremismus seit 1989, die Organisation, Ideologie und Strategie der extremistischen Parteien sowie den Einfl uss nichtparteiförmiger extremistischer Organisationen behandelt, muss dies berücksichtigen.
Lukáš Novotný
Extremismus in Ungarn
Zusammenfassung
Der politische Extremismus stößt in Ungarn kaum auf staatliche Einschränkungen. Parteien können sich nach der ungarischen Verfassung frei gründen und betätigen (Art. 3). In der Verfassung und den konstitutionellen Regeln fi ndet sich keine Vorschrift über ein Parteiverbot. Lediglich Art. 63 Abs. 2 der Verfassung verbietet die Gründung von politischen Zwecken dienenden bewaffneten Organisationen. Ein ordentliches Gericht kann nach Klageerhebung durch einen Staatsanwalt als Ultima Ratio eine gesellschaftliche Organisation aufl ösen, falls deren Tätigkeit eine Straftat mit Rechtsverletzung gegenüber anderen darstellt. Der Verstoß selbst muss schwerwiegend sein. Nach den Regularien des Vereinigungsrechts könnte dann die Staatsanwaltschaft Anklage erheben. Bislang kam das Verbot nicht zur Anwendung. Abwehrmechanismen wie eine beispielsweise in Deutschland bekannte „wehrhafte Demokratie“ sind kaum vorhanden, da Ungarn ein im europäischen Vergleich sehr liberales Versammlungsrecht besitzt. Unter diesem staatsrechtlichen Blickwinkel gedeiht der subkulturelle Extremismus.
Melani Barlai, Florian Hartleb

Zusammenfassung

Frontmatter
Extremismus in den EU-Staaten im Vergleich
Zusammenfassung
Die vergleichende Analyse des politischen Extremismus in den EU-Staaten muss einerseits Entstehungsursachen, andererseits Faktoren zur Beschränkung und Verhinderung der extremistischen Kräfte berücksichtigen. Dabei ist es notwendig, landes- und nationalitätsspezifi sche Unterschiede herauszuarbeiten. Nur so können die verschiedenen Ausprägungen von Extremismus genau und differenziert erfasst werden. Obwohl die Renaissance von autoritären Regimes im vereinten Europa mit wachsender zeitlicher Distanz zu den rechten und linken Diktaturen in unabsehbare Ferne gerückt scheint, bleibt das Problem des Extremismus in Europa nach wie vor präsent. Vor allem von den sozialen Wandlungsprozessen im Zuge der technologischen Modernisierung und der ökonomisch-kulturellen Globalisierung seit dem Ende der 1980er Jahre profi tieren extremistische Kräfte. Die Liberalisierung der Wirtschaft, die Reformierung sozialer Standards, internationale Standortkonkurrenz, die Deregulierung der Arbeitsmärkte sowie wachsende Migrationsbewegungen hätten einen guten Resonanzboden für den Rechtsextremismus geschaffen, so Richard Stöss. Von gesellschaftlicher Desintegration, wachsender Unsicherheit und Unzufriedenheit profi tieren jedoch Protestparteien – diese müssen nicht immer extremistisch sein – und Anti-System-Kräfte jeder Couleur. Für die postkommunistischen Staaten kommen Schwierigkeiten durch die komplexen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Transformationsprozesse („Dilemma der Gleichzeitigkeit“) hinzu. An beiden Flügeln des politischen Spektrums suchen die Verlierer des Systemwechsels in ihrer materiellen und geistigen Unzufriedenheit nach Alternativen, die teilweise ideologisch an vordemokratische Epochen anknüpfen. Doch nicht nur für die Fragen, wie und warum Extremismus in den einzelnen postautokratischen EU-Staaten ausgeprägt ist, spielt die Dimension der Vergangenheit bzw. ihrer Bewältigung eine Rolle. Auch das gesellschaftliche Verhältnis der meisten europäischen Demokratien zum politischen Extremismus wird maßgeblich durch das historische Erbe – demokratischer wie autokratischer Prägung – bestimmt.
Eckhard Jesse, Tom Thieme
Backmatter
Metadaten
Titel
Extremismus in den EU-Staaten
herausgegeben von
Dr. Eckhard Jesse
Dr. Tom Thieme
Copyright-Jahr
2011
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-92746-6
Print ISBN
978-3-531-17065-7
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-92746-6