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Erschienen in: Wirtschaftsinformatik & Management 1/2022

Open Access 25.01.2022 | Spektrum

Disruptionspotenzial künstlicher Intelligenz: Ein Reifegradmodell zur Einführung ganzheitlicher KI-Initiativen in Unternehmen

verfasst von: Calvin Limat

Erschienen in: Wirtschaftsinformatik & Management | Ausgabe 1/2022

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Das Disruptionspotenzial künstlicher Intelligenz (KI) zwingt Unternehmen sich damit auseinanderzusetzen, Chancen und Risiken abzuwägen und sich an neue Bedingungen anzupassen. In Anbetracht mancher unbefriedigenden Resultate im Umgang mit KI in Unternehmen rückt die Analyse der organisationalen Fähigkeiten und Charakteristika zur Gestaltung von KI-Initiativen zunehmend in den Fokus. Die Übertragung der Erkenntnisse in ein gesamtheitliches Reifegradmodell fehlt indes noch größtenteils. Auf der Grundlage des wissenschaftlichen Vorgehensmodells zur Entwicklung von Reifegradmodellen wird im Folgenden ein Unterstützungswerkzeug entwickelt mit welchem die Integrationsbemühungen von KI auf Unternehmensebene anhand verschiedener Gestaltungsbereiche strukturiert analysiert werden können.
Der technologische Fortschritt hat in den letzten Jahren das Interesse an KI sowohl bei Praktiker*innen als auch Akademiker*innen wiedererweckt. Das gewaltige Disruptionspotenzial und der damit einhergehende Hype um KI drängen die Unternehmen, eigene KI-Initiativen anzugehen. Verschiedene Unternehmensbefragungen zeigen auch, dass KI, über alle Branchen hinweg, bereits in drei Viertel der Unternehmen einen zentralen Platz auf der Geschäftsleitungsebene einnimmt [2, 3]. Für die erfolgreiche Umsetzung von KI in Unternehmen ist jedoch eine erhebliche Anzahl von Hindernissen zu bewältigen. Nur ein Bruchteil der befragten Unternehmen konnte KI in ihre Prozesse und Leistungsangebote einbinden – und eine Mehrheit der Unternehmen, welcher dieses initiale Unterfangen gelang, stellte noch Jahre danach nur minimale oder keine Auswirkungen der KI-Initiativen fest [4]. Die KI-Realität ist also noch weit von der Verwirklichung der Träume und Versprechungen entfernt, wenn es um die wirkungsvolle Einbindung von KI in Unternehmen geht. Diese schleppende Umsetzung von KI in den Unternehmenskontext kann generell dadurch begründet werden, dass Unternehmen in ihrer Neugestaltung scheitern, zumal sich eine konsequente Umsetzung von KI auf eine Vielzahl von Unternehmensbereichen auswirkt. Die Transformation hin zu einem KI-getriebenen Unternehmen erfordert fundamentale Reflexionen und eine Abstimmung von Kultur, Prozessen und Leistungserstellung in den Unternehmen.
Infobox 1 Begriffsverständnis von künstlicher Intelligenz in Anlehnung an Kolbjørnsrud, Amico und Thomas [5]
Künstliche Intelligenz bezieht sich auf Informationssysteme, die aus mehreren verbundenen Technologien bestehen, welche die Welt wahrnehmen, daraus gesammelte Daten analysieren als auch verstehen und so fundierte Entscheidungen treffen oder Maßnahmen empfehlen können. Darüber hinaus sollen die Systeme aus Erfahrungen lernen.
Mit dieser Definition von KI wird das in diesem Artikel dargelegte Verständnis reflektiert, dass es sich bei KI um ein komplexes System handelt, welches die rein technische Komponente übersteigt und entsprechend gestaltet werden sollte.
Als essenzielle Frage für Unternehmen ergibt sich, wie sie sich aufzustellen haben, um den Übergang vom singulären KI-Experiment zur effektiven Umsetzung von KI im Unternehmen zu bewerkstelligen. Zur Gestaltung und Bewältigung dieser KI-Transformation liefert die Forschung nur wenig Anleitung. Der Forschungsfokus im KI-Bereich liegt bis anhin in erster Linie auf der Technologieebene. Die Betrachtung organisationaler Gestaltungsbereiche zur erfolgreichen KI-Umsetzung wird vielfach vergessen. Um den Gestaltungsprozess zu unterstützen und eine ganzheitliche Betrachtungsweise der KI-Transformation zu fördern, wird auf Basis des wissenschaftlichen Vorgehensmodells von Becker et al. [1] ein KI-Reifegradmodell auf Unternehmensebene entwickelt. Ziel dieses Werkzeugs ist es mittels Gestaltungsdimensionen und Gestaltungsobjekten Praktiker*innen zu ermöglichen, ihre Integrationsbemühungen von KI in Unternehmen strukturiert zu analysieren. Das Vorgehensmodell sowie das daraus entstehende Reifegradmodell werden auf den nachfolgenden Seiten diskutiert.

Vorgehensweise zur Entwicklung eines Reifegradmodells

Eine objektive Standortbestimmung der vorhandenen Fähigkeiten ist unerlässlich, um Verbesserungen an den richtigen Stellen umzusetzen und sollte aufgrund der Komplexität mit unterstützenden Instrumenten angegangen werden [1]. Reifegradmodelle liefern eine Bewertungs- und Vergleichsbasis für Verbesserungen und sind somit hilfreiche Entscheidungsinstrumente zur fundierten Schlussfolgerung von Optimierungen. Der Begriff Reife suggeriert in diesem Kontext, dass eine schrittweise Verbesserung bei Erreichung gewisser Fähigkeiten oder Ziele von der Start- bis zur erstrebten Endphase stattfindet. Der grundlegende Zweck von Reifegradmodellen besteht somit in der Beschreibung von Phasen und Reifepfaden. Zu den wesentlichen Merkmalen von Reifegradmodellen werden typischerweise die Gestaltungsebenen, -dimensionen und -objekte sowie die Reifestufen gezählt (siehe Tab. 1).
Tab. 1
Merkmale von Reifegradmodellen (eigene Darstellung in Anlehnung an Mettler [6])
Merkmal
Zweck
Gestaltungsebenen
Gliedern mit den Gestaltungsdimensionen thematisch ähnliche Gestaltungsobjekte
Gestaltungsdimensionen
Spezifische Fähigkeitsbereiche, mit welchen das Reifegradmodell strukturiert wird
Gestaltungsobjekte
Bilden die Basis zur Beurteilung der Reife von Gestaltungsdimensionen
Reifestufen
Unterteilen Gestaltungsdimensionen in verschiedene Reifegrade, die jeweils einen beschreibenden Maßstab beinhalten
Das Reifegradmodell wird zur besseren Veranschaulichung der Kerninhalte in einem 5‑stufigen Prozess entwickelt, welcher vom 8‑stufigem Vorgehensmodell zur Entwicklung von Reifegradmodellen von den Autoren Becker, Knackstedt und Pöppelbuß [1] abgeleitet ist (siehe Abb. 1). Der Ursprung des Vorgehensmodells liegt im Ansatz des Design Science Research, das sich zum Ziel setzt, Artefakte zu kreieren, die zur Lösung organisationaler und menschlicher Herausforderungen geeignet sind. Berücksichtigt werden ebenfalls die Empfehlungen zur Entwicklung von Reifegradmodellen von den Autoren de Bruin, Freeze, Kulkarni und Rosemann [7].
Der erste Schritt definiert die Problemrelevanz und definiert den Fokus des zu entwickelnden Reifegradmodells. Die Problemrelevanz ergibt sich einerseits aus dem Fehlen eines vollständigen und theoretisch abgeleiteten KI-Reifegradmodells in der Literatur und andererseits aus der Praxisrelevanz des Themas. Der Fokus liegt auf der Entwicklung eines Reifegradmodells, das den Unternehmen als Instrument zur Bewältigung der komplexen Aufgaben und zur Verbesserung organisationaler Fähigkeiten dienen soll. Die Praxisbezogenheit und die Akzeptanz im vorhergesehenen Anwendungsort des Modells sollen daher durch Praktiker evaluiert werden.
Im zweiten Schritt des angewendeten Vorgehensmodells wird anhand eines umfassenden Vergleichs von bereits bestehenden Reifegradmodellen eine Grundlage für die Entwicklungsstrategie des eigenen Reifegradmodells begründet, welches im darauffolgenden dritten Schritt entsteht. Die Literaturauswertung bezüglich der geeignetsten Entwicklungsstrategie ergab, dass bislang nur wenige KI-Reifegradmodelle entwickelt wurden, welche überdies häufig nicht den genannten Erfordernissen an Reifegradmodelle entsprechen. Diese Erkenntnis begründete die Festlegung auf eine Neuentwicklung als Entwicklungsstrategie im dritten Schritt. Bei der Neukonzeption wird auf akzeptierte und erprobte Standards aufgebaut und auf ein angemessenes Verhältnis zwischen einer oft komplexen Realität und modellierter Vereinfachung geachtet. Hierfür wurden die 3 Aspekte des TOE-Frameworks (Technology, Organisation, Environment) von den Autoren Tornatzky und Fleischer [8] auf das zu neuentwickelnde Reifegradmodell übertragen, wobei diese als Gestaltungsebenen eingesetzt wurden und somit die Modellarchitektur festlegen (siehe Abb. 2). Mit dem TOE-Framework als Startpunkt der Entwicklung des Reifegradmodells wird sichergestellt, dass ein in der Literatur anerkanntes und erfolgreiches Framework zur Analyse organisationaler Einführung als Architektur dient.
Umfang und Design des Modells sind hiermit festgelegt und es gilt nun, den Inhalt des Modells zu erarbeiten. Dieser vierte Schritt ist die zentrale Phase des hier angewendeten Vorgehensmodells und besteht in der iterativen Reifegradmodellentwicklung, mit welcher die einzelnen Gestaltungsdimensionen und die dazugehörigen Gestaltungsobjekte fortlaufend entworfen werden. Hierzu wurde eine systematische und konzeptorientierte Literaturauswertung von wissenschaftlichen Arbeiten, Studien von Unternehmensberatungen sowie Fachzeitschriften durchgeführt. Anschließend erfolgte anhand einer offenen Codierung eine gesamtheitliche Literaturanalyse von Fähigkeiten und Charakteristika, die einen Einfluss auf eine erfolgreiche Umsetzung von KI haben. Als Basisschema wurde das TOE-Framework verwendet. Durch Unifikation thematisch ähnlicher Klassifizierungen entstanden hiernach iterativ die Gestaltungsdimensionen des zu entwickelnden KI-Reifegradmodells. Sechs semistrukturierte Interviews mit Experten erweiterten und validierten in weiteren Iterationen die Modellentwicklung.
Normalerweise folgen auf die eigentliche Entwicklung des Reifegradmodells im fünften Schritt die Evaluation und der Transfer der Entwicklungsergebnisse, womit das Modell auf seine Validität und Generalisierbarkeit überprüft wird. Die Validität wird dabei sowohl auf gute Übersetzung der Konstrukte als auch auf Vollständigkeit beurteilt. Mit der Durchführung von Interviews im vorherigen Schritt wurde bereits ein Validierungsschritt bezüglich der Verständlichkeit des Modells unternommen, wobei damit die breite Akzeptanz noch nicht überprüft werden kann.

KI-Reifegradmodell

Insgesamt wurden 18 Gestaltungsobjekte identifiziert, in denen die verschiedenen Fähigkeiten und Charakteristika subsumiert werden können (siehe Tab. 2). Diese Gestaltungsobjekte können wiederum 7 Gestaltungsdimensionen zugeordnet werden. Die Gestaltungsdimensionen wurden jeweils in den 3 Ebenen des TOE-Frameworks gruppiert, welche die Architektur des KI-Reifegradmodells ausmachen (siehe Abb. 3). Die einzelnen Gestaltungsdimensionen und die jeweils dazugehörenden Gestaltungsobjekte werden durch eine Zusammenschau aus der Literaturanalyse und Experteninterviews nachfolgend vorgestellt.
  • In der Gestaltungsdimension Daten stehen die Datenqualität und ein integriertes Datenmanagement im Vordergrund, deren Umsetzung mithilfe einer Daten-Governance unterstützt werden soll. Aus dieser Gestaltungsdimension geht heraus, dass Daten in Unternehmen nicht als Nebenprodukt der Digitalisierung betrachtet werden sollten, sondern als Asset zu handhaben sind, die entsprechend aufgebaut werden müssen.
  • KI-Initiativen sind weder von vornherein deterministisch noch wird deren Erfolg kurzfristig sichtbar. Folglich ist das Ziel von Kultur als Gestaltungsdimension, ein Mindset im Unternehmen zu etablieren, welches die 3 Gestaltungsobjekte Agilität, Innovation & Fehlertoleranz wie auch Interdisziplinarität & Kollaboration fördert als auch Widerstand reduziert. Eine solche Kultur setzt Vertrauen, Offenheit, Transparenz sowie Geduld voraus.
  • Die Überbrückung der KI-Fähigkeitslücke ist zurzeit entscheidend bei der Umsetzung von KI, weshalb der Aufbau von technischen Fähigkeiten, aber auch eines Bewusstseins und Verständnisses für KI im Mittelpunkt der Kompetenzdimension stehen. Diese Entwicklung und Nutzung von Kompetenzen hat sowohl in als auch um die Unternehmen zu erfolgen und umfasst deshalb als Gestaltungsobjekte Talente, Weiterbildungen und Partnernetzwerke.
  • Die Gestaltungsdimension Strategie befasst sich mit der Einbettung von KI-Initiativen in die übergeordnete Geschäftsstrategie und berücksichtigt, dass erfolgreiche KI-Umsetzungen Unterstützung auf allen Ebenen bedingt. Die Anwendung KI-angepasster Kennzahlen trägt hierzu bei, die KI-Initiativen rechtzeitig zu lenken.
  • Besorgnisse über regulatorische Anforderungen sind bei Unternehmen weit verbreitet und das Navigieren durch die oft unklare Regulierungslandschaft kann die Umsetzung von KI beeinträchtigen. Die Regulierungsdimension beschäftigt sich aus diesem Grund in erster Linie mit der Einstufung des regulatorischen Spielraums des Unternehmens und dessen Umgang damit.
  • Die Akzeptanz von KI ist für den Erfolg von KI-Umsetzungen entscheidend, weshalb ein spezifisches Augenmerk auf die Dimension des Kundenverhaltens gelegt werden muss. Im Fokus dieser Dimension stehen unter anderem das Kundenvertrauen, die Fähigkeit den End User frühzeitig zu involvieren und die damit einhergehende Bildung von klar definierten und abgegrenzten Use Cases.
  • Die Gestaltungsdimension Kompatibilität beinhaltet die Absorptionskapazität des Unternehmens, neue Applikationen und Prozesse zu integrieren, welche sich nicht nur auf die Integration der IT-Infrastruktur beschränkt, sondern auch die Technologie mitberücksichtigt. Die Betrachtung von KI-Umsetzungen im Rahmen der digitalen Transformation ist hierzu sinnvoll, da Digitalisierung als Voraussetzung und Wegbereiter für die Wertschöpfung durch KI gilt.
Zur Beschreibung der antizipierten Entwicklungspfade dieser Gestaltungsdimensionen sind zudem jeweils 5 aufeinanderfolgende Reifegradstufen beschrieben. Dies erlaubt den Unternehmen, eine übersichtliche Reifebestimmung in Bezug auf ihre KI-Reife vorzunehmen.
Tab. 2
Übersicht der Gestaltungsdimensionen und -objekte
Gestaltungsdimension
Kurzbeschreibung
Gestaltungsobjekt
1. Daten
Unternehmen stellen eine durchgängige Verfügbarkeit qualitativ hochwertiger Daten in den geforderten Standards sicher
1.1 Datenqualität
1.2 Integriertes Datenmanagement
1.3 Daten-Governance
2. Kultur
Unternehmen fördern eine anpassungsfähige und -willige Unternehmung, die funktionsübergreifend kollaboriert und innoviert
2.1 Agilität
2.2 Innovation & Fehlertoleranz
2.3 Interdisziplinarität & Kollaboration
3. Kompetenz
Unternehmen vermitteln ein breites KI-Verständnis im gesamten Unternehmen, und schaffen, entwickeln und nutzen spezifisches KI-Wissen sowie -Fähigkeiten in und um das Unternehmen
3.1 Talent
3.2 Weiterbildung
3.3 Partnernetzwerk
4. Strategie
Unternehmen konzeptionieren eine realistische KI-Roadmap, welche in die Geschäftsstrategie eingebettet ist und die Unternehmensziele begünstigt, sodass Unterstützung vom Topmanagement garantiert wird und durch angepasste Kennzahlen fortlaufend gefördert und überprüft wird
4.1 Commitment & Ownership
4.2 Eingebettete Vision
4.3 Kennzahlen
5. Regulierung
Unternehmen identifizieren KI-Regulierungen und setzen sich für günstige regulatorische Rahmenbedingungen sowie fortlaufende Überprüfung der Einhaltung von Richtlinien durch die Schaffung von Kontrollstellen und ethischen Verhaltensanweisungen ein
5.1 Gesetzliche Bestimmungen
5.2 Compliance & Ethik
6. Kundenverhalten
Unternehmen erkennen stabile Kundenverhalten, um Use Cases aufzubauen und fördern die externe KI-Akzeptanz durch den Aufbau von vertrauenswürdigen KI-Systemen und frühzeitige Involvierung des End Users
6.1 Akzeptanz
6.2 Vorhersagbarkeit
7. Kompatibilität
Unternehmen modernisieren und entwickeln ihre IT im Rahmen ihrer Digitalisierungsstrategie und vereinigen KI-Initiativen mit der bestehenden IT-Infrastruktur und IT-Technologie unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen
7.1 Infrastruktur & Technologie
7.2 Digitale Transformation

Priorisierung von Gestaltungsdimensionen

Um der möglichen Komplexität des Reifegradmodells mit 7 Gestaltungsdimensionen entgegenzuwirken und den Unternehmen einen Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der Thematik von KI zu liefern, ist im Verlaufe der Entwicklung eine Priorisierung von Gestaltungsdimensionen diskutiert worden. In den Interviews wurde von den Experten eine solche Priorisierung gewünscht. Eine Priorisierung innerhalb des Reifegradmodells wurde allerdings unterlassen, da dieses als Instrument zur gesamtheitlichen Standortbestimmung in den erforderlichen Gestaltungsdimensionen verstanden wird und eine partielle Ausblendung von benötigten Fähigkeiten als objektive Selbsteinschätzung zu kurz greifen würde.
Nichtdestotrotz sollte im Zentrum einer KI-Initiative immer ein Problem stehen, dass mithilfe dieser Technologie gelöst werden könnte. Dies wird mit dem zentralen Element des Geschäftsnutzens im Reifegradmodell suggeriert. Von hier aus kann argumentiert werden, dass die Daten- und Kompatibilitätsdimensionen zunächst wichtiger sind als beispielsweise Kultur: Eine erfolgreiche KI-Initiative ist trotz unreifer Innovationskultur vorstellbar, sofern genügend gute Daten vorhanden sind und die Technologie in der Lage ist, die KI-Initiativen technisch umzusetzen – umgekehrt wird es allerdings schwierig. Für einige Interviewpartner ist deshalb eine Auseinandersetzung mit der Daten- und Kompatibilitätsdimension bei der Umsetzung von KI inhärent gefordert. Andere Interviewpartner knüpfen bei der Sequenzierung von Gestaltungsdimensionen gleich an den Geschäftsnutzen an und argumentieren, dass die erste Priorität ein klar definierter und abgegrenzter Use Case darstellt, welcher durch die Dimension Kundenverhalten ermöglicht wird. Damit dieser Use Case im Unternehmen an Attraktivität gewinnt, wird anschließend ein überzeugender Business Case benötigt, welcher in der Dimension Strategie erarbeitet wird. Hiermit wird die Unterstützung des Topmanagements gesichert. Die tatsächliche Realisation erfordert schließlich das Vorhandensein von Daten in der geforderten Quantität und Qualität. Die Interdisziplinarität, die in der Dimension Kultur im Sinne von interdisziplinären Teams und in der Dimension Kundenverhalten im Sinne von effektiver Involvierung des End Users angesprochen wird, vervollständigt beispielsweise für diese Interviewpartner die 4 priorisierten Elemente beim Start von KI-Initiativen.

Beitrag des KI-Reifegradmodells

Aus akademischer Sicht liefert das KI-Reifegradmodell wichtige Einblicke in die relevanten Gestaltungsbereiche von Unternehmen in Bezug auf KI. Die Entwicklung des Modells spricht die bis anhin unklare Beziehung zwischen einem KI-Reifegradmodell und organisationalen Gestaltungsdimensionen an und knüpft an die spärliche Forschung zu KI-Reifegradmodellen an. Die Forschungsergebnisse haben aufgezeigt, dass fundierte KI-Reifegradmodelle in naher Zukunft zur Bewältigung der KI-inhärenten Komplexität von hoher Relevanz sein werden.
Aus praktischer Sicht stellt das KI-Reifegradmodell ein Hilfsmittel für Führungskräfte dar, um bereits eingeleitete oder geplante Umsetzungen von KI gesamtheitlich zu analysieren und allfällige Schwachstellen in den Gestaltungsdimensionen des Unternehmens zu identifizieren. Als objektives Standortbestimmungsinstrument wird eine Diskussionsbasis geschaffen, mit welcher Missverständnisse und unterschiedliche Auffassungen im Unternehmen erkannt werden können. Letztlich schärft die Beschäftigung mit dem KI-Reifegradmodell das Verständnis für die Auswirkungen einer Umsetzung von KI, welche zuvor möglicherweise nicht in deren Gesamtheit ersichtlich waren. Dieses Verständnis von möglichen Hindernissen gibt den Führungskräften nicht nur Auskunft über die Kommunikationsart im Unternehmen, sondern bietet beispielsweise Unterstützung in der Bestimmung, wo Unternehmen investieren sollten, welche KI-Initiativen am ehesten umsetzbar sind oder welche Schulungen noch anzubieten wären.

Fazit und Ausblick

Zusammenfassend wird KI die Unternehmen revolutionieren, stellt diese bei deren Umsetzung aber auch vor sehr hohe Herausforderungen. Um diese besser zu bewältigen, wurden die wichtigsten Fähigkeiten und Charakteristika in der Literatur identifiziert, die für erfolgreichere KI-Umsetzungen berücksichtigt werden sollten. Durch die Bildung von Gestaltungsdimensionen mittels Clustering der erkannten Fähigkeiten und Charakteristika wurden die Gestaltungsbereiche für Unternehmen aufgezeigt. Darüber hinaus wurden durch die Auswertung der Experteninterviews die Gestaltungsdimensionen aus der Praxissicht validiert und erweitert. Die 7 entstandenen Gestaltungsdimensionen Daten, Kultur, Kompetenz, Strategie, Regulierung, Kundenverhalten sowie Kompatibilität zeigen, dass KI in Unternehmen nicht lediglich als eine neue Technologie betrachtet werden darf. Die Umsetzung von KI berührt und betrifft viele Gestaltungsbereiche. Praktiker*innen können folglich anhand der 7 Gestaltungsdimensionen den Ist-Zustand einer KI-Umsetzung objektiv und gesamtheitlich analysieren. Dies trägt dazu bei, die zurzeit offensichtliche Kluft zwischen KI-Versprechungen und KI-Realität in Unternehmen zu schließen.
Kernthesen
Die Transformation hin zu einem KI-getriebenen Unternehmen erfordert fundamentale Reflexionen und eine Abstimmung von Kultur, Prozessen und Leistungserstellung in den Unternehmen.
Reifegradmodelle liefern eine Bewertungs- und Vergleichsbasis für Verbesserungen und sind somit hilfreiche Entscheidungsinstrumente zur fundierten Schlussfolgerung von Optimierungen.
Die 7 entstandenen Gestaltungsdimensionen Daten, Kultur, Kompetenz, Strategie, Regulierung, Kundenverhalten sowie Kompatibilität zeigen, dass KI in Unternehmen nicht lediglich als eine neue Technologie betrachtet werden darf.
Zusammenfassung
1.
Das Disruptionspotenzial von KI zwingt Unternehmen, sich damit auseinanderzusetzen. Manch unbefriedigende Resultate in der Umsetzung von KI zeigen allerdings, dass sich Unternehmen bei der Gestaltung ihrer KI-Transformation mit Herausforderungen konfrontiert sehen.
 
2.
KI wirkt sich auf eine Vielzahl von Gestaltungsbereiche aus. Auf Basis eines wissenschaftlichen Vorgehens wurde ein KI-Reifegradmodell als Hilfsmittel zur Bewältigung dieser Komplexität entwickelt.
 
3.
Das KI-Reifegradmodell ermöglicht eine strukturierte und gesamtheitliche Auseinandersetzung mit den 7 entstandenen Gestaltungsdimensionen Daten, Kultur, Kompetenz, Strategie, Regulierung, Kundenverhalten sowie Kompatibilität. Dies erlaubt eine situative Identifikation von Maßnahmen, mit welcher KI erfolgreicher in Unternehmen umgesetzt werden kann.
 
Handlungsempfehlungen
1.
Unternehmen sollten sich frühzeitig strukturiert und gesamtheitlich mit den Auswirkungen von KI auf ihre Kultur, Prozesse und Leistungserstellung auseinandersetzen, um das Disruptionspotenzial von KI zu bewältigen und erfolgreich zu nutzen.
 
2.
Unternehmen sollten hierfür unterstützende Instrumente einsetzen, die eine Bewertungs- und Vergleichsbasis für Verbesserungen liefern und somit zu fundierten wie auch gesamtheitlichen Schlussfolgerung von Optimierungen führen.
 
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Texte auf dem Stand der wissenschaftlichen Forschung, für Praktiker verständlich aufbereitet. Diese Idee ist die Basis von „Wirtschaftsinformatik & Management“ kurz WuM. So soll der Wissenstransfer von Universität zu Unternehmen gefördert werden.

Literatur
1.
Zurück zum Zitat Ransbotham S, Kiron D, Gerbert P, Reeves M (2017) Reshaping business with artificial intelligence. MIT Sloan Management Review and The Boston Consulting Group Ransbotham S, Kiron D, Gerbert P, Reeves M (2017) Reshaping business with artificial intelligence. MIT Sloan Management Review and The Boston Consulting Group
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Zurück zum Zitat Kron A, Zubovic D, Czaika E, Aksi A (2019) Artificial intelligence in Europe. Bericht, Microsoft und EY Kron A, Zubovic D, Czaika E, Aksi A (2019) Artificial intelligence in Europe. Bericht, Microsoft und EY
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Zurück zum Zitat de Bruin T, Rosemann M, Freeze R, Kulkarni U (2005) Understanding the main phases of developing a maturity assessment model. Australasian Conference on Information Systems (ACIS). de Bruin T, Rosemann M, Freeze R, Kulkarni U (2005) Understanding the main phases of developing a maturity assessment model. Australasian Conference on Information Systems (ACIS).
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Zurück zum Zitat Tornatzky LG, Fleischer M (1990) The processes of technological innovation. Lexington Books, Massachusetts/Toronto Tornatzky LG, Fleischer M (1990) The processes of technological innovation. Lexington Books, Massachusetts/Toronto
Metadaten
Titel
Disruptionspotenzial künstlicher Intelligenz: Ein Reifegradmodell zur Einführung ganzheitlicher KI-Initiativen in Unternehmen
verfasst von
Calvin Limat
Publikationsdatum
25.01.2022
Verlag
Springer Fachmedien Wiesbaden
Erschienen in
Wirtschaftsinformatik & Management / Ausgabe 1/2022
Print ISSN: 1867-5905
Elektronische ISSN: 1867-5913
DOI
https://doi.org/10.1365/s35764-021-00379-y

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