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06.09.2022 | Ergonomie + HMI | Schwerpunkt | Online-Artikel

Autofahrer haben Probleme bei plötzlicher Steuer-Übernahme

verfasst von: Christiane Köllner

6:30 Min. Lesedauer

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Sollen Fahrer automatisierter Fahrzeuge plötzlich vom passiven Überwacher zum aktiven Operator werden, ist das oft problematisch. Ist dieser Rollenwechsel überhaupt sicher leistbar? Eine Felduntersuchung geht dieser Frage nach. 

Autofahrer haben selbst ohne Nebentätigkeit teilweise große Schwierigkeiten bei der plötzlichen Übernahme des Steuers, wie eine Studie von Dekra und der Technischen Universität (TU) Dresden zur Fahrerübernahme beim automatisierten Fahren herausgefunden hat. Die Prüfgesellschaft und die Universität haben dazu eine Felduntersuchung mit vier Übernahmeszenarien am Dekra-Lausitzring durchgeführt. Die Studie macht deutlich: In Sachen Multitasking hat die menschliche Leistungsfähigkeit Grenzen.

Mit der Einführung von Systemen des hoch- und vollautomatisierten Fahrens verändert sich die Rolle des Autofahrers. Unter bestimmten Umständen sind Nebentätigkeiten erlaubt, doch der Fahrer muss innerhalb weniger Sekunden wieder übernehmen, wenn ihn das System dazu auffordert. Dieser Rollenwechsel vom Überwacher zum Fahrer ist keineswegs eine weit in der Ferne liegende Zukunftsvision. Bereits im Dezember 2021 ist das erste Fahrzeugsystem des hochautomatisierten Fahrens (Level 3) in Europa durch das Kraftfahrtbundesamt offiziell zugelassen worden, der Stauassistent "Drive Pilot" von Mercedes-Benz in der S-Klasse

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Koordination von Übernahmemanövern beim hochautomatisierten Fahren unter Berücksichtigung der Fahrerverfügbarkeit

Eine der zentralen Problemstellungen beim bedingt- und hochautomatisierten Fahren liegt in der Gestaltung einer sicheren und komfortablen Aufgabenübertragung zwischen dem automatisierten System und dem menschlichen Fahrer und vice versa. Dieser Beitrag stellt ein holistisches Modell zur Übergabe und Übernahme von Fahraufgaben vor, welches über eine umfassende Fahrerbeobachtung anhand von verschiedenen Sensoren und Referenzsensoren eine an den Fahrerzustand angepasste Übernahme ermöglichen soll.

Rollenwechsel ist anspruchsvoll

Wer künftig mit Drive Pilot unterwegs ist, darf sich – auf Autobahnen und ähnlichen Straßen, bis zu einer Geschwindigkeit von 60 km/h und unter weiteren Rahmenbedingungen – "vom Verkehrsgeschehen und der Fahrzeugsteuerung abwenden", wies es in §1b des Straßenverkehrsgesetzes steht. Gleichzeitig muss er aber "wahrnehmungsbereit bleiben", um jederzeit wieder zu übernehmen, wenn er durch das Fahrzeugsystem dazu aufgefordert wird oder, wenn er erkennt, "dass die Voraussetzungen für eine bestimmungsgemäße Verwendung der hoch- oder vollautomatisierten Fahrfunktionen nicht mehr vorliegen".

Ob es funktioniert, sich von der Fahrzeugsteuerung abzuwenden und zugleich wahrnehmungsbereit zu bleiben und bei Fehlern schnell einzugreifen, haben jetzt Verkehrspsychologen von Dekra gemeinsam mit Wissenschaftlern vom Lehrstuhl der Ingenieurpsychologie der TU Dresden untersucht. "Der Wechsel vom passiven Überwacher zum aktiven Operator als Reaktion auf die Systemaufforderung ist für den Menschen schon mit einigen Sekunden Vorwarnung durchaus anspruchsvoll", so Dr. Thomas Wagner, Verkehrspsychologe und Leiter der Begutachtungsstellen für Fahreignung bei Dekra. "Fahrende müssen rasch ein System- und Situationsverständnis aufbauen, innerhalb von Sekunden wichtige Entscheidungen treffen und sie in eine adäquate Fahrhandlung umsetzen." Beispielsweise könnte ein aufmerksamkeitssteuernder Sitz die Übernahme der Fahraufgabe von der Automatisierung auf SAE-Level 3 durch den Fahrer deutlich intuitiver und sicherer machen.

Was aber würde passieren, wenn in einer potenziell kritischen Situation die Aufforderung zur Fahrerübernahme ausbliebe, also eine Störung in der Mensch-Maschine-Schnittstelle auftreten würde? Genau dieser Aspekt ist Schwerpunkt der Studie: "Wir haben uns auf die Frage nach der Übernahmeleistung im Fall bei fehlerhaften Systemwarnungen fokussiert", erklärt Dr. Wagner. "Das kann zum einen der falsche Alarm sein, also eine Übernahme-Aufforderung ohne tatsächliche Gefahrensituation, zum anderen der stille Alarm, also das Ausbleiben einer Aufforderung zur Übernahme, obwohl sie notwendig wäre."

Felduntersuchung am Dekra-Lausitzring

Um diese Frage zu klären, haben die Forschenden eine Felduntersuchung durchgeführt. Für diese seien unter Studierenden der TU Dresden und der Fachhochschule Senftenberg sowie über öffentliche Netzwerke knapp 90 Probanden rekrutiert worden, von denen am Ende 36 an den Versuchsfahrten teilnahmen. Ihnen sei der tatsächliche Hintergrund der Studie nicht bekannt gewesen, wie die Forschenden berichten. Sie seien im Schnitt seit rund acht Jahren im Besitz einer Fahrerlaubnis der Klasse B, zwischen 19 und 48 Jahren alt und hätten durchschnittlich circa 9.400 km Fahrerfahrung pro Jahr.

Mit einem hochautomatisierten Testfahrzeug, das die vollständige Übernahme der Längs- und Querführung auf einer zuvor eingefahrenen Strecke ermöglicht, sei der Rundkurs auf dem Gelände des Dekra-Lausitzrings mehrmals durchfahren worden. Die Höchstgeschwindigkeit habe bei 50 km/h gelegen. Während der Testfahrten seien jeweils ein "falscher Alarm" und drei "stille Alarme" ausgelöst worden. In einem Fall habe das Fahrzeug eine Übernahmewarnung abgegeben, ohne dass tatsächlich eine kritische Situation gegeben war. "Die drei stillen Alarme betrafen das Überfahren einer Haltelinie mit Stoppschild, das langsame Abdriften auf die Gegenfahrbahn und das plötzliche Ausweichen vor einem irrtümlich erkannten Hindernis", erläutert Dr. Wagner. Alle vier Übernahmeszenarien seien aufgetreten, nachdem schon mehrere Runden ohne besondere Vorkommnisse durchfahren worden waren.

Ein Teil der Probanden habe den Auftrag erhalten, als passive Überwacher die automatisierte Fahrt zu verfolgen und dann gegebenenfalls einzugreifen, wenn sie es für notwendig hielten. Eine zweite Gruppe sollte während der automatisierten Fahrt zusätzlich eine visuell beanspruchende Nebentätigkeit an einem fest im Fahrzeug installierten Tablet erledigen. Die Übernahme sei jeweils als erfolgreich bewertet worden, wenn der Fahrer vor Erreichen des potenziellen Kollisionspunktes die korrekte Übernahmehandlung ausführte.

Falscher Alarm weniger problematisch 

Insgesamt habe sich die Übernahme nach einem "falschen Alarm" als wenig problematisch erwiesen: Alle Probanden hätten erfolgreich die Fahrzeugsteuerung übernommen, sowohl in der Experimentalgruppe mit Aufgabe am Tablet, als auch in der Kontrollgruppe, die keine Nebentätigkeit auszuführen hatte. "Beim stillen Alarm sah das anders aus", bilanziert Dr. Wagner. "Hier gab es deutliche Schwierigkeiten bei der Übernahme – und zwar ebenfalls in beiden Gruppen. Allerdings war die nicht erfolgreiche Übernahme in der Gruppe mit Nebentätigkeit über alle Szenarien hinweg etwa doppelt so häufig."

Mit der Nebentätigkeit sinke der Studie zufolge also in den meisten Fällen die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Übernahme beim "stillen Alarm". Auffällig sei für die Verantwortlichen der Studie aber gewesen, dass auch Personen ohne Nebentätigkeit teilweise erhebliche Schwierigkeiten hatten. Je nach Szenario seien in der Experimentalgruppe mit der Tablet-Aufgabe zwischen 58 und 89 % der Probanden bei der Übernahme im Fall des "stillen Alarms" nicht erfolgreich. In der Kontrollgruppe hätten die Werte zwischen 24 und 61 % gelegen. "Dass in dieser Gruppe, die keine Nebenaufgabe hatte, beim Überfahren der Haltelinie über 60 Prozent und beim Abkommen von der Fahrspur mehr als 30 Prozent nicht erfolgreich übernommen haben, hat uns überrascht", so Dr. Wagner.

Forschungslücke bei "stillen Alarmen" und älteren Fahrern

Gerade hinsichtlich der "stillen Alarme" gebe es aus Sicht der Dekra-Experten und TU-Wissenschaftler bisher eine Forschungslücke: Weniger als 10 % der bislang publizierten Arbeiten würden sich mit sogenannten "Disengagement-Situationen" befassen, also einem fehlerbedingten Systemausfall. "Der wahrscheinlich sicherheitskritischste Aspekt der hochautomatisierten Fahraufgabe ist in der bisherigen Forschungslage stark unterrepräsentiert", so Dr. Wagner. "Wir müssen die Frage diskutieren, ob eine Nebentätigkeit in Kombination mit einem Mindestmaß an Überwachung des Fahrsystems und der Verkehrslage, so wie sie das Gesetz in seiner aktuellen Form vorsieht, überhaupt menschenmöglich und sicher ausführbar ist", mahnt der Experte.

Eine weitere Forschungslücke besteht bei älteren Fahrern. "Bisherige Studien konzentrierten sich primär auf das Bewerten konkreter HMIs aus einer leistungsorientierten Perspektive und lassen dabei im Unklaren, ob und inwiefern Bedürfnisse und Anforderungen der älteren Verkehrsteilnehmenden in der Gestaltung Berücksichtigung finden", erklären Forschende der TU Darmstadt im Artikel Anforderungen älterer Fahrender an das HMI automatisierter Fahrzeuge aus der ATZ 5-2022. Wie ein irisches Forscherteam herausgefunden hat, deuten Untersuchungsergebnisse darauf hin, dass die Übernahmeleistung ältere Fahrer vergleichbar oder in einigen Fällen sogar besser ist als die der jüngeren Fahrer. Es seien jedoch noch weitere Untersuchungen erforderlich, um die volle Tragweite dieser Ergebnisse zu verstehen, da die meisten dieser Studien unter sehr vereinfachten Bedingungen durchgeführt worden seien. 

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