Skip to main content
Erschienen in:
Buchtitelbild

Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

2. Theoretischer Rahmen, zentrale Begriffe und Forschungsstand

verfasst von : Anna Landherr

Erschienen in: Die unsichtbaren Folgen des Extraktivismus

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

Aktivieren Sie unsere intelligente Suche, um passende Fachinhalte oder Patente zu finden.

search-config
insite
INHALT
download
DOWNLOAD
print
DRUCKEN
insite
SUCHEN
loading …

Zusammenfassung

In diesem Kapitel wird zunächst slow violence als zentrales Konzept innerhalb dieser Arbeit dargestellt, um den Forschungsgegenstand einzugrenzen und seine zentralen Elemente herauszuarbeiten. Von ihm ausgehend wird die bestehende Literatur und Forschung zu verschiedenen Mechanismen und Strukturen, die zur gesellschaftlichen Unsichtbarkeit dieser Form sozial-ökologischer Probleme führen, herausgearbeitet und dargestellt. Auf diese Weise wird einerseits die bestehende Forschungslücke, die anschließend empirisch bearbeitet wird, dargestellt und gleichzeitig werden jene Erklärungsansätze aufgeführt, die für meine Forschung relevant sind und später erneut aufgegriffen werden.

2.1 Slow violence-Phänomene: Mechanismen und Strukturen der Unsichtbarkeit

In diesem Kapitel wird zunächst slow violence als zentrales Konzept innerhalb dieser Arbeit dargestellt, um den Forschungsgegenstand einzugrenzen und seine zentralen Elemente herauszuarbeiten. Von ihm ausgehend wird die bestehende Literatur und Forschung zu verschiedenen Mechanismen und Strukturen, die zur gesellschaftlichen Unsichtbarkeit dieser Form sozial-ökologischer Probleme führen, herausgearbeitet und dargestellt. Auf diese Weise wird einerseits die bestehende Forschungslücke, die anschließend empirisch bearbeitet wird, dargestellt und gleichzeitig werden jene Erklärungsansätze aufgeführt, die für meine Forschung relevant sind und später erneut aufgegriffen werden. Die unterschiedlichen Theorien, die in diesem Kapitel aufgeführt werden, wurden für diese Arbeit so gewählt und operationalisiert, dass sie bezüglich ihrer Grundannahmen gegenüber dem Forschungsgegenstand kompatibel sind. Weiterführende Debatten zwischen den unterschiedlichen Theoriesträngen und Schulen etwa bezüglich teilweise unterschiedlicher ontologischer Vorannahmen, die sie vertreten, wurden zwar in ihrer Anwendung berücksichtigt, können allerdings hier nicht diskutiert werden, da dies den Rahmen der Arbeit sprengen würde.

2.1.1 Das Konzept der slow violence

Rob Nixon (2011) beschreibt slow violence in seinem Buch “Slow Violence and the Environmentalism of the Poor” – wie schon in der Einleitung angedeutet – als eine Form der Gewalt, die gewöhnlicherweise nicht als Gewalt anerkannt wird, weil sie ihre Wirkung langsam und graduell, oftmals über lange Zeitspannen hinweg entfaltet und auf diese Weise für die Betroffenen teilweise mit den bloßen Sinnen kaum oder gar nicht wahrnehmbar ist, bis sie schließlich meist unumkehrbare Schäden hinterlässt (Nixon 2011:2). Diese Art der Gewalt kann in allen Lebensbereichen auftreten und dort beobachtet werden. Besonders typisch ist sie allerdings im Bereich der ökologischen Probleme. Diese finden größtenteils nicht in Form von spektakulären Umweltkatastrophen statt, sondern breiten ihre Wirkung langsam und schleichend aus. Während Katastrophenereignisse von der Öffentlichkeit als greifbar und bedrohlich wahrgenommen werden, werden die schleichenden Umweltprobleme meistens schlichtweg nicht als Probleme erkannt. Das wohl prominenteste Beispiel hierfür ist der Klimawandel selbst, welcher sich in den letzten Jahrzehnten langsam zugespitzt hat und vor den 1990er Jahren kaum Beachtung in der Öffentlichkeit und der Politik gefunden hatte. Lediglich vereinzelte spektakuläre Auswirkungen wurden als ernstzunehmende Naturkatastrophen – beispielsweise Dürren oder Überschwemmungen – wahrgenommen, aber nicht in einem größeren Zusammenhang betrachtet.
Besonders oft stellen sich Umweltprobleme in Form einer slow violence dar, wenn die Schadstoffe, die sie verursachen, materiell unsichtbar sind. So ist es auch beim Gegenstand dieser Forschung, die sich mit den mit Chemikalien und Schwermetallen belasteten Rückständen des Bergbaus – den Tailings – befasst. Zwei weitere zentralere Punkte in dieser Art von slow violence sind die zeitliche Verzögerung zwischen Ursachen und Konsequenzen sowie eine räumliche Distanz zwischen VerursacherInnen bzw. NutznießerInnen der Ausbeutung bestimmter natürlicher Ressourcen und der von den im Abbauprozess entstandenen Schadstoffen betroffenen Bevölkerung (Nixon 2011:41). Es handelt sich dabei um drei Merkmale dieser Art von Umweltproblemen, die Nixon (2011:2) als representational obstacles beschreibt und die wesentlich zur Unsichtbarkeit dieser Umweltprobleme beitragen.
Nixon beobachtet, dass in der heutigen schnelllebigen Zeit den langsamen Zerstörungsprozessen keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. Gerade Umweltphänomene werden erst dann als problematisch identifiziert, wenn sie eine sensationelle, spektakuläre oder katastrophale Form annehmen. Deshalb werden bei Nixon im Gegensatz zu Galtungs (1975) statischer Idee der strukturellen Gewalt (siehe Abschnitt 2.1.2), auch die Fragen nach der Zeitdimension sowie nach Bewegung und Veränderung gestellt (Nixon 2011:11). Auf diese Weise soll die Komplexität der Umweltveränderungen und -schäden berücksichtigt werden, die oftmals die Eigenschaft haben, sich langsam und schleichend auszubreiten und dennoch im Laufe der Zeit verehrende und meist irreversible Folgen nach sich zu ziehen, die durch eine graduelle Veränderung und eine exponentielle Steigerung gekennzeichnet sind. Galtungs Theorie der strukturellen Gewalt erweiterte den Gewaltbegriff und bereitete so auch den Weg für das Konzept der slow violence. Allerdings geht slow violence oder schleichende Gewalt, die zwar häufig auch Formen struktureller Gewalt enthält, über diese hinaus und ermöglicht es, einen noch größeren Umfang an Gewaltformen zu beschreiben. Dabei wird nicht nur zwischen direkt und indirekt bzw. verdeckt handelnden Akteuren unterschieden, sondern darüber hinaus die Entfaltung von Gewalt über längere Zeiträume erfasst (ebd.:11). Der Zeitfaktor wirkt oftmals lähmend auf die individuelle und kollektive Handlung, da menschliches Handeln gegenüber schleichend eintretenden Problemen generell weit weniger ausgeprägt ist als gegenüber spektakulär eintretenden Katastrophen. Dieser Umstand wird – nach Nixon – durch zwei weitere Faktoren verstärkt: erstens durch die immer schneller werdenden geologischen Veränderungen in Zeiten des Anthropozäns – insbesondere ab Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts – das als „große Beschleunigung“ der Auswirkungen der Menschheit auf das Lebenssystem Erde beschrieben wurde (Steffen, Crutzen & McNeill 2007; Nixon 2011:12) sowie zweitens durch die zeitgleich immer schneller berichtenden und sensationsgesteuerten Medien, die die Aufmerksamkeitspanne ihrer NutzerInnen verkürzen. Letztere geraten in einen Zustand der ständigen Ablenkung, was im Wesentlichen zur Unsichtbarkeit von slow violence-Phänomenen beiträgt (Nixon 2011:13).
Dabei tragen laut Nixon auch viele weitere verschiedene Faktoren zur Unsichtbarkeit solcher Phänomene bei. Einerseits können die Materialität und die genannten Langzeitauswirkungen der schädlichen Substanzen sogar für die Naturwissenschaften schwer zu fassen sein (Robert und Langston 2008; Wehling 2006) – was weiter unten erläutert wird. Andererseits überschneidet sich die slow violence meistens mit anderen Ungleichheiten, weshalb es oft sozial benachteiligte und marginalisierte Bevölkerungsgruppen sind, die die Konsequenzen am stärksten zu spüren bekommen (Pellow 2005; Adams et al. 2011; Singer 2011; Folchi 2001; Martinez-Alier 2002). Die Betroffenen finden oftmals ohnehin schon wenig Aufmerksamkeit in Politik, Wirtschaft, Medien und eben auch der Sozialwissenschaften: „Their unseen poverty is compounded by the invisibility of the slow violence that permeates so many of their lives“ (Nixon 2011: 4).
Die neoliberale Ära verstärkte diese Ungleichheiten erneut. Sie führte ebenso zur Globalisierung des freien Marktes wie zu Privatisierung und Deregulierung. Auch die Unterbesteuerung der Superreichen, immer undurchsichtigere Finanzpraktiken und eine stetig wachsenden Schere zwischen den Überreichen und den Ultraarmen innerhalb und zwischen den Ländern zeichnet die letzten Jahrzehnte aus.1 Diese Praktiken und Verhältnisse, die immer wieder als „Klassenkampf von oben“ bezeichnet wurden (Krysmanski 2007; van Dyk 2019), verstärken die Mechanismen und strukturellen Aspekte, die Nixon (2011:41) als „capitalism’s innate tendency to abstract in order to extract“ beschreibt. Die globalen Ungleichheiten und die bestehenden Machtverhältnisse erschweren es, die Ursachen und Verursacher sozial-ökologischer Gewalt zu erkennen und die länderübergreifenden ökologischen Verantwortungen einzufordern (ebd.). Darunter fallen für Nixon (2011:41) vor allem auch folgende Dislozierungen: erstens die rhetorische Kluft zwischen dem Diskurs des globalen Fortschritts in Form eines für alle erreichbaren wachstumsgetrieben Konsums und seiner ökologischen Grenzen; zweitens die geografische Distanz zwischen den Orten, an denen produziert bzw. extrahiert wird und denjenigen, an denen konsumiert bzw. weiterverarbeitet wird; und drittens das temporäre Auseinanderfallen von kurzlebigen Handlungen und langlebigen Konsequenzen. Diese räumlichen und zeitlichen Distanzen machen die slow violence-Phänomene diffus und ungreifbar und stehen in engem Zusammenhang mit den Strukturen des heutigen Weltsystems.
Das Konzept der slow violence stellt sich einerseits als deskriptiv sehr passend und analytisch genau heraus, wenn es – wie in dieser Arbeit – um das Leben bestimmter Bevölkerungsgruppen in direkter Nachbarschaft zu schadstoffbelastenden Altlasten des Bergbaus geht. Andererseits zeichnen sich die slow violence-Phänomene durch eine Reihe von Eigenschaften aus, die Anknüpfungspunkte zu den weiter unten beschriebenen – meiner Ansicht nach aussagekräftigsten – Theoriesträngen und Erklärungsansätze herstellen, um die vorliegende Fragestellung bearbeiten zu können. Insofern kommt dem Konzept der slow violence eine doppelte Funktion zu: eine spezifische Art von sozial-ökologischen Problemen mit seinen Grundcharakteristika präzise zu beschreiben bzw. zu definieren und gleichzeitig einen gemeinsamen ordnenden Ausgangspunkt (neben der Heuristik) für weitere theoretische Ansätze darzustellen. Das Konzept von Rob Nixon (2011) ermöglicht es, Phänomene sowohl auf lokaler Ebene zu begreifen als auch deren Ursachen und (Nach-)Wirkungen auf nationaler und internationaler Ebene zu berücksichtigen. Es richtet zudem den Blick auf weitere zu erforschenden Bereiche, die zur Beantwortung der Forschungsfrage von Bedeutung sind. Schließlich fungiert es als Scharnier zwischen den in dieser Forschung empirisch untersuchten Fällen und den Strukturen und Rahmenbedingungen, in denen sie eingebettet sind. Die von einem bestimmten Bergwerk ausgehende Umweltverseuchung wird auf diese Weise nicht losgelöst vom gesamtgesellschaftlichen Umgang mit den Rückständen des Bergbaus betrachtet. Das Konzept der slow violence berücksichtigt demnach alle wesentlichen Kriterien, die dem Forschungsinteresse dieser Arbeit zugrunde liegen, sowie die zentralen Dimensionen und Kategorien, die zur Beantwortung der Fragestellung notwendig sind und im Laufe der Forschung durch die empirischen Erkenntnisse stetig erweitert wurden.
Das oben beschriebene Konzept der slow violence stellt den empirisch fundierten theoretischen Ausgangspunkt dieser Forschung dar.2 Dabei wird der Aspekt der Sichtbarkeit/ Unsichtbarkeit in den Vordergrund und in Bezug zu Wissen/Nichtwissen und action/inaction gestellt, da diese Kategorienpaare den Kern der Forschungsheuristik (siehe Kapitel 3) darstellen. Ihnen wird bei der Aufarbeitung der bestehenden Literatur besondere Bedeutung geschenkt. Des Weiteren beinhaltet slow violence einige Dimensionen, die berücksichtigt werden sollen, da sie erheblichen Einfluss von außen auf das Zusammenspiel der Heuristikelemente nehmen können. Besondere Relevanz für diese Forschung haben dabei die schon erwähnten räumlichen und zeitlichen Distanzen, die ungleiche Verteilung der Umweltprobleme auf lokaler, nationaler und globaler Ebene und die Materialität der Umwelt bzw. der Schadstoffe selbst. Dafür werden im Folgenden die zentralen Argumente aus der zu ihnen bestehenden Literatur aufgeführt. Je nach den empirischen Befunden und deren Relevanz zur Interpretation der Forschungsergebnisse werden diese im Laufe der weiteren Kapitel erneut aufgenommen. Vor allem aber richte ich mich dabei nach ihrer Relevanz für die Kategorien: Sichtbarkeit, Wissen und action.

2.1.2 Der Gewaltbegriff der slow violence

Rob Nixon stützt sich für die Konstruktion dieses Konzepts auf eine breite fachübergreifende Literatur sehr unterschiedlicher Herkunft, die grob in drei Kategorien aufgeteilt werden kann: a) AutorInnen, deren theoretische Ausführungen zur Definition und Eingrenzung des Gewaltbegriffs dienen, im Besonderen Johann Galtung und Frantz Fanon; b) bekannte (Sozial)WissenschaftlerInnen und progressive Intellektuelle, die sich inhaltlich mit slow violence-Phänomenen auseinandersetzen oder zu ihrer Sichtbarkeit beitragen, allen voran Rachel Carson, Ramachandra Guha und Edward Said, aber auch viele andere wie etwa Fernando Coronil, Naomi Klein, Mike Davis, Al Gedicks, John Berger oder Eduardo Galeano und schließlich c) AutorInnen die Nixon als „activist writers“ beschreibt und die teils auch selbst Gegenstand des Buches sind, wie Wangari Maathai, Ken Saro-Wiwa, Arundhati Roy, Indra Sinha, Derek Walcott, Abdelrahman Munif, Jamaica Kincaid oder June Jordan, um nur einige Namen zu nennen. Die Spannbreite an Literatur, von der das Konzept der slow violence geprägt wurde, ist somit breit und reicht von klassischen in der westlichen Wissenschaft hoch anerkannten TheoretikerInnen bis hin zu AktivistInnen, deren Anerkennungsraum inhaltlich und geografisch nicht über ihren Gegenstand hinausgeht, die allerdings auf lokaler Ebene große Wirkung erzielten. In diesem Sinne lässt sich mit dem Konzept sowohl an bestehende Debatten und Theoriestränge innerhalb der Sozialwissenschaften anknüpfen als auch die kritische Auseinandersetzung mit diesen suchen sowie den Beitrag zur Unsichtbarkeit oder Sichtbarkeit bestimmter Phänomene untersuchen, der von Akteuren der Zivilgesellschaft und sozial-ökologischen Bewegungen ausgeht. Für die theoretische Rahmung des Konzepts sind in meiner Forschung besonders die beiden unter a) genannten Autoren sowie die von diesen beeinflusste Dependenz- und Weltsystemtheorie, aber auch die neueren Debatten um (Neo)Kolonialismus, Politische Ökologie und Extraktivismus relevant. Im Folgenden werde ich auf diese wissenschaftlichen Strömungen und ihre Beziehung zum Konzept der slow violence deshalb näher eingehen.
Johan Galtung (1969) hat den Begriff der indirekten oder strukturellen Gewalt geprägt, welcher im Gegensatz zum herkömmlichen Verständnis von direkter persönlicher Gewalt steht. Galtung hatte dabei als Friedensforscher die Erweiterung des Gewaltbegriff im Sinn. Zudem wollte er alle bestehenden Gewalttypen identifizieren, beschreiben und unterscheiden. Dies ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil seine Definition von Frieden in der „Abwesenheit von Gewalt“ besteht. Gewalt liege dann vor, „[…] wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“ (Galtung 1972a:57). Ein solch weiter Gewaltbegriff ist für Galtung unabdingbar, da Gesellschaftsordnungen nicht mit Frieden vereinbar seien, die jegliche Form gewaltvoller Handlungen oder Verhältnisse beinhalten. Galtungs zentraler Anspruch bestand darin, einen breiten Gewaltbegriff zu konzipieren, der so umfassend sei, dass er die „[…] wichtigsten Varianten [von Gewalt] einschließt, gleichzeitig aber so spezifisch, daß er die Basis für konkretes Handeln angeben kann“ (Galtung 1972a:57). Dabei sollte vor allem auch jene Gewalt sichtbar gemacht werden, die bis zu diesem Zeitpunkt oftmals nicht als solche anerkannt war.
Galtung (1972a: 59) versteht Gewalt in der Folge als jeden Einfluss, der die „potentielle Verwirklichung“ eines Akteurs einschränkt. Dabei sind immer mindestens ein Subjekt, das beeinflusst, ein Objekt, das beeinflusst wird sowie eine Aktion der praktischen Einflussnahme involviert. Aus diesen drei Elementen besteht ein vollkommenes interpersonales Einflussverhältnis. Allerdings gibt es auch unvollkommene Formen dieses Verhältnisses, wo etwa das Subjekt oder das Objekt fehlen, die nach Galtung aber trotzdem als Gewalt definiert werden müssen. Die erste Unterscheidung ist diejenige zwischen physischer und psychischer Gewalt, die zweite diejenige zwischen negativer (Bestrafung) und positiver (Belohnung) Einflussnahme. Eine dritte Unterscheidung macht Galtung in Bezug auf das Objekt: gibt es ein Objekt, das verletzt worden ist oder nicht? Eine vierte bezieht sich auf das Vorhandensein oder der Abwesenheit eines Subjekts. Die fünfte rekurriert auf die Unterscheidung zwischen intendierter und nicht intendierter Gewalt und schließlich besteht die sechste Unterscheidung zwischen manifester und latenter Gewalt (ebd.: 59 f.).
Die für diese Arbeit ausschlaggebende Unterscheidung ist die vierte, die den Gewalttyp definiert: „Den Typ von Gewalt, bei dem es einen Akteur gibt, bezeichnen wir als personale oder direkte Gewalt; die Gewalt ohne einen Akteur als strukturelle oder indirekte Gewalt“ (Galtung 1972a:62). In beiden Fällen kann es zu den gleichen Folgen der Gewalt für das Objekt kommen. Im Fall der strukturellen Gewalt ist die Ausübung der Gewalt aber nicht auf einen konkreten Akteur zurückzuführen, sondern „in das System eingebaut und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen und folglich in ungleichen Lebenschancen“ (Galtung 1972a:62). Strukturelle Gewalt geht folglich auf ungleiche Zugänge zu Ressourcen – Einkommen, Bildungschancen, Rohstoffen – und Teilhabemöglichkeiten zurück (Scherr 2006: 112 f.). In den meisten Fällen überschneiden sich gleich mehrere dieser Ungleichheiten. Ein weiterer Aspekt der Unterscheidung zwischen den Arten von Gewalt ist für die vorliegende Arbeit und für die Verknüpfung mit dem später entstandenem Konzept der slow violence von Rob Nixon von besonderer Bedeutung: „Gewalt mit einer klaren Subjekt-Objekt-Beziehung ist manifest, weil sie als Aktion sichtbar ist […] Gewalt ohne diese Beziehung ist strukturell, in die Struktur eingebaut“ (Galtung 1972a: 63). Letztere ist demnach oftmals nicht als solche sichtbar und ihre zentrale Bedingung ist die soziale Ungerechtigkeit. Strukturelle Gewalt ist folglich potenziell unsichtbar: „Das Objekt der strukturellen Gewalt kann dazu überredet werden, überhaupt nichts wahrzunehmen. […] Strukturelle Gewalt ist geräuschlos, sie zeigt sich nicht – sie ist im Grunde statisch, sie ist das stille Wasser“ (ebd.: 67). Gleichzeitig gibt es laut Galtung keinen Grund zur Annahme, dass strukturelle und potenziell unsichtbare Gewalt weniger Leid bringen würde als personale Gewalt (ebd.: 68).
So zeigt sich, dass sich einige der von Galtung identifizierten Gewaltformen nicht ausschließlich auf explizite, physische, direkte, phänomenologische Gewalt reduzieren lassen, wie dies von einer Reihe von AutorInnen (bspw. Sofsky 1996) getan wird. Gewalt – so können wir im Anschluss an Galtung festhalten – kann sich auch implizit und systemisch artikulieren und es lässt sich nicht immer ein handelndes Subjekt identifizieren, das diese Gewalt auslöst, da dieses örtlich oder zeitlich weit entfernt sein kann. Die unterschiedlichen Gewaltformen (natürliche, kulturelle, strukturelle, direkte Gewalt) sind nicht getrennt voneinander zu betrachten, sondern überlappen sich oder bedingen sich teilweise sogar wechselwirkend (Grant-Hayford und Schleyer 2016: 2). Strukturelle Gewalt impliziert, dass die Gewalt in soziale Interaktionsformen und Prozesse eingebettet ist, statt unmittelbar von Personen auszugehen. Die Grundbedürfnisse eines Menschen werden hierbei durch äußere, relationale und vermeidbare Zwänge beeinträchtigt: „Folglich besteht strukturelle Gewalt immer dann, wenn ein in einem sozialen Interaktionssystem involvierter Akteur seinem Positions-, Status-, oder Rangveränderungswillen zur Sicherung seiner menschlichen Grundbedürfnisse nachgeht, dieser Wille aber eine indirekte, stillschweigende, hingenommene oder institutionell verfasste Blockade erfährt“ (Grant-Hayford & Schleyer 2016:2). Führt man eine theoretisch-konzeptionelle Dekonstruktion der strukturellen Gewalt durch, wie es Naakow Grant-Hayford und Victoria Schleyer (2016) getan haben, ergeben sich vier idealtypische Ausdrucksformen der jeweiligen Interaktionsformen, die zu struktureller Gewalt führen: Marginalisierung bzw. gesellschaftlicher Ausschluss, Penetration als Internalisierung der Weltanschauung der vorherrschenden Gruppe durch die unterworfene, Segmentierung oder bewusste Vorenthaltung oder Beeinflussung von Information zur Herstellung einer künstlichen Informations- und somit Machtasymmetrie, Fragmentation oder Trennung der unterworfenen Gruppe in mehrere kleinere Gruppen, um die Aktionskraft zu schwächen (Grant-Hayford und Schleyer 2016:5 ff.). All diese Formen der strukturellen Gewalt greifen meistens gleichermaßen bei slow violence-Phänomenen und werden in weiter unten aufgeführten Abschnitten dieses Kapitels im Detail dargestellt. Nixon (2011) erweitert diese Aspekte struktureller Gewalt noch auf weitere Formen der schleichenden Gewalt.
Neben Galtung hat auch Frantz Fanon das heutige Verständnis von Gewalt beeinflusst. Fanon prägte in seinem 1961 erstmals auf Französisch herausgegebenen Buch „Die Verdammten dieser Erde“ einen Gewaltbegriff, der für das Konzept der slow violence eine große Bedeutung hat. Besonders die Zeitkomponente in Fanons Verständnis von Gewalt ist ausschlaggebend für Nixon (2011:7). In seinem Buch widmet sich Fanon nicht nur der direkten Gewalt, die im Prozess der Kolonialisierung ausgeübt wurde. Er schenkt auch der Art von Gewalt besondere Aufmerksamkeit, die sich hinter der sogenannten Befriedungsprozessen, die maßgeblich zur Unterwerfung der EinwohnerInnen der kolonisierten Gebiete beigetragen haben, versteckt. Er beschreibt, wie die Werte und Strukturen, die aus diesen Prozessen entstanden sind, auch heute noch Gewalt in Form von neokolonialen Kontinuitäten ausüben und im Wesentlichen wiederum dazu beitragen, diese Strukturen aufrechtzuerhalten. Als Psychiater interessieren ihn dabei vor allem die psychischen Nachwirkungen sowohl der bewaffneten Auseinandersetzungen während der Kolonisierung und der Befreiungskämpfe, aber eben auch jene Langzeitfolgen, die die kolonialen Strukturen im Allgemeinen mit sich bringen. Fanon sieht dabei so massive Folgen der kolonialen Gewalt in der Psyche der Kolonisierten, dass deren einziger Weg der Genesung die Anwendung von Gewalt (es wird nie ganz klar welcher Art von Gewalt) und die erst dadurch vollzogene vollständige Befreiung von „dem“ Kolonialherren darstellt (Fanon 2018 [1961]: 29 ff., 61 ff., 210 ff.). Während manche KritikerInnen – allen voran Hannah Arendt (2003:66) – darin einen positiven Gewaltbegriff oder gar die Verherrlichung von Gewalt sehen, werden Fanons Überlegungen von vielen Intellektuellen – besonders des globalen Südens – als passend für die dort vorherrschende (neo)koloniale Realität wahrgenommen (Coronil 1996; de Sousa Santos 2010; Machado 2011; Mbembe 2020; Sartre 1961). Fanon wird in diesem Kontext nicht nur zu einem wichtigen Referenten für antikoloniale Bewegungen weltweit, sondern zeigt zugleich die Gewalt auf, die sich in den internationalen Machtverhältnissen und besonders in der Nord-Süd-Beziehung abspielt (siehe 2.2.4.).
Das Konzept der strukturellen Gewalt von Galtung in Kombination mit einem von Fanon geprägtem prozesshaften Verständnis einer Gewalt, die über die Zeit ihre Wirkung entfaltet stellen die Grundsteine der slow violence von Nixon (2011) dar und ermöglichen es, die über ökologische Prozesse vermittelte Gewalt, wie die der Schadstoffbelastung durch die Tailings des chilenischen Bergbaus, die den Forschungsgegenstand dieser Arbeit darstellen, als solche zu begreifen und zu untersuchen. Während die Auswirkungen dieser slow violence-Phänomene sowie der Umgang mit ihnen in drei Fallstudien empirisch erforscht wurden und in den Kapitel 6, 7 und 8 im Detail dargestellt werden, sind ihre Ursachen teilweise tief in den strukturellen Rahmenbedingungen verankert. Deshalb werden diese Rahmenbedingungen sowie die ihnen zugrunde liegenden national und global bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse in den folgenden Abschnitten anhand der bestehenden Literatur dargestellt, um anschließend ab Kapitel 3 zu der Forschungsfrage, der -heuristik und den gewählten Forschungsmethoden überzugehen und ab Kapitel 5 in den empirischen Teil dieser Arbeit einzutauchen.

2.2 Strukturelle Unsichtbarkeit durch nationale und internationale Macht- und Herrschaftsverhältnisse

Um slow violence-Phänomene in ihrer Gänze nachvollziehen zu können, ist es notwendig, zunächst von der lokalen Ebene, auf der sie ihre Wirkung entfalten, auf die globale Ebene zu wechseln. Auf diese Weise wird das komplexe Zusammenspiel aus Ursachen, Strukturen und Mechanismen, die sie ermöglichen und den in diesen Verhältnissen handelnden Akteuren deutlich. Dies ist insbesondere deshalb von Bedeutung, da auch die bestehenden und institutionalisierten Macht- und Herrschaftsverhältnisse auf nationaler und internationaler Ebene direkt zur Unsichtbarkeit der hier untersuchten slow violence-Phänomene beitragen. In besonderem Maße trägt die zeitliche und räumliche Distanz zwischen den Verantwortlichen sowie den NutznießerInnen, das heißt in diesem Fall zwischen den Extraktions- und Produktionsstätten naturintensiver Güter und den KonsumentInnen des Endprodukts, zur allgemeinen Unsichtbarkeit sozial-ökologischer Schäden an den Orten der Aktivitäten des Bergbaus bei (Nixon 2011: 41). Es handelt sich dabei um eine Form der Gewalt, die sich zwar auf lokaler Ebene ganz konkret auf Körper, Lebensformen, Lebensgrundlagen und Ökosysteme auswirkt, deren Ursachen jedoch gleichzeitig auf nationaler und internationaler Ebene in komplexe Güterketten, Arbeitsteilungen und abstrakte Abhängigkeiten eingebunden sind (Hornborg & Martinez-Alier 2016; Frey, Gellert & Dahms 2019). Obwohl slow violence besonders in lokalen Formen von sozial-ökologischen Beeinträchtigungen auftritt, ist sie in der Regel fest mit einer verbreiteten gesellschaftlichen Produktions- und Lebensform als Ganze, die zudem oft in anderen Weltregionen dominant ist (Brand & Wissen 2017), sowie einem Entwicklungspfad – insbesondere dem in Lateinamerika verbreiteten commodities consensus (Svampa 2012, 2015b) –und einem Weltbild mit einer strengen Trennung von Mensch und Natur verbunden (Merchant 1987; Moore 2020). Aufgrund dieses engen Zusammenhangs zwischen weltweiter und lokaler Ebene wird in den folgenden Abschnitten zunächst auf die Funktionsweise des bestehenden globalen Wirtschaftssystems und den aus ihm resultierenden Machtasymmetrien und Ungleichheiten eingegangen, um daraufhin einen Fokus auf die mit diesen zusammenhängenden Stoffströmen und Formen der Ressourcenausbeutung, -aneignung und -verteilung zu legen. Die damit auf theoretischer Ebene beleuchteten Zusammenhänge betreffen – wie weiter unten deutlich wird – auch den chilenischen Bergbau und tragen im Wesentlichen zur Aufrechterhaltung der Produktion von Tailings, Altlasten und giftigen Abfällen der Bergbauindustrie bei. Die globalen Strukturen stellen den Rahmen dar, in dem sich die AkteurInnen bewegen, die im empirischen Teil dieser Arbeit zu Wort kommen werden.

2.2.1 Der expansive globale Kapitalismus und die Grenzen des Wachstums

Der Kapitalismus als Wirtschaftssystem hat einen inhärent expansiven Charakter: Er muss in seinem Wirkungsbereich immer weiter ausgreifen und sich stets auf neue Gebiete, Felder und Räume ausbreiten, um bestehen zu können (Arrighi & Moore 2001; Dörre 2009). Der historische Beginn dessen, was wir heute als globalisierten Kapitalismus kennen, ist allerdings umstritten. Während VertreterInnen unterschiedlicher Arten des Entwicklungsdenkens – von modernisierungstheoretischen bis hin zu marxistischen AutorInnen (Dobb 1946; Rostow 1966; Brenner 1977) die Entstehung des Kapitalismus vorwiegend auf die endogenen Veränderungen in Westeuropa ab dem Ende des 18. Jahrhunderts zurückführten, war in den lateinamerikanischen Debatten vor allem die Ansicht verbreitet, dass die Kolonialisierung den Anfangspunkt des heutigen kapitalistischen Weltsystems darstellt (Frank 1969; Marini 1974; Machado 2014; Wallerstein 2019). Demnach hat die Ausbeutung der Kolonien im Wesentlichen zur Entwicklung der Kolonialstaaten beigetragen und zu einer funktionalen Arbeitsteilung der Weltregionen geführt, die weitgehend bis heute fortbesteht. Seitdem existieren die nach wie vor bestehenden „[…] Strukturen relationaler, miteinander in Beziehung stehender Ungleichheiten, für Prozesse der Reichtumsproduktion und Wohlstandssteigerung mit Hilfe, auf Kosten und zu Lasten Dritter“ (Lessenich 2016: 39). Diese Kosten sind allerdings nicht nur ökonomischer oder sozialer Natur, sie zeigen sich auch in Form einer stetig zunehmenden Umweltbelastung, die vor allem die Peripherien der Weltwirtschaft betrifft (Foster, Clark & York 2011: 76 f.; Schaffartzik & Kusche 2020). Die ressourcenreichen und umweltregulierungsarmen Länder haben die Rolle der Rohstofflieferanten übernommen und setzen alle ihre Karten auf den Extraktivismus (siehe Abschnitt 2.3.8) als einzige realistische Strategie hin zu wirtschaftlichem Wachstum im Namen des Fortschritts (Svampa 2015a). Sie tun dies allerdings nicht aus freien Stücken, sondern sind zu einem großen Anteil durch ihre Abhängigkeit und aufgrund struktureller Zwänge in ihrer Position im Weltsystem gefangen (Dos Santos 1970; Marini 1974; Graf et al. 2020). Vor allem in Lateinamerika ist diese Tendenz in den letzten Jahrzehnten sowohl bei liberalen als auch bei progressiven Regierungen stark verbreitet und führt zu einem komplexen Szenario sich zuspitzender sozio-ökologischer Probleme und Konflikte (Acosta 2009; Gudynas 2019). Die Bilder brechender Dämme, ausgetrockneter Flüsse, abgeholzter Naturwälder, riesiger Müllberge und von der Verseuchung ganzer Landstriche und Dörfer durch Pestizide sind mittlerweile allgegenwärtig. Durch „kapitalistische Landnahmen“ (Dörre 2009) und der „Akkumulation durch Enteignung“ (Harvey 2004) werden sozial-ökologische Ungleichheiten produziert, die sich in sozialen Verteilungskonflikten der Kosten äußern (Hornborg & Martinez-Alier 2016) sowie allerdings auch eine Reihe bis jetzt noch fast unbeachtete Konsequenzen mit sich ziehen. Zudem zeigen sich nicht alle Folgen der menschlichen Intervention, Zerstörung und Ausbeutung der Natur in Form von Katastrophen, spektakulären Unfällen oder wahrnehmbaren Ungleichheiten. Die allermeisten von ihnen kommen schleichend und unbemerkt, sie häufen sich über lange Zeiträume an und verbreiten sich langsam (Nixon 2011), sie konzentrieren sich vor allem in den Peripherien des globalen Südens außerhalb des Wahrnehmungsbereichs der kapitalistischen Zentren (Altvater 1992; Bunker 2005; Hornborg & Martinez-Alier 2016; Lessenich 2016; Brand und Wissen 2017). Die Gründe dafür liegen hauptsächlich in der internationalen Arbeitsteilung des kapitalistischen Weltsystems.

2.2.2 Das kapitalistische Weltsystem: die Makrostruktur der slow violence

In dieser Arbeit wird die Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein als Grundlage zum Verständnis der heutigen internationalen Arbeitsteilung verwendet. Dies ermöglicht es, die untersuchten Fälle im internationalen Kontext zu verstehen und die dort bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse bei der Interpretation der Daten zu berücksichtigen. Dies ist von besonderer Relevanz, da der chilenische Bergbau fast ausschließlich für den Export produziert, von großen internationalen Unternehmen dominiert wird und direkt den Preisschwankungen auf dem Weltmarkt unterliegt (siehe Landherr 2018 und Kapitel 5). Was auf lokaler Ebene geschieht, steht somit in direktem Zusammenhang mit der Position Chiles als Rohstofflieferant innerhalb des Weltmarktes und seiner wirtschaftlich neoliberal-extraktivistischen Ausrichtung (Landherr, Graf & Puk 2019).
Die Weltsystemtheorie von Wallerstein basiert ebenso wie der Begriff der slow violence unter anderem auf Überlegungen von Johann Galtung zum strukturellen Imperialismus (Galtung 1971) sowie einer Perspektive auf ökonomische Abhängigkeiten, die ihren Ursprung in den Debatten der DependenztheoretikerInnen hat, die bis Anfang der 1970er Jahre in Lateinamerika geführt wurden (Zünddorf 2010; Schmalz 2016). Beide – Galtung und die dependentistas3 – suchten nach den Gründen für die enorme Ungleichheit innerhalb und unter den Nationen sowie für die Beständigkeit dieser Ungleichheit (Galtung 1971: 81).4 Das Dependenz- und Weltsystemdenken ist aus der Erkenntnis entstanden, dass die globalisierte Wirtschaft – entgegen der damals verbreiteten Auffassung – keinen Ort darstellt, an dem sich alle Länder unter gleichen Bedingungen begegnen, sondern von asymmetrischen Produktions- und Handlungsbeziehungen zwischen Weltregionen und Ländern geprägt ist (Schmalz 2016: 56 ff.). Auf diese Weise grenzen sie sich klar von der Modernisierungstheorie ab, in der „Entwicklung“ und „Unterentwicklung“ auf gesellschaftsimmanente Faktoren wie etwa Kultur zurückgeführt wurde (König 1969) und die von einem teleologischen Stufenmodell ausgeht, in dem jede Gesellschaft eine Entwicklung von der „traditionellen“ zur „modernen“ Gesellschaft durchlaufen muss (Rostow 1966; kritisch: Furtado 1972: 128 ff.; Menzel 2010: 91 ffI.).5 Diese Stadientheorie erwies sich als wirkungsvolles intellektuelles und politisches Werkzeug, um die „am weitesten entwickelten“ Staaten als Modell für die „weniger entwickelten“ darzustellen und ihnen einen höheren Lebensstandard und eine liberale staatliche Struktur zu versprechen, wenn sie dem Beispiel dieser Staaten folgen (Wallerstein 2019:15). Aber besonders durch internationale Abhängigkeits- und Ungleichheitsverhältnisse kommt es dazu, dass die Länder der kapitalistischen Zentren maßgeblich die globalen Spielregeln, unter denen gehandelt wird, bestimmen, während die restlichen Länder (die Peripherien) von ihnen abhängen und sich diesen Regeln anpassen müssen. Die „Unterentwicklung“ der peripheren Länder war laut den dependentistas nicht vorwiegend einem internen Versagen geschuldet, wie es damals von den hegemonial gültigen Modernisierungstheorien dargestellt wurde, sondern größtenteils schon von außen vorgegeben (Prebisch 1950; Frank 1969; Furtado 1972; Marini 1974). Weiter noch bestand die These der DependenztheoretikerInnen darin, dass eben diese Einbettung in den Weltmarkt sie in eine Dynamik der „Unterentwicklung“ drängte, die wiederum direkt mit der „Entwicklung“ der europäischen und US-amerikanische Zentrumsländer zusammenhing (Frank 1969; Marini 1974). Der kapitalistische Weltmarkt hatte sich außerdem nicht in einem neutralen Kontext entwickelt, sondern in und auf den bestehenden Handelsbeziehungen und Strukturen des europäischen Kolonialismus. Letzterer etablierte ab dem 16. Jahrhundert eine weltweite Arbeitsteilung,6 in der zuerst Lateinamerika und später Afrika und Teile Asiens die Rolle der Rohstoffproduzenten (besonders Edelmetalle und Agrarprodukte) für den Export in die Zentrumsländer zugewiesen wurde (Wallerstein 1986: 99 ff., 152 f.). Später wurden von diesen Regionen dann auch zunehmend Industrieprodukte von den Zentrumsländern importiert (ebd.: 341 ff.).
Der Grundbaustein des Dependenzdenkens sowie der Weltsystemanalyse bestand in der Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie, die ihren Ursprung in den Veröffentlichungen der damals von Raúl Prebisch geleiteten Wirtschaftskommission für Lateinamerika der Vereinten Nationen (ECLA) hatte und anschließend von einer Reihe von AutorInnen ausgearbeitet wurde (Prebisch 1950; Frank 1969; Wallerstein 2019:18 f.). André Gunder Frank (1969) prägte in diesem Kontext den Ausdruck der „Entwicklung der Unterentwicklung“, um darzustellen, dass es sich dabei nicht um ein „natürliches Entwicklungsstadium“, sondern um eine von außen hergestellte und zu der „Entwicklung“ anderer Länder relationale Situation handelte (Frank 1969), die Resultat der Politik von großen Unternehmen, bedeutenden Staaten (des Zentrums) und zwischenstaatlichen Behörden war (Wallerstein 2019:17). Die sogenannte „Unterentwicklung“ ist in diesem Sinne nicht trotz, sondern gerade wegen der Integration der (post)kolonialen Länder in den globalen Kapitalismus entstanden (Frank 1969). Die „Unterentwicklung“ jener Länder, die Frank damals noch die Satelliten nannte, stehe direkt in einem notwendigen Zusammenhang mit der Entwicklung der Metropolen (ebd.: 35 f.): „Unterentwicklung“ meint daher kein zeitlich vor der „Entwicklung“ stehendes Stadium, sondern ist Resultat der „Entwicklung“ anderer Länder. Außerdem bestehe – so die spätere verbreitete Formulierung – ein Verhältnis der Abhängigkeit (Dependenz), das nicht einer wechselseitigen Interdependenz entspreche, sondern ein asymmetrisches Verhältnis beschreibe, das durch die politische Macht einiger weniger Staaten abgesichert wird. Die Wirtschaft der peripheren Länder wird durch die Entwicklung, Akkumulation, und Expansion der Zentren dominiert (Dos Santos 1970: 231). Neben schwankenden terms of trade und globaler Nachfrage auf den Rohstoffmärkten hingen abhängige Länder unter anderem bezüglich Investitionsgütern, Devisengenerierung, technischem Know-How, Investitionen transnationaler Unternehmen und Absatzmärkten von den Zentrumsökonomien ab (ebd.: 232 ff.; Graf et al. 2020: 15 f.).
Nach Immanuel Wallerstein ist das moderne Weltsystem, in dem diese Abhängigkeiten bestehen, gleichzusetzen mit der kapitalistischen Weltwirtschaft.7 Wallerstein versteht unter Kapitalismus eine Wirtschaftsform, die durch das Streben nach unendlicher Kapitalakkumulation gekennzeichnet ist: „Wir befinden uns nur dann in einem kapitalistischen System, wenn die unendliche Akkumulation von Kapital in dem System Priorität hat […]. Unendliche Akkumulation ist ein recht einfaches Konzept: Es bedeutet, dass Menschen und Unternehmen Kapital akkumulieren, um noch mehr Kapital zu akkumulieren – ein stetiger und unendlicher Prozess“ (Wallerstein 2019: 29 f.). Gleichzeitig könne der Kapitalismus nur in einem weltwirtschaftlichen Rahmen gedeihen, der viele politische Systeme enthält, sich aber nie selbst zu einem einzigen „politischen System“ entwickelt (Wallerstein 1986: 518), da der Kapitalismus eine „[…] ganz besondere Beziehung zwischen ökonomischen Produzenten und politischen Machthabern voraussetzt“ (Wallerstein 2019:30). Laut Wallerstein muss zwischen ihnen das richtige Gleichgewicht herrschen, da Kapitalisten zwar einen großen (nur teilweise) freien Markt brauchen, andererseits aber auch davon abhängen, dass es eine Vielzahl von Staaten gibt (sich also keine zu großen Imperien bilden), damit eine Auswahlmöglichkeit zur Durchsetzung der Interessen gewährleistet ist.
Das wesentliche Kennzeichen des modernen Weltsystems ist für Wallerstein die internationale Arbeitsteilung: „Diese Teilung ist nicht nur funktional – das heißt tätigkeitsbezogen – sondern auch geographisch. […] Zum Teil ist dies natürlich eine Folge ökologischer Rücksichten, doch zum größten Teil ist es eine Funktion der sozialen Organisation der Arbeit, einer, die die Fähigkeit einiger Gruppen innerhalb des Systems, die Arbeit der anderen auszubeuten, d. h. einen größeren Anteil am Überschuß zu erhalten, vergrößert und legitimiert“ (Wallerstein, 1986: 519). Aufgrund unterschiedlicher ökonomischer Notwendigkeiten bilden sich in den verschiedenen Weltregionen unterschiedliche Arbeitsformen heraus, weshalb in ein und demselben Weltsystem die freie Lohnarbeit mit Sklaverei und zahlreichen Zwischenformen der Ausbeutung koexistieren (van der Linden 2008: 17 ff.; Heinze 2009: 17).8
Das Weltsystem besteht für Wallerstein aus Zentralstaaten, Semiperipherie und Peripherie, wobei sich erstere durch eine überwiegend kapitalintensive Produktion, hohe Kapitalkonzentration und das Vorhandensein eines starken Staates in Kombination mit einer Nationalkultur auszeichnen (Wallerstein 1984: 47; ebd. 1986: 520). Die Stärke des Staates lässt sich Wallerstein zufolge an seiner Fähigkeit, seine Interessen gegenüber anderen Staaten und bestimmten Gruppen innerhalb des eigenen Staatsgebietes durchzusetzen, bemessen (Wallerstein 1986:527). Im Mittelpunkt stünden dabei seine wirtschaftlichen Interessen und die „seiner“ Unternehmen. Den wichtigsten Mechanismus zur Durchsetzung dieser Interessen stellten die „eigenen“ Oligopole oder Quasi-Monopole dar (Wallerstein 2019: 32 f.).9 Auch die Größe der Unternehmen nimmt historisch gesehen stetig zu und erhöht auch den politischen Einfluss einzelner Unternehmen (ebd.: 34).
Zentrum-Peripherie ist für Wallerstein ein relationales Konzept, bei dem es zu einer Konvergenz zwischen Profitabilität und Monopolisierung entlang der globalen Ungleichheitsachse kommt (Wallerstein 2019: 34). Profitabilität steht dabei in direkter Beziehung zum Grad der Monopolisierung, weshalb zentrumstypische Produktionsprozesse meist durch Quasi-Monopole kontrolliert werden (ebd.). In den peripheren Prozessen hingegen würde wirklich konkurriert, weshalb diese Produkte im Austausch in einer schwachen Position gegenüber den quasi-monopolitisierten stünden (ebd.). Daraus resultiere eine Form des ungleichen Tauschs: „Die Konsequenz ist ein ständiger Mehrwertabfluss von den Produzenten der peripheren Produkte zu jenen der zentrumstypischen Produkte“ (Wallerstein: 2019:34). Dieser globale ungleiche Tausch hängt für Wallerstein mit einem ungleichen Staatensystem zusammen:
„Da Quasi-Monopole von der Unterstützung starker Staaten abhängen, haben sie dort auch überwiegend ihren Sitz -juristisch, physisch, und im Sinne der Eigentümerschaft. Darum hat die Zentrum-Peripherie-Beziehung geografische Auswirkungen. […] Wir können von Zentrumsstaaten und peripheren Staaten sprechen, solange wir im Hinterkopf behalten, dass es dabei um die Beziehung zwischen den jeweiligen Produktionsprozessen geht.“ (Wallerstein 2019: 35)
Da sich Quasi-Monopole immer wieder selbst erschöpfen, kommt es zu Dynamiken, durch die zentrumstypische Produktionsprozesse zu peripheren Prozessen werden können. Diese Art dieser Verschiebung habe allerdings keinerlei Auswirkungen auf die Struktur des Weltsystems als Ganzes (Wallerstein 2019: 35). Gleichzeitig können die starken Staaten jene Quasi-Monopole mit zentrumstypischen Prozessen besser schützen, während schwache Staaten meist unfähig sind, die axiale Arbeitsteilung zu beeinflussen, weshalb sie gezwungen sind, die Angebote der Zentrumsstaaten zu akzeptieren (ebd.: 34). Periphere Gebiete sind damit durch arbeitsintensive (also nicht kapitalintensive) Produktionsweise geprägt. Sie haben eine hohe Konkurrenz auf dem Weltmarkt, weshalb die Profitrate schnell fällt. Sie zeichnen sich durch schwache Staaten aus, die (solange sie überhaupt formal unabhängig sind) wirtschaftlich meist in starker Abhängigkeit zu einem oder mehreren Zentralstaaten stehen, was einer neokolonialen Situation entspricht (Wallerstein 1986:520). Die Zwischenposition der semiperipheren Regionen kennzeichnet „[…] eine nahezu ausgeglichene Mischung von zentrumstypischen und peripheren Produkten“ (Wallerstein 2019: 35). Semiperiphere Staaten stehen meistens unter starkem Druck seitens der Zentrumsländer und üben gleichzeitig großen Druck auf die Peripherien aus. Um ihre Position zu erlangen und zu halten, sei ein erheblicher Staatseingriff in den Weltmarkt und eine aggressive „protektionistische Politik“ erforderlich (ebd.: 36).
Die dargelegte Struktur des Weltsystems aus Zentrum, Semiperipherien und Peripherien ist laut Immanuel Wallerstein über mehrere Jahrhunderte intakt geblieben, obwohl es durchaus zu einer Dynamik aus Auf- und Abstiegen gewisser Regionen in der Hierarchie des Gesamtsystems gekommen sei. Einer der bedeutenden Aufstiege der letzten Jahrzehnte ist ganz offensichtlich derjenige Chinas (Schmalz 2018a). Damit könnte die globale Weltwirtschaft bald durch einen konkurrierenden Zentrumsstaat geprägt werden (ebd.: 2018a: 404 ff.). Solange dieses Weltsystem allerdings als Ganzes funktioniere und nicht durch seine eigenen Widersprüche in eine existenzbedrohende Krise gerate, könne kein einzelner Staat die Grundregeln der kapitalistischen Weltwirtschaft verletzten, ohne massiv an Bedeutung im Weltsystem zu verlieren (Heinze 2009: 22). Wallerstein selbst vermutet jedoch, dass sich die kapitalistische Weltwirtschaft heute, nicht zuletzt aufgrund steigender Produktionskosten, knapperen Ressourcen und der „Erschöpfung des verfügbaren Platzes zur Müllentsorgung“ in einer strukturellen Krise befinde (Wallerstein 2019: 93). Die steigende Internalisierung all der sozialen und ökologischen Kosten würde das kapitalistische System zunehmend unprofitabel machen (ebd.: 90 ff.).

2.2.3 Der ungleiche Tausch im kapitalistischen Weltsystem

Die Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse zwischen Staaten und Regionen werden in besonderem Maße im Rahmen eines ungleichen Tausches reproduziert und aufrechterhalten. Der Ursprung des Konzeptes des ungleichen Tauschs entstammt aus den Überlegungen von Arghiri Emmanuel, der diese in den 1950er Jahren auf Grundlage der Werttheorie von Karl Marx und in Anlehnung an die Theorie des „komparativen Kostenvorteils“ von David Ricardo entwickelte (Emmanuel 1972). Ricardos Theorie dominiert bis heute die Wirtschaftswissenschaften und besagt – kurz gesagt –, dass jedes Land durch die Integration in den internationalen Handel reicher werden kann, wenn es sich auf die Produktion jener Güter spezialisiert, die es aufgrund seines „[…] Klima[s] sowie seine[r] anderen natürlichen oder künstlichen Vorteile […]“ relativ (komparativ) günstiger herstellen kann als andere Länder (Ricardo 1959: 118). Auf diese Weise würden sich internationaler Handel und die internationale Arbeitsteilung für alle Staaten als vorteilhaft darstellen (Ricardo 1959: 114 ff.; Furtado 1972: 192 ff.). Diese Wirtschaftstheorie steht in direktem Zusammenhang zu einer liberalen Wirtschaftspolitik, die in peripheren Staaten oftmals durchgesetzt wird, um eine starke Exportorientierung und Öffnung der Wirtschaft zu forcieren.
Die (ursprüngliche) Theorie des ungleichen Tauschs besagt dementgegen, dass auf den internationalen Märkten ungleiche Arbeitsmengen getauscht würden, was die Zentren gegenüber den Peripherien einseitig begünstigte. Dabei würden Produkte, für deren Herstellung viel Arbeit benötigt würde, gegen Produkte getauscht, für die nur wenig Arbeit notwendig war (Emmanuel 1972: 160 ff.). In den Kontroversen, die auf Emmanuels Theorie des ungleichen Tauschs folgten, war dessen arbeitswerttheoretische Begründung im Anschluss an Marx hoch umstritten (Sablowski 2019: 23 ff.). Im Folgenden löste sich die Debatte vom Fokus auf die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der marxschen Arbeitswerttheorie. Wallerstein ergänzt diese Definition durch die Feststellung, dass es zudem für die Mehrheit der in den Zentrumsstaaten hergestellten Produkte weltweit wenig Konkurrenz gibt, da sie von wenigen Unternehmen hergestellt werden. Durch diese geringe Konkurrenz können Preise erzielt werden, die deutlich über den Produktionskosten liegen und hohe Profitraten ermöglichen. Bei Produkten aus Peripherie-Staaten hingegen stehen die Produzenten meistens in starker Konkurrenz zu denen aus anderen Staaten und können kaum Einfluss auf die Preise nehmen, welche meistens kaum höher als die Produktionskosten sind (Wallerstein 2019: 32–35). Daraus folgt, „[…] dass Unternehmen der Zentralstaaten die Exporte der Peripherie-Gebiete (Rohstoffe, Lebensmittel, Kleidung, etc.) aufgrund der großen Konkurrenz zu sehr niedrigen Preisen einkaufen können, während sie ihre Exporte (Maschinen, Traktoren, Impfstoffe, etc.) zu sehr hohen Preisen an die Peripherie-Gebiete verkaufen können, da es wenig Konkurrenz gibt und die Unternehmen der Staaten der Peripherie mangels Alternativen gezwungen sind, die hohen Preise zu akzeptieren. Auf diese Weise wird durch internationalen Handel kontinuierlich ein großer Teil des Mehrwerts aus den Gebieten der Peripherie und Semiperipherie in die Zentralstaaten transferiert“ (Heinze 2009: 27).
Diese Dynamiken des ungleichen Tauschs verfestigen die Positionen der einzelnen Länder in der internationalen Arbeitsteilung. In den Zentrums-Staaten können Steuern dazu genutzt werden, einen Teil des Mehrwerts in die weitere Stärkung des Staates, der Infrastruktur oder den Ausbau neuer Technologie, die eine weitere Produktivitätssteigerung ermöglichen, zu investieren. Die Unternehmen wiederum können auf die Forderungen der ArbeiterInnen besonders bzgl. Lohnerhöhungen eingehen und somit Klassenkämpfe abmildern und die reibungslose Kontinuität der Produktion sichern (Brand & Wissen 2017: 70). In den Peripherien gibt es auf Grund des Drucks des Weltmarkts kaum Spielraum für Lohnerhöhungen und andere Formen der Umverteilung, was die Klassenkämpfe in diesen Regionen in eine schwierige Lage versetzt (Silver 2005). Die Zentrums-Staaten können somit für Stabilität und Zufriedenheit der Bevölkerung sorgen, was ihnen wiederum eine bessere Ausgangssituation bei der Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber anderen Staaten verleiht. Die Unternehmen in den (post)kolonialen Ländern spezialisieren sich hingegen mehrheitlich auf das Erzielen von Gewinnen und Wettbewerbsvorteilen durch niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten, massenhafte Verfügbarkeit von Arbeitskräften und niedrige Arbeits- und Lebensstandards (Marini 1974: 105, 113 ff.). Während sich die Länder der Zentren auf die Gewinnung des relativen Mehrwerts fokussieren, konzentrieren sich die anhängigen Länder auf die Ausbeutung eines maximalen absoluten Mehrwerts (ebd.: 105 ff., 112–119). Diese Dynamik werde durch Gewinn- und Wertabflüsse aus den Peripherien in die Zentren noch verstärkt (ebd.: 114 f.) und führt zur Überausbeutung der Arbeit in den Peripherien, welche nicht nur mit niedrigen Löhnen, sondern zeitweise auch mit Formen gebundener und sklavenartiger Arbeitsregime einhergehe (ebd.: 115 ff.).
An den gewählten Konzepten – wie Kapitalismus, Mehrwert, Ausbeutung und Klassenkampf – wird deutlich, dass ein marxistischer Einfluss und zentrale marxistische Grundbegriffe die Dependenztheorien und den Weltsystemansatz stark prägten (Imbusch 1990). Dies hatte auch Auswirkungen auf die Analyse der endogenen (Klassen)Verhältnisse innerhalb der peripheren Länder. Obwohl der ursprüngliche Fokus der dependentistas auf der Herausarbeitung der externen Faktoren der „Unterentwicklung“ gerichtet war, zeigten sie auf, dass die internen Verhältnisse in direktem Zusammenhang zu den äußeren Machtverhältnissen stehen (Cardoso & Falletto 1976: 38 f.). Die Metropolen innerhalb der Satellitenländer seien genauso wie die peripheren Gebiete von der globalen kapitalistischen Wirtschaft durchdrungen, von dieser strukturiert, dominiert und von einer gemeinsamen Dynamik der „Unterentwicklung“ bestimmt (Frank 1969: 30, 34, 38). Während die Frage der Gewichtung der endogenen und exogenen Faktoren bzw. deren Relevanz zur Erklärung der Abhängigkeiten von den dependentistas kontrovers diskutiert wurde, waren sich die AutorInnen darin einig, dass zwischen beiden Faktoren eine enge Verflechtung bestand. Fernando Cardoso und Enzo Faletto widmeten sich eingehend dieser Frage und sind zu dem Schluss gekommen, dass die wirtschaftliche Ausrichtung eines Landes (in diesem Fall die Kontinuität der Abhängigkeit) im Wesentlichen von den internen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhinge, das heißt von den politischen Fraktionen innerhalb eines Landes, die an der Aufrechterhaltung dieser Verhältnisse orientiert sind. Veränderungen könnten nur gegen die ökonomischen Interessen und Wertorientierungen derjenigen dominanten Klassen durchgesetzt werden, die von der Abhängigkeit und „Unterentwicklung“ der peripheren Länder direkt profitieren (Cardoso & Faletto 1976: 39). Die abhängige Position der peripheren Länder sei damit in „[…] Interessenkoinzidenzen der lokalen und der internationalen herrschenden Klassen verwurzelt […]“ (ebd.: 217).
Die dargestellten Konzepte, Theorien, Fragestellungen und Thesen der Dependenztheorien sowie des Weltsystemansatzes sind für die vorliegende Arbeit von großer Bedeutung: Erstens, weil sich viele der darauffolgenden AutorInnen, auf die ich im Folgenden eingehe, auf sie beziehen; zweitens weil diese Ansätze die Machtposition und -ressourcen der Zentrums-Länder verdeutlichen, die es diesen ermöglicht, ihre Interessen auf internationaler Ebene durchzusetzen und somit auch die Stoffströme und die Art der menschlichen Intervention in natürliche Kreisläufe zu bestimmen. Drittens lässt sich durch die derart verstandenen globalen Ungleichheitsverhältnisse erklären, warum in Ländern wie Chile gehäuft slow violence-Phänomene – wie die hier untersuchten – vorkommen und sie auf (inter)nationaler Ebene oftmals unerkannt bleiben. Auch wenn beim Dependenz- und Weltsystemdenken – wie bei fast jedem makrosoziologischen Ansatz – eine Tendenz zur Pauschalisierung vorliegt, durch die spezifische und qualitative Unterschiede oftmals nicht beschrieben bzw. analysiert werden können, dienen sie in dieser Arbeit zur Einordnung anderer Ansätze und setzen diese somit in ein Bild des „großen Ganzen“. Mehr als nur als bloße Kontextualisierung darauffolgender Theorien, ermöglichen sie es zudem, die Geschehnisse in Chile in Bezug zu anderen zentralen, peripheren und semiperipheren Staaten zu setzten und somit einen Blick auf jene Strukturen und Mechanismen werfen zu können, die die Sichtbarkeit von bestimmten slow violence-Phänomenen verhindern oder erschweren.

2.2.4 Kolonisierung: die Entstehung der internationalen Arbeitsteilung durch die Ausbeutung der „neuen Welt“

In diesem Abschnitt wird die in Lateinamerika entwickelte dekoloniale Perspektive dargestellt. Sie ist von besonderem Interesse für die vorliegende Arbeit, weil sie Erklärungsversuche liefert, die zum Verständnis der Unsichtbarkeit von slow violence-Phänomenen beitragen. Zentral für diese Arbeit sind dabei ihre grundlegende Kritik des westlichen Fortschrittsparadigmas, das mit der Orientierung auf wirtschaftliches Wachstum eine Grundideologie des Kapitalismus enthält, die die übermäßige Ausbeutung von Menschen und Natur in den peripheren Gebieten legitimiert und normalisiert. Des Weiteren wird die damit zusammenhängende eurozentrische und anthropozentrische Weltanschauung, die in vielen Ländern den hegemonialen Diskurs und die Wissenschaft dominiert, kritisch hinterfragt und die Kehrseite der „offiziellen kolonialen Geschichtserzählung“ offengelegt. Von besonderem Interesse zur Bearbeitung der zentralen Fragestellungen dieser Forschung ist die daraus resultierende Selbstverständlichkeit des Anspruchs auf die Natur und Ressourcen der Peripherien sowie die mangelnde Berücksichtigung der Naturzerstörung (besonders in der Peripherie) und der davon betroffenen Bevölkerungsgruppen. In diesem Sinne stelle ich im Folgenden kurz die Dekonstruktion der „westlichen Erzählung“ dar, wie sie von der dekolonialen Perspektive geleistet wird.
Die offizielle „Entdeckung“ (1492) und darauffolgende „Erschließung“10 Lateinamerikas war seitens der Kolonisatoren einerseits durch eine angestrebte bessere geopolitische Positionierung auf der Welt und damit auf dem entstehenden Weltmarkt motiviert. Andererseits spielte besonders die Aneignung von natürlichen Ressourcen und im Besonderen von Edelmetallen eine zentrale Rolle im Kolonialisierungsprozess (Bakewell 1990). Anders als etwa in Nordamerika oder später in Australien, war es nicht das Ziel, den Süden dieser „neuen Welt“ zu besiedeln, sondern vielmehr politische und vor allem wirtschaftliche Vorteile für die jeweilige Kolonialmacht zu schaffen. Schon in den ersten Jahrzehnten der Kolonisierung Lateinamerikas Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts, als ein Großteil des Subkontinents für die SpanierInnen und PortugiesInnen noch kaum erforscht, geschweige denn erobert war, bemühten sich die spanischen Neuankömmlinge in Mexiko um den Abbau von Gold und später von Silber. Anfänglich stammten die großen Mengen dieser Metalle nicht direkt aus den Minen, sondern aus der Plünderung der dort lebenden Völker, allen voran den Azteken, Mayas und Inkas, die selbst den Abbau dieser Metalle praktizierten (Machado 2014: 91). Besonders der Silberabbau stellte sich als rentabel heraus und wurde ab 1532 in größeren Mengen angeeignet und weiterverarbeitet (Bakewell 1990: 49 ff.). Die „Entdeckung“ des Vorkommens Cerro Rico in Potosí stellte den definitiven Startschuss der Metallaneignung im großen Stil und somit das Scharnier zwischen dem heutigen Extraktivismus und der Kolonialgeschichte Lateinamerikas dar (Machado 2014:92; Mies 2015; Mies & Shiva 2016:58). Es war das größte und aufwendigste bis dahin bekannte Bergwerk, das zudem auf einer Höhe von 4000 Metern sowohl den Abbau, als auch die Weiterverarbeitung der scheinbar endlosen Erzmengen gewährleisten musste. Dafür wurden sowohl Infrastruktur, Versorgungssysteme, neue Technologien, sowie politische und militärische Unterstützung benötigt. Außerdem brauchte man ein bürokratisches Verwaltungssystem und eine moralische und religiöse Rechtfertigung, aber vor allem sehr viele Arbeitskräfte (Machado 2014: 92). Die stetige Nachfrage nach „frischer Arbeitskraft“ kurbelte den Handel mit Sklaven aus Afrika an, um nach kurzer Zeit deren „Untauglichkeit“ für die Arbeit in den Vorkommen festzustellen. Daraufhin griff man auf die körperlich besser an die Höhe und die Tätigkeit angepassten Indigenen zurück (Bakewell 1990: 65 ff.; Mariátegui 2008; Machado 2014: 92).11 Dafür wurde das Arbeitssystem der Encomienda eingeführt, das seine Legitimation aus der katholischen Kirche zog. Durch das System der Encomienda sollten für die Kolonialstaaten Reichtümer gesichert und für die Kirchen die Verbreitung des katholischen Glaubens vorangetrieben werden. Es war der Anfang der „kulturellen Globalisierung“ und der Aneignung kostenloser Arbeitskraft durch die Eroberer (Machado 2014: 93). Jedem von ihnen wurde eine Encomienda – eine Gruppe Indigener – zugewiesen, von denen er Abgaben (meist Metalle oder Nahrungsmittel) verlangen konnte und die er gleichzeitig beschützen und missionieren musste.12 Da die meisten indigenen Gruppen den von ihnen verlangten Tribut nicht zahlen konnten, waren sie verpflichtet, diese in Knechtschaft in Form von Diensten abzuzahlen. Potosí – der Ursprungsort des modernen Bergbaus – hatte in der Zeit zwischen 1570 und dem Ende des 17. Jahrhunderts mit 120–200.000 EinwohnerInnen eine höhere Bevölkerungszahl als die großen europäischen Metropolen. Als großer Ballungsraum von Menschen, des Bergbaus und der enormen Reichtumsproduktion für das Ausland ist Potosí nicht nur ein Höhepunkt des Kolonialismus, sondern zeitgleich der Ursprungsort seiner Kehrseite: Spanien als erster moderner Nationalstaat (Elliott 1990; Machado 2014: 97).
Nicht nur Horacio Machado sieht in der „Entdeckung“ Amerikas und der (gewaltvollen) Aneignung der dort vorkommenden Ressourcen die Entstehung der Moderne und des Kapitalismus (Machado 2014). Im Jahr 1998 schlossen sich in Lateinamerika unter dem Namen Grupo modernidad/colonialidad kritische Intellektuelle unterschiedlicher Disziplinen zusammen, um den Zusammenhang und die Verwobenheit zwischen Kolonialität und Moderne zu untersuchen (Alimonda 2011:23).13Die wohl bekanntesten Vertreter dieses dekolonialen Ansatzes sind Aníbal Quijano, Edgardo Lander, Walter Mignolo, Arturo Escobar, Fernando Coronil und Enrique Dussel. Eng an das Weltsystemdenken anschließend und teilweise in direkter Auseinandersetzung mit Immanuel Wallerstein versuchen sie die seit 1492 bestehenden internationalen Machtbeziehungen aus der lateinamerikanischen Perspektive neu zu denken. Die zentrale These, die ihnen gemeinsam ist, besagt, dass Kolonialität weder eine zufällige Kehrseite noch die Vorstufe der Moderne darstellt, sondern ein fester Bestandteil der Moderne innerhalb der Zentren ist. Die Kolonisierung Lateinamerikas und später Afrikas und von Teilen Asiens stellt somit nicht nur den Ausgangspunkt des globalen kapitalistischen Wirtschaftssystems dar, wie es die dependentistas und Wallerstein bereits beschrieben haben, sondern auch eines der wichtigsten Fundamente der zentralen modernen Institutionen des 18. und 19. Jahrhunderts. Kolonialität ist sowohl zentraler Bestandteil der Wissenschaft,14 der Kultur und Kunst, des Staates als auch des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Die Kolonialität ist somit die notwendige „dunkle Seite“ der Moderne und hat drei zentrale Dimensionen: Die erste und wohl bekannteste dieser Dimensionen ist die „Kolonialität der Macht“ (Quijano 2000). Dabei handelt es sich um die soziale Klassifizierung der Weltbevölkerung im Rahmen des Kapitalismus, durch die die Reichtümer und die sozialen Privilegien innerhalb der Kolonien auf Angehörige einer bestimmter „Rasse“ oder bestimmter phänotypischer Merkmale beschränkt waren (ebd.: 25 ff.). Laut Quijano wurde durch diese Kategorisierung der Individuen in übergeordnete „Weiße“, ihnen untergeordnete „Indios“ und wiederum ihnen untergeordnete „Schwarze“ die soziale Arbeitsteilung erstellt, die im Laufe der Zeit auf weitere Kategorien erweitert wurde und auch die Grundlage der heutigen internationalen Arbeitsteilung darstellt (ebd.: 26–33). Die zweite Dimension ist die „Kolonialität des Wissens“ (Lander 1993, 2000), durch die sich die technologisch-wissenschaftliche Rationalität als einzige gültige Wissensproduktion durchgesetzt hat. Auf diese Weise wurden alle bisher in den Kolonien bestehenden Wissensformen verdrängt und die europäische Weltanschauung als universal gültig durchgesetzt (Quijano 2000; Lander 2000; Dussel 2000). Die letzte Dimension beschreibt die „Kolonialität des (Da)Seins“ (Maldonado-Torres 2007), durch die all jenen Bevölkerungsgruppen, die sich der Christianisierung und Modernisierung verweigert haben oder dieser im Weg standen das „Mensch-sein“ abgesprochen wurde, besonders den Indigenen und den „Schwarzen“.
Mit Blick auf den afrikanischen Kontinent beschreiben die Schriften von Frantz Fanon, wie bestimmte Menschen und die Gewalt, die ihnen im Rahmen des Kolonialismus widerfährt, unsichtbar bleiben, beziehungsweise wie die Gewalt normalisiert wird, weil die betroffenen Personengruppen als minderwertig wahrgenommen werden. Im Fall der Sklaverei auf dem afrikanischen Kontinent wurde ihnen schlicht die Menschlichkeit abgesprochen und schon war ihre Behandlung mit dem europäischen Humanismus kompatibel (Sartre 1961: 22; Fanon 2018 [1961]: 37). Ebenso riss der Kolonialismus die natürlichen Ressourcen dieser Gebiete an sich, da diese Gebiete als unbewohnt und als „Niemandsland“ erklärt wurden (Sartre 1961: 23; Fanon 2018 [1961]: 42). Diese Problematik der Exklusion und der Unsichtbarmachung des Anderen wird auch von AutorInnen beschrieben, die sich sozial-ökologischen Problemen in den Peripherien und im Besonderen im globalen Süden widmen (Siehe Abschnitt 2.3.7). Environmentalism of the poor, environmental justice oder Konzepte wie zonas de sacrificio oder disposable people (Bales 1999; Nixon 2011; Ureta, Mondaca & Landherr 2018), beschreiben wie auch in der heutigen Zeit gesellschaftlich abgewertete Menschen und Gebiete ausgebeutet und verseucht werden, ohne dass dies vom Rest der Gesellschaft als Problem wahrgenommen wird. Die AutorInnen des Programms modernidad/colonialidad zeigen auf, dass die heutige Moderne nicht nur auf eben dieser Ausbeutung von Mensch und Natur im Rahmen eines neokolonialen Systems beruht, sondern dass der westliche Humanismus und Liberalismus– damals wie heute – eine strukturell gewaltvolle Kehrseite beinhaltet, die für ihn weitgehend unsichtbar bleibt. Wie gewaltvoll die Geschichte und Aktualität des Kolonialismus als Form der Aneignung von Natur, Arbeitskraft sowie als Zerstörung nicht-kapitalistischer Produktions- und Lebensweisen durch Kriege, Hungersnöte und Krankheiten war und ist, wurde immer wieder von verschiedensten AutorInnen belegt (Watts 1983; Wachtel 1990: 174 ff.; Luxemburg 1990: 316 ff.; [1913]; Davis 2004: 15 ff.; Fanon 2018 [1960]; Mbembe 2020).

2.2.5 Die „Dritte Welt“ als Produkt eines hegemonialen Entwicklungsdiskurses

Lateinamerika stellte die erste Peripherie des europäischen Kolonialsystems und somit den Ursprung der dunklen und unsichtbaren Seite der Moderne dar (Alimonda 2011:23). Das lineare Paradigma der geschichtlichen Evolution und mit ihr des „Fortschritts“, der „Entwicklung“ und „zivilisatorischer Prozesse“, verliert ihr Fundament, wenn wir den Kolonialismus als notwendige Kehrseite der Modernität in den Zentren der kapitalistischen Entwicklung sehen. Denn wenn nicht jedes Land einzeln und parallel seine Entwicklung durchlebt, sondern wenn die „Entwicklung“ der einen direkt von der „Unterentwicklung“ der anderen abhängt – um es in den Worten der dependentistas zu sagen – dann werden die Macht- und Herrschaftsverhältnisse deutlich, auf denen die globale Hierarchie beruht. Diese asymmetrischen Verhältnisse werden auf der ideologischen Ebene durch die zentrale Rolle des „Eurozentrismus“ flankiert. Dieser stellt eine bestimmte Auslegung und Interpretation der Geschichte und auch der sozialwissenschaftlichen Theorien dar, die in der Betrachtung des 19. Jahrhunderts den Kolonialismus und seine Bedeutung für die soziale und gesellschaftliche Konfigurationen der Weltwirtschaft größtenteils komplett ausgespart wurden (Davis 2004: 15 ff.; Alimonda 2011: 26).15
Arturo Escobar, der sich seit Mitte der 1980er Jahre mit der „Kolonialität des Wissens“ beschäftigt, spricht von der Erschaffung bzw. „Erfindung der dritten Welt“ (Escobar 2007) durch Entwicklungsdiskurse und -praktiken, die wiederum in der westlichen Ökonomie mit ihren Produktions-, Macht- und Signifikationssystemen verankert ist (Escobar 2008: 337 in Anlehnung an Polanyi 1957; Foucault 1970; Baudrillard 1975). Escobar begreift Entwicklung – in Anlehnung an Foucault – als Apparat (dispositif), der das Wissen über die „Dritte Welt“ mit Machtausübungen und Intervention verbindet und auf diese Weise die Gesellschaften der „Dritten Welt“ kartiert und produziert. Menschen, Regierungen und Gemeinschaften werden mithilfe dieses Diskurses als „unterentwickelt“ eingestuft und dementsprechend behandelt (Escobar 2008: 338). In diesem Sinne ist die „Geschichte der Entwicklung“ eine junge Geschichte, die erst in der frühen Nachkriegszeit begann (Menzel 2010: 82 ff.). Sie beginnt „[…] mit der Einrichtung der Apparate zur Wissensproduktion und Intervention (Weltbank, die Vereinten Nationen, der bilateralen Entwicklungsagenturen, der Planungsbüros in der Dritten Welt usw.) und der gleichzeitigen Durchsetzung einer neuen politischen Ökonomie der Wahrheit, die sich von jener der Kolonial- und Vorkriegsperiode deutlich unterscheidet“ (Escobar 2008: 338; vgl. auch Escobar 1984, 1989; Sachs 1993). „Entwicklung“ wurde zum allmächtigen Mechanismus zur Produktion und Lenkung jener Länder, die als „noch nicht entwickelt“ begriffen wurden. Auf diese Weise wurden beispielsweise die Systeme der Wissensproduktion in Lateinamerika in den 1950er Jahren vollständig neu organisiert (Fuenzalida, 1983, 1987; Escobar 1989). So wurde ein umfassendes institutionelles Netzwerk von internationalen Organisationen und Universitäten bis hin zu lokalen Entwicklungsagenturen geschaffen. Escobar formuliert es wie folgt: „Sobald dieses System gefestigt war, bestimmte es, was sagbar, denkbar, vorstellbar war; kurz, es definierte einen Wahrnehmungsbereich, den Raum der Entwicklung, Industrialisierung, Familienplanung, die „Grüne Revolution“, makroökonomische Strategien, „integrierte ländliche Entwicklung“, sie alle existieren im selben Raum, sie alle wiederholen die gleiche grundlegende Wahrheit, nämlich, dass Entwicklung den Weg zu jenen Merkmalen bereitet, die reiche Gesellschaften auszeichnen: Industrialisierung, landwirtschaftliche Modernisierung und Urbanisierung“ (Escobar 2008: 340; Harvey 1989). Dies wurde sowohl von den Regierungen selbst proklamiert als auch durch den „Import“ fremder ExpertInnen und multinationaler Unternehmen, die um der „Entwicklung“ Willen ins Land geholt wurden. Für die sogenannte „Dritte Welt“ gab diese allgegenwärtige Manipulationsmaschinerie Gesellschaftsbeziehungen, Denkweisen und Zukunftsvisionen vor (ebd.). Dabei fungiert „Entwicklung“ laut Pablo Quintero als eine Idee mit Wirkungsmacht, die einen Gedanken- und Handlungsbereich repräsentiert, „[…] begründet auf einer Episteme, die seine Diskurse und Repräsentationen regelt, sowie einem System, das seine Eingriffe kodifiziert“ (Quintero 2013: 370). „Falls Entwicklung im Laufe der Geschichte es geschafft hat, etwas zu „entwickeln“,“ so fährt er fort, „waren es die weltweite Ungleichheit und Asymmetrie durch das Wachstum und die Expansion von Kapitalismus und Kolonialismus“ (Quintero 2013:370). „Entwicklung“ geht – so auch die AutorInnen der dekolonialen Perspektive – einher mit den zentralen Merkmalen der kapitalistischen Weltwirtschaft wie es schon die Weltsystemtheorie beschrieb: „Diese Produktionsform ist im Wesentlichen ein System zur Kontrolle von Arbeitskraft, das in der Artikulation aller bekannten Ausbeutungsformen in einer einzigen Struktur von Warenproduktion für den Weltmarkt besteht und unter der Hegemonie des Kapitals angeordnet ist“ (Quintero 2013: 371).
Was in Zeiten der Kolonisierung durch militärische Unterdrückung und Missionierung geschah, funktioniere – laut entwicklungskritischen AutorInnen – heute im Rahmen einer Welthegemonie, deren universelle Normen im Besonderen durch internationale Organisationen zum Ausdruck gebracht würden. Diese fungierten als zentrale ideologische Apparate der Hegemonieausübung dominanter Staaten, legten Leitlinien fest und prägten Institutionen und Praktiken innerhalb anderer Nationen (Cox 1998: 253 f.). Dafür würden auch die Eliten der peripheren Länder in diesen Prozess eingebunden sowie potenziell gegenhegemoniale Ideen absorbiert und harmonisiert. Diese internationalen Institutionen würden fast ausschließlich von wenigen Ländern des Zentrums kontrolliert und sind mit den nationalen hegemonialen Klassen dieser Länder eng verbunden (Cox 1998: 255). Damit stellt sich „Entwicklung“ als ein von partikularen Interessen durchdrungenes Projekt „westlicher“ Herrschaft heraus, durch das Staaten der Zentren asymmetrische Beziehungen in der kapitalistischen Weltwirtschaft reproduzieren.
Angesichts der globalen ökologischen Krise wird die Relevanz der Kritik am Entwicklungsdenken noch erhöht. Enrique Leff versteht die weltweite ökologische Krise als eine zivilisatorische Krise. Diese stelle eine Krise der hegemonialen Verständnisformen der Welt, des wissenschaftlichen Wissens und der technisch-ökonomischen Vernunft, die weltweit institutionalisiert wurde, dar, da sie die Kreisläufe des Lebens erheblich (zer)stören und die Bedingungen der Nachhaltigkeit unmöglich machten (Leff 2017: 229). Deshalb müssen in seinen Augen die als allgemeingültig angesehenen „juristischen Formen“ (Foucault 1998), die ökonomische Rationalität und Marktlogik (Marx 1973) und der Logozentrismus der Wissenschaft (Derrida 1976) als hegemoniale Machtdispositive des Wissens in der Moderne genauso wie jene Theorien, die versuchen, die Beziehungen zwischen Kultur und Natur zu begreifen, ohne die erkenntnistheoretischen Ursachen der ökologischen Krise zu berücksichtigen und kritisch zu hinterfragen, dekonstruiert werden (Leff 2017: 230). Nach Leff ginge es folglich darum, die von Cox, Quintero und Escobar als dominantes Entwicklungsdenken ausgemachten Diskurse, Normen und Institutionen aufzulösen, um die natürlichen Kreisläufe und Prozesse tatsächlich verstehen zu können.
Boaventura de Sousa Santos (2010), der in der Operationalisierung der Forschungsheuristik dieser Arbeit eine zentrale Rolle spielt, geht noch einen Schritt weiter. Er hält die hegemonialen Produktions-, Macht- und Signifikationssysteme nicht nur für schlicht dominant, sondern konstatiert, dass durch sie ein „abyssales Denken“ entstanden sei, das andere Wissensformen, AkteurInnen und Praktiken nicht nur verdränge, sondern ihre „Nicht-Existenz“ aktiv produziere.16 Die „Epistemologie des Nordens“ ist ihm zufolge der Grundpfeiler der drei Formen moderner Herrschaft bestehend aus Kapitalismus, Kolonialismus und Patriarchat. Diese eurozentrische Wissensproduktion produziert ihre eigene Alternativlosigkeit, indem sie alle anderen Wissens- und Lebensformen als „nicht-existent“ deklariert und durch eine scheinbar unüberwindbare abyssale Linie voneinander trennt. Durch dieses Denken wird alles und jeder, der sich auf der anderen Seite der Linie befindet, als unwissend, rückständig, unterlegen und unproduktiv dargestellt (de Sousa Santos 2010: 22 ff.).17 Diese „Rückständigkeiten“ werden als Hindernis für die „höheren und besseren“ Realitäten begriffen, die als wissenschaftlich, fortschrittlich, überlegen, global und produktiv gelten. Um die aktive Unsichtbarmachung großer Teile der Weltbevölkerung, ihrer Realitäten und Probleme zu unterbrechen, plädiert de Sousa Santos für einen epistemologischen Bruch. Er kritisiert die bestehende Soziologie als eine „Soziologie der Abwesenheit“ (de Sousa Santos 2010: 22 ff.) und fordert, sie durch eine „Soziologie der Emergenzen“ (ebd.: 24 ff.) zu ersetzen. Dafür bedarf es einer „Epistemologie des Südens“ (ebd.: 38) sowie einer „Ökologie des Wissens“ (ebd.: 49), die sowohl aus wissenschaftlichem als auch aus nicht-wissenschaftlichem Wissen besteht.
Die zunehmende Skepsis einer steigenden Zahl an WissenschaftlerInnen des globalen Südens gegenüber dem, was de Sousa Santos als „abyssales Denken“ bezeichnet, führt dazu, dass viele eine kritische Haltung zum etablierten Wissen entwickeln und nach „Alternativen zur Entwicklung“ suchen (Shiva 1989; Sachs 1993; Escobar 2008: 343). Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Wissen in und über soziale und ökologische Prozesse fast gänzlich durch die Sicht der kapitalistischen Zentren dominiert, wodurch es auch deren Interessen waren, die im Vordergrund der Wissensgenerierung standen. Werke wie die des peruanischen Marxisten José Carlos Mariátegui, der schon Anfang des 20. Jahrhunderts mit Blick auf das Peru seiner Zeit auf die großen Lehrstellen hinwies, die auch kritische Ansätze wie den Marxismus kennzeichneten, sind eine Seltenheit.18. Auch heute noch ist es die hegemoniale Perspektive innerhalb der (Sozial-)Wissenschaften, wodurch viele Probleme des globalen Südens entweder nicht als solche anerkannt werden oder sie werden durch (westlich) utilitaristische, produktivistische und somit rationale Ansätze, die weitestgehend vor allem zur Aufrechterhaltung der aktuellen Arbeitsteilung beitragen, gelöst (Leff 2004).
Der Eurozentrismus als einziger gültiger Erklärungs- und Interpretationsrahmen für historische und soziale Prozesse wird somit von den VetreterInnen des Grupo modernidad/colonialidad gänzlich in Frage gestellt. Stattdessen nehmen sie eine Perspektive ein, die sie ein pensamiento de frontera, eine epistemología de los márgenes oder die epistemologías del sur (de Sousa Santos 2010; Alimonda 2011) nennen und aus der alternative Denkansätze und Logiken entstehen könnten. Dieser „giro decolonial“ (dekoloniale Wende) soll es ermöglichen, die andere Seite der Moderne sichtbar zu machen und unterdrückten Narrativen und Wissensformen Legitimität zu verschaffen (Mignolo 2007). Die vorliegende Arbeit baut explizit auf AutorInnen, Denkansätzen und Theorien auf, die aus den Peripherien – im Besonderen denjenigen Lateinamerikas – stammen und der anderen, bisher unsichtbaren Seite des „abyssalen Dualismus“ einen besonderen Stellenwert verleihen. Sie ermöglichen es, einen Blick hinter die hegemonialen Erzählungen zu werfen, die in der Unsichtbarmachung von slow violence-Phänomenen eine zentrale Rolle spielen. Diese Überwindung des „abyssalen Denkens“ ist, wie wir weiter unten sehen werden, zentral, um die Unsichtbarkeit von slow violence-Phänomenen zu verstehen. Ohne diese Überschreitung der „abyssalen Linie“ würden die Opfer oftmals unsichtbar bleiben (Anschnitt 2.3.7), die Probleme und Konflikte nicht als solche erkannt werden (Abschnitt 2.3.6) oder ein vom Menschen getrenntes Verständnis von Natur es bspw. verhindern, das Eindringen und die Wirkung von Chemikalien in und auf Körper und Ökosysteme zu verstehen (siehe Abschnitte 2.3.2, 2.4.1 und 2.4.2).
Im Folgenden werden in diesem Sinne zentrale Aspekte herausgearbeitet, die zwar meist auf der Makroebene operieren, aber auf lokaler Ebene Phänomene der schleichenden Gewalt, die von den Eingriffen der Menschheit auf die Kreisläufe der Natur herrühren, normalisieren, legitimieren und/oder verschleiern. Besonders relevant zum Verständnis der empirisch untersuchten Fälle ist die wissenschaftliche Disziplin der Politischen Ökologie, die von vielen lateinamerikanischen AutorInnen um die oben beschriebene dekoloniale Perspektive ergänzt wird. Diese Ansätze helfen uns – wie in den nächsten Abschnitten deutlich werden wird – eine Weltanschauung zu überwinden, das erhebliche Konsequenzen auf unser Verständnis von Natur und auf unseren gesellschaftlichen Umgang mit dieser hat. Wie in den folgenden Kapiteln dargelegt wird, hat die hegemoniale Dominanz der Zentrums-Länder erhebliche konkrete Konsequenzen bezüglich der Aneignung und Ausbeutung der Natur und ihrer Ressourcen in den Peripherien.

2.3 Sozialer Metabolismus, ökologische Grenzen und der Ursprung sozial-ökologischer slow violence

2.3.1 Das Verständnis von Natur und die Mensch-Natur Beziehung der Moderne

Je nach vorherrschendem Wissenschaftsparadigma (Kühn 1976) hat der Mensch seine Beziehung zur Natur auf sehr unterschiedliche Weise verstanden. Während seit kurzem ein ökologisches, ganzheitliches und systemisches Verständnis von Natur, in dem der Mensch fester Bestandteil dieser ist, wieder an Gültigkeit gewinnt (Merchant 1987; Alimonda 2011; Mies 2015; Svampa 2020; Moore 2020), hat der dominante Diskurs in der westlichen Welt in den letzten Jahrhunderten den Menschen als von der Natur, die er als seine Umwelt begreift, getrennt und ihr weitestgehende überlegen wahrgenommen: Dieses im Westen vorherrschende Naturverständnis – das ich im Folgenden darlegen werde – hat mit dazu geführt, dass der Mensch so massiv in die natürlichen Kreisläufe eingegriffen hat und die Grenzen zum Erhalt der ökologischen Systeme – wie etwa die Biosphäre, Wasserkreisläufe, natürliche Senken, die Biodiversität und die Artenvielfalt – in dramatischem Ausmaß überschritt (Meadows 1972; Rockström et al. 2009). Die Folge ist, dass sich die heutigen klimatischen und ökologischen Veränderungen unter dem Begriff des „Anthropozäns“19 (Crutzen 2002; Svampa 2020:116 ff.) versammeln lassen, um darauf zu verweisen, dass diese menschengemacht sind.20 Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, das heutzutage in vielen Regionen – ganz besonders in den kapitalistischen Zentren – hauptsächlich durch den Markt vermittelt wird, wird von denselben Machtverhältnisse durchdrungen, die auch dem globalen Wirtschaftssystem zugrunde liegen. Viel mehr noch: das dominante Naturverhältnis der Moderne wird durch das kapitalistische Weltsystem geformt und formt wiederum das Weltsystem (Moore 2020). Die scheinbare Trennung von Mensch und Natur und die damit einhergehende menschliche Sicht, die Natur als etwas von ihr abgekoppeltes Äußeres zu verstehen, ist eine der Grundbedingungen für die Kapitalakkumulation (Moore 2020:9). Jason Moore drückt es wie folgt aus: „Der Kapitalismus ist kein Wirtschaftssystem; er ist ein Gesellschaftssystem; er ist eine Weise, Natur zu organisieren“ (ebd. 2020:9). Durch die Spezialisierung der menschlichen Arbeit und die Rationalisierung und Kommodifizierung der Natur wurde das einst vorherrschende integrale Bild der Natur, von dem der Mensch ein abhängiger Bestandteil ist, verdrängt. Im westlichen Anthropozentrismus wird der Mensch als von der Natur getrennt wahrgenommen und entwickelt gleichzeitig ein instrumentelles Verhältnis zu dieser.
Das mechanistische Weltverständnis hat seinen Ursprung in der wissenschaftlichen Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts. Die Aufklärung, die zeitgleich mit der „Entdeckung der neuen Welt“ entstand, stellt die Basis des modernen wissenschaftlichen, technischen und sozialen Fortschritts dar (Merchant 1987: 113). Sie prägte in den darauffolgenden Jahrhunderten das in der westlichen Welt vorherrschende Verständnis von Natur. Der Mechanismus des 17. Jahrhunderts bezeichnete die Natur als tot und die Materie als passiv, weshalb er als Rechtfertigung für die Ausbeutung und Bearbeitung der Natur und ihrer Ressourcen diente (Merchant 1987: 117, 192 ff., 220 ff.):
„Die Metapher von der Erde als nahrungsspendende Mutter sollte allmählich in dem Maße verschwinden, wie es der wissenschaftlichen Revolution gelang, das Bild der Welt zu mechanisieren und zu rationalisieren. Die andere Metapher – Natur als Störung und Gesetzlosigkeit – rief einen wichtigen modernen Gedanken auf den Plan: den der Gewalt über die Natur. Zwei neue Ideen, die des Mechanismus und die der Naturbeherrschung und -bemächtigung, wurden zu zentralen Konzepten der modernen Welt“ (Merchant 1987:18).
Dieses instrumentelle Naturverständnis und -verhältnis wurde spätestens ab den 1970er Jahren mit dem Erscheinen des Berichts des Club of Rome zur Lage der Menschheit und den Grenzen des Wachstums (Meadows 1972) sowie der zunehmenden Spür- und Sichtbarkeit der ökologischen Konsequenzen dieser ausbeuterischen Einstellung, öffentlich in Frage gestellt. Caroline Merchant legt in ihrem breit rezipierten Buch über den „Tod der Natur“ dar, dass die Welt einen Organismus darstelle (Merchant 1987:113), der nur durch holistische Annahmen der Natur begriffen werden könne:
„[…] die Ökologie geht davon aus, daß alles mit allem zusammenhängt und daß interaktive Prozesse in der Natur überwiegen. Alle Teile hängen voneinander ab und beeinflussen einander und das Ganze. Jedes Teilstück einer ökologischen Gemeinschaft, jede Nische, existiert in dynamischer Wechselbeziehung zum gesamten umgebenen Ökosystem. Der Organismus, der eine bestimmte Nische besetzt, lebt in wechselseitigem Beeinflussen und Beeinflusstwerden mit dem gesamten Geflecht lebendiger und nicht-lebendiger Umweltkomponenten. Die Ökologie als Philosophie der Natur hat ihre Wurzeln im Organizismus, d. h. in der Vorstellung, daß der Kosmos eine organische Ganzheit ist, die in einer integrierten Einheit als Struktur und Funktion wächst und sich entwickelt“ (Merchant 1987:113).
Schon viele Jahre zuvor gehörten Alexander von Humboldt und Henry David Thoreau zu den wohl bekanntesten Verfechtern eines ganzheitlichen Naturverständnisses (Wulf 2016). Das heutige Verständnis ökologischer Kreisläufe bezieht sich wieder vermehrt auf Humboldts Beobachtungen.21 Was in der westlichen Wissenschaft als eine Wiederentdeckung eines Kreislaufverständnisses und der menschlichen Integriertheit in die Natur gilt, ist in anderen Weltregionen nicht neu. Viele der Völker, die Lateinamerika schon vor seiner „Entdeckung“ durch die Kolonialmächte bewohnt haben, hatten schon weit vor Humboldt und haben teilweise heute noch, ein sehr ähnliches Verständnis von Natur.22 Am bekanntesten sind derzeit wohl die Ansätze des Sumak kawsay (quechua) oder auf Spanisch des Buen Vivir, die auf den Weltanschauungen und den dazugehörigen Naturverständnissen unterschiedlicher Andenvölker beruhen und in die Verfassungen von Ecuador und Bolivien mitaufgenommen wurden. Die chilenische Version dieser indigenen Kosmovision wäre heutzutage Küme Mogen („gutes Leben“ in Mapudungun) der Mapuche, welches eine horizontale und reziproke Beziehung zwischen Mensch und Natur beschreibt. Im Gegensatz zum anthropozentrischen westlichen Naturverständnis, das die Natur als „Untertan“ der Menschen ansieht, ist der Respekt vor der Natur und jedem seiner Bestandteile Kern ihrer Weltanschauung (Meza-Calfunao et al. 2018).
Das Verständnis von und über Natur sowie der Rolle, die Menschen und Gesellschaften in ihr spielen, scheint auf den ersten Blick eine rein epistemologische Frage. Sie birgt allerdings grundlegende materielle Implikationen bezüglich des gesellschaftlichen Stoffwechsels. Während physiozentrische Weltbilder, in denen der Mensch als integraler Bestandteil der Natur verstanden wird, meistens die Konsequenzen menschlicher Interventionen in natürliche Kreisläufe besser wahrnehmen und somit besser auf sie reagieren können (Diamond 2010), bleiben diese beim heute hegemonialen anthropozentrischen Weltbild lange Zeit weitgehend unerkannt. Der Mensch versteht sich nicht als Teil der Natur, sondern sieht die „Umwelt“ (des Menschen) als ein ihm zur Verfügung stehendes, auszubeutendes und unendliches Ressourcenarsenal an (Acosta 2014). Besonders die natürlichen Ressourcen in den (Semi-) Peripherien werden seit der Kolonialisierung als der Ressourcenkorb der Welt gesehen. In den betreffenden Ländern selbst gelten die Ressourcen häufig ebenfalls als wirtschaftlich ausbeutbares Potenzial eines komparativen Kostenvorteils, den es auf dem Weltmarkt auszunutzen gelte (Gudynas, 2012; Galeano, 1971). Dieses ökologische Problem wird von Alberto Acosta (2009) als Rohstofffluch oder Fluch des Rohstoffreichtums („maldición de la abundancia“ im Original) bezeichnet. Enrique Leff sieht in der daraus resultierenden Zerstörung der ökologischen Kreisläufe und der Abnützung des Produktionspotenzials der Ökosysteme der Peripherie ebenfalls einen der Hauptgründe deren „Unterentwicklung“ (Leff 1986: 155 ff.). Durch die wirtschaftlichen Aneignungs- und Ausbeutungsprozesse werden – so extraktivismuskritische AutorInnen – die ökologischen und kulturellen Mechanismen zerstört, die zu ihrer Aufrechterhaltung, Regenerierung und zur nachhaltigen Entfaltung der Produktivkräfte notwendig sind. Es handelt sich um destruktive Prozesse, die sowohl Ökosysteme als auch örtliche Produktionsformen zerstören und dadurch die potenzielle Autonomie dieser Gesellschaften untergraben (Leff 1986; Davis 2004). Das Projekt der Moderne, wie es sich im Kontext des Kolonialismus herausbildete, beinhaltet folglich auch eine Biomacht über die Natur (Alimonda 2011: 52). Diese wirkt in Form der Macht über geografische Räume, Böden und den Untergrund, natürliche Ressourcen, Flora und Fauna sowie die Nutzung klimatischer Bedingungen. Gleichzeitig wird damit aber auch Macht und Herrschaft über die „subalternisierten“ Körper ausgeübt. Die Biopolitik der modern-kolonialen Diskurse produziert demnach nicht nur Subjektivitäten und Territorialitäten, sie produziert gleichzeitig auch „Naturen“; oder mit Héctor Alimonda gesagt: sie produziert eine „Kolonialität dieser Naturen“ (ebd.:52).
Die oben beschriebene Kolonialität der Macht wirkt sich folglich in direkter Weise auf die Natur und die Form der Ressourcenausbeutung in den (Semi-)Peripherien des Welt-Systems aus (Alimonda 2011: 22; Escobar 2005, 2008; Machado 2014). In der global hegemonialen Wahrnehmung stellt Lateinamerikas Natur sowie all ihre Komponenten, Kreisläufe und BewohnerInnen und ihre territoriale Konfiguration – laut Alimonda – einen subalternen Raum dar, der zur freien Verfügung des bestehenden Akkumulationsregimes steht und nach seiner Notwendigkeit ausgebeutet, ausradiert oder rekonfiguriert werden kann (Alimonda 2011:22). Dieser direkte Eingriff in natürliche Kreisläufe und die grundlegende Zerstörung und Veränderung der „Umwelt“ führt auch zu einem massiven Wissensverlust. Die Zerstörung der Regenwälder Brasiliens und die Einführung der Monokulturen hat nicht nur zum Verschwinden der artenreichen Landwirtschaft geführt, sondern auch des Wissens der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen über Anbauformen im Einklang mit der Natur (Leff 1986; Worster 2003; Alimonda 2011). Sogar die Nachhaltigkeitspolitiken der imperialen Zentren haben ökologisch katastrophale Konsequenzen für Regionen wie Lateinamerika. Denn ihr lokaler Naturschutz beruht auf der Externalisierung „schmutziger“ Industrien und großen Mengen toxischen oder radioaktiven Mülles oder auf der Förderung von Biokraftstoffen, für die in den (Semi-) Peripherien große Monokulturen angelegt werden (Lessenich 2016; Backhouse et al. 2021). Die internationale Arbeitsteilung und die ihr zugrunde liegenden Machtasymmetrien reproduzieren folglich auch heute einen globalen metabolischen Bruch, der besonders in Regionen wie Lateinamerika negative ökologische Konsequenzen zeitigt (O’Connor 2001; Martínez-Alier 2004b; Nixon 2011; Machado 2014; Gudynas 2019). Wie außerdem deutlich wurde, ist der Zugriff auf die natürlichen Ressourcen und die Ausbeutung der Natur der Peripherien seit jeher wesentlicher Bestandteil der Moderne, der Ökonomien der kapitalistischen Zentren und des gesamten Weltsystems (Alimonda 2011; Machado 2014).
Der „metabolische Bruch“ im modernen Naturverhältnis hängt auch mit einer Vorstellung zusammen, die natürliche Kreisläufe als lineare Prozesse versteht. So werden ökologische Kreisläufe als lineare Produktionsprozesse verstanden, wobei bspw. extraktivistische Aneignungsprozesse von sogenannten Rohstoffen, über die Produktion eines Produkts bzw. einer Ware mit dem Entsorgen der daraus resultierenden Abfälle endet (Toledo 2013). Diese Abfälle verschwinden allerdings nicht, sie sind weiterhin Teil des ökologischen Kreislaufs und werden zwar zum Teil (durch natürliche Senken) absorbiert, stellen aber meistens einen schwerwiegenden Eingriff mit deshalb unvorhergesehenen Konsequenzen für den restlichen Kreislauf dar.
Eine ähnliche Kritik an der hegemonialen Geschichtsschreibung und den Auswirkungen der patriarchal kapitalistischen Sichtweise auf die Rolle der Frauen, der ehemaligen Kolonien und der Natur sowie der daraus entspringenden Unsichtbarmachung ihrer zentralen Rolle zur Reproduktion des Lebens und des kapitalistischen Wirtschaftssystems wird seit Ende des 20. Jahrhunderts in (öko-)feministischen Debatten geäußert. AutorInnen wie Maria Mies (2015), Vandana Shiva (1989) oder Silvia Federici (2018) unterziehen die Entstehung der heutigen globalen Machtverhältnisse einer kritischen Revision. Im Mittelpunkt steht dabei eine „historische und theoretische Analyse der Wechselbeziehungen zwischen der Frauenausbeutung und -unterdrückung und der anderer Menschen und der Natur“ (Mies 2015:41). Mies betont dabei, dass das „ausbeuterische und unterdrückerische Mann-Frau-Verhältnis“ systematisch mit den anderen „verborgenen Kontinenten“ – also der „Natur“ und den „Kolonien“ verbunden war (Mies 2015: 43):
„Das patriarchalisch-kapitalistische System hat seine Herrschaft von Anfang an auf die Ausbeutung und Unterwerfung der Natur, fremder Länder und der Frauen aufgebaut. Natur, Frauen und fremde Länder sind bis heute die Kolonien dieses Systems. Ziel dieser Kolonisierung ist die Gewinnung unbegrenzter Macht einer Elite über alles Lebendige und Unbelebte. Ohne die Ausbeutung und Unterwerfung dieser Kolonien gäbe es die moderne Industriegesellschaft nicht“ (Mies & Shiva 2016:7).
Als „Natur“ gelten in der herrschenden Logik insofern nicht nur die ökologischen Kreisläufe, sondern all jenes, was gratis oder nahezu gratis erhältlich ist. Dementsprechend gehören hierzu auch die Produkte sozialer Arbeit der Frauen. Dadurch, dass die Reproduktionsarbeit der Frauen – von der Geburt bis zur Kindererziehung – als natürlich gilt, wird ihre kostenfreie Aneignung legitimiert: „Die Arbeit dieser Menschen wird dadurch zur Nicht-Arbeit, zur Biologie, erklärt, ihre Arbeitskraft erscheint als Naturressource, ihr Produkt als Naturvorkommen“ (Werlhof 1992).
Die drei oben genannten ökofeministischen AutorInnen beziehen sich auf das schon erwähnte Werk von Carolyn Merchant (1987), die die geschichtliche Entstehung des heutigen Verständnisses von Ökologie und Frauen in den neuzeitlichen Naturwissenschaften untersuchte. Die ökologische Krise und die Care-Krise sind demnach konsequente Folgen eines Weltbildes, das die ökologische und soziale Abhängigkeit und Interdependenz der Menschen verkennt (Herrero 2018:111). Die Kolonisierung der Quellen der Lebenserneuerung, das (konzeptuelle und physische) Auseinanderreißen der Regenerationszyklen in einem linearen Fluss von Rohmaterialien und Gütern, das Zerreißen natürlicher Wachstumszyklen als Quelle des Kapitalwachstums verursacht – laut Maria Mies und Vandana Shiva – die endgültige ökologische Krise (Mies & Shiva 2016:45).
Die beschriebenen Wissensstrukturen der Moderne werden hauptsächlichen innerhalb der (dekolonialen) Politischen Ökologie neu diskutiert, wobei vorwiegend marxistische und (öko-) feministische Ansätze sowie AutorInnen aus dem globalen Süden die Notwendigkeit eines radikalen Umdenkens fordern, um den „sozialen Metabolismus“ in Einklang mit den natürlichen Grenzen zu bringen. Jason Moore schlägt in diesem Zusammenhang das Paradigma der Weltökologie vor, um die heutige kapitalistische Beziehung zur Natur zu durchbrechen und den Herausforderungen der ökologischen Krise begegnen zu können (Moore 2020:10, 120 ff.). Dafür müsse sowohl die Dichotomie Mensch/Natur überwunden werden, als auch das dem Kapitalismus inhärente Verständnis von Natur als kodierbare, quantifizierbare, rationalisierbare und somit kommodifizierbare Umwelt (Moore 2020:10).23 Des Weiteren müssen die neokolonialen und patriarchalen Denkstrukturen des Kapitalismus aufgebrochen werden, um die hinter der Produktion stehenden Reproduktionsbedingungen des Lebens und somit die Untrennbarkeit des Menschen von der Natur sichtbar zu machen (Mies 2015).

2.3.2 Die Natur im Kapitalismus und der soziale Metabolismus des Weltsystems

Alle Produktion, demnach auch die kapitalistische Produktion, entsteht durch das Zusammenwirken von Mensch und Natur. Dieser Prozess wird im Kapitalismus allerdings tendenziell dem selbstregulierenden Mechanismus von Handel und Austausch, von Angebot und Nachfrage unterworfen, wodurch Mensch und Natur kommodifiziert und den Gesetzen des Marktes unterworfen werden (Polanyi 1978: 182 f.). Das Marktsystem umfasst seit Anfang des 19. Jahrhunderts nahezu die ganze Welt und greift somit die Substanz der Menschheit an (ebd.: 182). Arbeitskraft, Natur und Produktion werden warenförmig. Es entsteht die Trennung von Boden und Arbeit und von Leben und Natur, die traditionell eine Einheit bildeten (ebd.: 243). Die mit dem Liberalismus einhergehende Vorstellung, alles könnte kommodifiziert werden, kritisierte Karl Polanyi als „Warenfiktion“, die die Tatsache ignoriere, dass zwar die Produktion auf diese Weise organisiert werden könne, die Auslieferung der Erde und der Menschen an den Markt allerdings mit deren Vernichtung gleichbedeutend sei (ebd.: 183). Märkte funktionieren zudem – entgegen der allseits verbreiteten Ideologie – nie spontan. Sie sind immer gemacht, hinter ihnen stehen komplexe politische Entscheidungsprozesse und Entwicklungsgeschichten (ebd.: 106; Davis 2004: 20). Märkte können also nicht als reiner, selbstorganisierter Automatismus betrachtet werden, vielmehr stehen hinter Prozessen der Kommodifizierung durchaus Verantwortliche und eine bestimmte Konfiguration sozialer Interessen und natürlicher Bedingungen. Die Frage nach Interessen bestimmter Gruppen innerhalb kapitalistischer Verhältnisse führt uns zum Verhältnis von Natur und Kapitalakkumulation.
Der marxistische Ökonom James O’Connor war einer der ersten, der darauf verwiesen hat, dass die Ausbeutung und Kommodifizierung natürlicher Ressourcen einen zentralen Bestandteil der Kapitalakkumulation darstellt und die Geschichte des Kapitalismus deshalb als Naturgeschichte verstanden werden muss (O’Connor 2001). Nur auf diese Weise wäre die Geschichte tatsächlich universell und ganzheitlich, sie würde die Geschichte des Planeten, der Menschen und der anderen Spezies sowie der Materie beinhalten und deren Veränderungen durch die menschliche Produktion aufzeigen (O’Connor 2001: 74, 78). Neben der traditionellen marxistischen Lesart, die den zentralen Widerspruch des Kapitalismus in seiner sozialen Krisentendenz – zwischen Kapital und (Lohn)Arbeit – verortet, fügt O`Connor einen zweiten zentralen Widerspruch hinzu: denjenigen zwischen der kapitalistischen Produktion und den Produktionsbedingungen, die ihr zugrunde liegen. Dieser zweite Widerspruch des Kapitalismus würde den Ausgangspunkt für eine ökologische marxistische Theorie darstellen. Weder die menschliche Arbeitskraft noch die externe Natur, die Infrastruktur oder ihre räumlichen und zeitlichen Dimensionen, die allesamt Produktionsbedingungen der kapitalistischen Akkumulation darstellen, entspringen der kapitalistischen Produktion selbst, obwohl sie das Kapital – wie auch schon Polanyi betonte – wie Waren behandelt (O’Connor 2001:7).24 Die ökologisch bedingte Krisenanfälligkeit des Kapitalismus liege demnach darin, dass er seine eigenen Produktionsbedingungen zerstört, statt sie zu reproduzieren. Schon Karl Marx schlussfolgerte in seinem Hauptwerk „Das Kapital“, dass die kapitalistische Produktion stetig kontinuierlich „[…] die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“ (Marx 1973 [1867]: 530). Kurz gesagt: Die kapitalistische Akkumulation stellt seine eigenen Grenzen her, indem es seine Produktionsbedingungen zerstört.
Auf diese Weise führt O’Connor darüber hinaus ein marxistisches Konzept der Knappheit ein, das sich vom neomalthusianischen abgrenzt. Der Kapitalismus bringe eine Unterproduktion notwendiger „Güter“ hervor, die mit steigenden Reproduktionskosten der Produktionsbedingungen einhergehen (O’Connor 2001: 199 f.; Altvater 1992: 285 f.). Eine Vielzahl an Marx anschließender AutorInnen gibt dieser Einschätzung im Grunde recht. Der expansive Charakter kapitalistischer Wirtschaften (Marx 1973: 161–191) führe zu kapitalistischen Landnahmen und Dynamiken der Akkumulation durch Enteignung, die gegenüber ökologischen Reproduktionserfordernissen blind sind (Harvey 2004; Dörre 2019:9). Kapitalistische Akkumulation bedeutet in ihrer wertmäßigen Expansion in der Regel auch eine Zunahme der Stoff- und Energieumsätze (Altvater 1992.: 291), die wiederum zunehmend an die planetarischen Grenzen stoßen (Meadows 1972; Mahnkopf 2014: 510 f.). Elmar Altvater integrierte bereits Anfang der 1990er Jahre das Wissen über die verheerenden Konsequenzen der extensiven und intensiven Naturnutzung in seine Überlegungen. Die damals schon sichtbare teils irreversible Übernutzung der Böden, die zunehmende Wüstenbildung, der Verlust großflächiger Waldgebiete und der Fruchtbarkeit von Ackerböden, die Verseuchung der Ozeane und die zunehmende Erosion sowie die sich stetig erhöhende Menge an CO2 in der Atmosphäre und das damit einhergehende Voranschreiten des Klimawandels zeigten deutlich, dass der Stoffwechsel moderner Gesellschaften nicht nachhaltig ist (Altvater 1992: 240 f.). Die kapitalistische Akkumulation treibt nach Altvater unweigerlich die Zerstörung ökologischer Kreisläufe, die Verknappung nicht nachwachsender Rohstoffe und die Zerstörung des natürlichen Gleichgewichts des globalen Ökosystems voran (Altvater 1992: 265 f.): „Das System, die Produktions- und Lebensweise, wird aber unweigerlich ein Ende finden, wenn irgendwann einmal die Energiezufuhr (aus fossilen Quellen) erschöpft sein wird bzw. die Emissionen die Belastungsgrenze der natürlichen Sphären überschreiten werden“ (Altvater 1992:25). Das heißt, dass der heutige soziale Metabolismus „moderner“ Gesellschaften – wie es auch O’Connor voraussagte – zur Untergrabung der Existenz-, Lebens- und Produktionsbedingungen führt, wodurch die heutige ökologische Krise des globalen Kapitalismus hervorgerufen wird. Die Zerstörung der ökologischen Existenz- bzw. der Produktionsbedingungen durch die Untergrabung und Überlastung ökologischer Kreisläufe wird als metabolischer Bruch bezeichnet (Foster, Clark & York 2011:76). Während dieser Bruch früher besonders im Verhältnis zwischen Stadt und Land beobachtet wurde, hat er sich heute auf die ganze globale Ökonomie ausgebreitet und zeigt sich besonders deutlich im Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie (ebd.: 77). Energie-, Ressourcen- und Stoffströme bewegen sich heute rund um den Planeten und sind durch lineare und nicht durch Kreislaufprozesse gekennzeichnet. Durch den metabolischen Bruch im gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur kommt es zu einer Akkumulation von Reichtum auf der einen und zur Anhäufung von Ressourcenverarmung, Umweltverschmutzung, Arten- und Lebensraumzerstörung etc. auf der anderen Seite (ebd.: 196).

2.3.3 Sozialer Metabolismus, Stoffströme und ökologisch ungleicher Tausch

Die zentralen wissenschaftlichen Debatten, die es ermöglichen, die Machtbeziehungen und die Verteilung natürlicher Ressourcen auf globaler Ebene und innerhalb von Ländern sichtbar zu machen, sind jene, die sich um die Begriffe des sozialen Metabolismus, der gesellschaftlichen Stoffströme und des ökologisch ungleichen Tausches drehen.25 Das Konzept des gesellschaftlichen Stoffwechsels bzw. des sozialen Metabolismus wurde schon von Marx im ersten Band des Kapitals verwendet, um „den Austausch zwischen Mensch und Erde“ bzw. den „Austausch zwischen Gesellschaft und Natur“ zu beschreiben (Martínez-Alier 2004b). Nachdem der Begriff jahrzehntelang unbeachtet blieb, erhielt er in den 1960er Jahren ein Revival und wurde spätestens ab 1997 durch Marina Fischer-Kowalsky wieder fest in die Sozialwissenschaften integriert. Sie führte es als Kernkonzept zur Analyse von Stoffströmen ein und bezeichnet damit die relativ stabilen „materiellen und energetischen Austauschbeziehungen zwischen Gesellschaft und Natur“ (Fischer-Kowalsky 1997; Martinez-Alier et al. 2010; Fischer-Kowalski, Mayer & Schaffartzik 2011: 98). Auf diese Weise können Inputs wie etwa Ressourcen und Energie und gleichzeitig Outputs z. B. in Form von Abfällen oder Emissionen sichtbar gemacht und die Relevanz stofflicher Importe und Exporte für Volkswirtschaften und deren Gesellschaften aufgezeigt werden (ebd. 2011: 97; Toledo 2013: 47 f.). Gleichzeitig können so die Energie- und Stoffströme von Gesellschaften empirisch ermittelt und sichtbar gemacht werden (Fischer-Kowalski 1997). Seit Ende der 1990er Jahre haben die Forschungen, die Energie- und Materialflüsse quantifizieren, erheblich zugenommen (Toledo 2013:46), wodurch zudem eine Reihe an neuen Indikatoren wie etwa der ökologische Fußabdruck, der ökologische Rucksack, das virtuelle Wasser oder Well-to-Wheel entstanden sind, die es ermöglichen, die globale Verteilung und Konzentration von Ressourcen, den Ressourcenverbrauch oder -extraktion hinter bestimmten Produkten oder entlang der Güterketten sowie die Abfallproduktion nachzuvollziehen (Martínez-Alier & Walter 2015:74). Diese Ansätze beschränken sich allerdings auf den stofflichen Input und Output von Volkswirtschaften und lassen die komplexen Konfigurationen des metabolischen Prozesses unbeachtet (Toledo 2013:46). Victor Toledo zeigt auf, dass diese Prozesse aus einem großen Netzwerk von Austauschen und sich gegenseitig bedingenden Veränderungen bestehen, die die scheinbar direkte Beziehung zwischen Aneignung und Konsum verschwimmen lassen (ebd.: 50).
Die Materialflussanalyse besteht aus der Summe aller materiellen Inputs in einer nationalen Ökonomie, der materiellen Akkumulation innerhalb des Wirtschaftssystems sowie dem Abzug der materiellen Outputs in anderen Ökonomien oder der Umwelt (in Tonnen) (Martínez-Alier & Walter 2015: 74). Auf diese Weise soll die physische Dimension der Wirtschaft, die sonst meist nur nach ökonomischen Indikatoren berechnet wird, darstellbar werden. Dabei kann allerdings nicht qualitativ zwischen Materialien unterschieden werden. Gerade was die letzten Outputs, die in Form von Abfällen an die Umwelt freigegeben werden, angeht, hat dies sehr unterschiedliche Konsequenzen für Mensch und Natur: Etwa ob diese gasförmig in die Atmosphäre freigegeben werden, in flüssiger Form in Wasserläufe oder was ihre Schadstoffbelastung angeht.
Allgemein wird dabei eine Tendenz eines zunehmenden Energie- und Materialkonsums sowie der steigenden Produktion von Abfällen auf globaler Ebene beobachtet (Martínez-Alier & Walter 2015:75; Schaffartzik & Kusche 2020: 61). Der ökonomische Austausch und die stofflichen Flüsse geschehen allerdings zum Vorteil mancher Gruppen und zum Nachteil anderer sowohl in der Gegenwart als auch hinsichtlich der Zukunft (Hornborg 2009). Die asymmetrische Verteilung der Ressourcen und der Abfälle entlang der commodity chains lässt eine direkte Verbindung zwischen den sozial-ökologischen Konflikten im globalen Süden (besonders bezüglich der lokalen Kosten der Extraktion und der Umweltverschmutzung) und dem wachsenden sozialen Metabolismus der Gesellschaften des globalen Nordens ausmachen (Martínez-Alier & Walter 2015:75; Schaffartzik & Kusche 2020:62). In Lateinamerika führt diese Tendenz zu einer steigenden Reprimarisierung der dortigen Ökonomien und einer negativen physischen Handelsbilanz, besonders auch in Bezug auf Metalle und Mineralien und andere Produkte aus dem Bergbau (Martínez-Alier & Walter 2015:77 f.). Aber auch rein ökonomisch betrachtet, reicht der enorme Materialexport nicht aus, um die Importe zu finanzieren (ebd.76). Dies führt zu stetig wachsenden Schulden dieser Staaten, die wiederum zur Intensivierung der extraktiven Sektoren und zur Reprimarisierung ihrer Ökonomien führen (ebd. 98). Alles deutet daher auf einen weiterhin bestehenden, strukturell verankerten ökologisch ungleichen Tausch hin (Hornborg 1998; Bunker 1984). Das bedeutet: Nicht nur Arbeitskraft und monetärer Wert werden international ungleich getauscht, sondern auch „Natur“ in Form vom Primärrohstoffen, Land und Umweltauswirkungen, die Voraussetzungen für den Export von Gütern oder Dienstleistungen sind (Hornborg 1998; Schaffartzik & Kusche 2020). Die billigen Exportpreise der ärmeren Länder berücksichtigen dabei die lokalen Externalitäten und die Erschöpfung der Ressourcen(quellen) nicht, sie müssen allerdings – dies hatte schon das Dependenzdenken bemerkt – im Gegenzug aus den wohlhabenderen Regionen Waren und Dienstleistungen zu hohen Preisen importieren. Die überlasteten Senken der Welt bspw. werden kostenlos beansprucht. Weil der nichtmonetäre Wert von Natur nicht in Handelsbilanzen abgebildet wird, bleiben diese Art von asymmetrischen Ressourcenflüssen und Machtverhältnissen oftmals ungesehen (Bunker 1984: 1018). Für den ökologisch ungleichen Tausch und die dabei zum Ausdruck kommenden kolonialen Kontinuitäten ist Lateinamerika ein besonders deutlicher Fall. Dabei wird in den verschiedenen dargelegten Debatten auf sozialer und ökologischer Ebene deutlich, wie die „Entwicklung“ der Zentren mit der „Unterentwicklung“ der Peripherien in einem engen Zusammenhang steht. Darauf wird im Folgenden genauer eingegangen.

2.3.4 Die Exklusivität der Produktions- und Lebensweise der Zentren

AutorInnen wie Elmar Altvater (1992: 20) sehen das Modell der kapitalistischen Industrialisierung bzw. die „ordentliche“ Wohlstandsgesellschaft des globalen Nordens als nicht verallgemeinerbar (vgl. auch Mies & Shiva 2016: 75; Hornborg 1998; Schaffartzik & Kusche 2020). Grund dafür ist, dass die europäisch-okzidentale Lebensweise mit ihren Denkmustern und Ideologien, ihren regulierenden politischen und sozialen Institutionen sowie ihrem hochtechnologischen Industrieregime auf einem hohen Energie- und Materialverbrauch beruht. Rein aus materiellen und energetischen Gründen und den physikalischen Grenzen des Planeten ist es demnach unmöglich, dass die gesamte Weltbevölkerung den hohen Energieverbrauch und Lebensstandard der Zentren annimmt. Diese Produktions- und Lebensweise ist zugleich Teil des Weltmarkts und greift für ihre Entwicklung ökologisch auf die global commons zurück, das heißt auf die Energie- und Rohstoffressourcen auf der Inputseite und auf die Umwelt als Deponie für die industriellen Emissionen und Abfälle auf der Outputseite (Altvater 1992: 21 f.). Demnach ist die zentrumsspezifische Industrialisierung ökologisch gesehen ein exklusiver Luxus für Teile der Weltbevölkerung, deren Annehmlichkeiten des industriellen Wohlstands nur so lange für sich beansprucht werden können, wie die heute noch nicht industrialisierte Welt de-industrialisiert bleibt (Altvater 1992: 23).26
Diese Privilegien der industriellen Wohlstandsgesellschaften werden durch die regulierenden Mechanismen auf dem Weltmarkt aufrechterhalten. Dabei spielten Mechanismen der Externalisierung eine besondere Rolle (Lessenich 2016). Sowohl das ökologische Gleichgewicht der Erde und jeder einzelnen nationalen Gesellschaft als auch damit einhergehend die Frage eines Ausgleichs des sozialen Metabolismus zwischen dem Abbau von Ressourcen, den damit einhergehenden Umweltzerstörungen und -verseuchungen auf der einen Seite sowie der Absorptions- und Transformationskapazität der natürlichen Senken auf der anderen Seite lässt sich – nach Altvater – in einer „Entropiebilanz“ ausdrücken (Altvater 1992:28).27 Die eigene Entropiebilanz kann jedes Land wiederum dadurch aufbessern, indem es seine ökologischen Probleme bei Produktion und Konsumtion externalisiert, das heißt beispielsweise ökologisch zerstörerische Produktionsschritte in andere Länder verlagert und dadurch die Bilanz anderer Länder und Regionen verschlechtert (Altvater 1992:30). Ein Ergebnis dieser Externalisierungen, die im Folgenden näher beleuchtet werden, ist der oben dargestellte ökologisch ungleiche Tausch (Schaffartzik & Kusche 2020: 63 f.). Kapitalistisches Wachstum kann demnach die kolonialen und ökologisch ungleichen Strukturen der Weltwirtschaft nicht entbehren, um fortzubestehen (Mies & Shiva 2016:76).
Das Externalisieren der umweltunverträglichen Produktionsschritte in andere Weltregionen – das heißt, vorwiegend in die Peripherie und Semiperipherie – ist demnach eine gängige Praxis der Zentrums-Länder. Seit der Erscheinung der Bücher „Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis“ von Stephan Lessenich (2016) und „Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus“ (2017) von Markus Wissen und Ulrich Brand wird dieses Thema im deutschsprachigen Raum wieder vermehrt diskutiert: So sei die moderne kapitalistische Gesellschaftsformation „[…] von Anfang an Externalisierungsgesellschaft – auch wenn sie sich das niemals eingestanden hat“ (Lessenich 2016:26). Der nördliche Wohlstandskapitalismus lagert in dieser Betrachtung die negativen Effekte seines Handelns auf Dritte aus. Er reproduziert seinen Wohlstand vorwiegend auf Kosten und zu Lasten des globalen Südens. Lessenich überträgt in seinen Überlegungen den ökonomisch geprägten Begriff der Externalisierung auf die soziologische Analyse der Zentrums-Länder wie Deutschland, um mit Blick auf soziale und ökologische Fragen ihre globalen Strukturmerkmale und Prozessdynamiken aufzuzeigen. Auf diese Weise rückt er die soziale Praxis und das Zusammenspiel der unterschiedlichen Machtpositionen der handelnden Akteure der Zentrums-Ökonomien in den Mittelpunkt (Lessenich 2016:44 ff.). Für ihn ist Externalisierung gleichermaßen eine Struktur, ein Mechanismus und eine Praxis: „Externalisierung lässt sich erstens nur auf Grundlage struktureller Machtasymmetrien in der Weltgesellschaft verstehen. Externalisierung ist in diesem Kontext zweitens als mehrdimensionaler, globalisierter Ausbeutungsmechanismus zu begreifen. Und drittens operiert sie alltagspraktisch in Form eines spezifischen Externalisierungshabitus, der den machstrukturierten Ausbeutungsbeziehungen geschuldet ist und diese beständig reproduziert“ (Lessenich 2016:52). Hier setzen auch Brand und Wissen an, wenn sie die imperiale Lebensweise der kapitalistischen Zentren untersuchen.
Laut Brand und Wissen beruht die imperiale Lebensweise in den Zentrums-Ländern ebenfalls darauf, „sich weltweit Natur und Arbeitskraft zunutze zu machen und die dabei anfallenden sozialen und ökologischen Kosten zu externalisieren“ (Brand & Wissen 2017: 12). Die Externalisierungen beschreiben sie als eine für ihre Teilhabenden unbewusste und unreflektierte Normalität, aus der die ihr zugrunde liegende Zerstörung ausgeblendet wird (ebd.). Gleichzeitig bestünde die kritisierte Lebensweise nicht nur aus den Praktiken des Konsums der Privathaushalte, sondern auch aus einer mit dieser einhergehenden Produktionsweise. Brand und Wissen konzentrieren sich bei ihrer Analyse sowohl auf die Alltagspraxen als auch auf die ihnen unsichtbar zugrunde liegenden gesellschaftlichen und internationalen Kräfteverhältnisse (Brand und Wissen 2017:13). Während die imperiale Lebensweise in anderen Weltregionen krisenverschärfend wirkt28, führt sie dort, wo sich ihr Nutzen konzentriert, zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie ermöglicht die Abmilderung sozialer Konfliktdynamiken und den Zugriff auf billige Reproduktionsbedingungen der Privathaushalte und wird nicht zuletzt dadurch wesentlicher Bestandteil der Reproduktion großer Teile der Gesellschaft des globalen Nordens (Brand und Wissen 2017: 14, 86, 89 f.).
Die imperiale Lebensweise beruht einerseits auf Exklusivität, da sie überproportional auf globale Senken und Ressourcen zugreift und somit nicht verallgemeinerbar ist (Brand und Wissen 2017: 90). In der Folge agieren die dominanten Akteure der imperialen Lebensweise sowohl zur Durchsetzung ihrer Interessen – also der Aneignung billiger Natur und billiger Arbeitskraft – als auch zur Abschottung gegen das Außen – im Falle von Migration – repressiv und gewaltförmig (ebd.: 15). Laut Stephan Lessenich (2016) haben wir dabei einen historischen Punkt erreicht, indem es für die Zentren viel schwieriger wird, die Kosten zu externalisieren bzw. diese Externalisierung zu legitimieren. Zudem zeigt er an Beispielen wie der Migration auf, dass diese Kosten derzeit teilweise in anderer Form die Zentren selbst wieder treffen. Gleichzeitig breitet sich die westliche Lebensweise und ihre Konsumnormen auch auf Teile der Mittelklassen in den (Semi-)Peripherien aus (Brand & Wissen 2017: 91 f.; Landherr & Graf 2019). Insgesamt stabilisieren, reproduzieren und intensivieren diese Entwicklungen, die sich vor allem im Zuge des 20. Jahrhunderts vollziehen, die oben beschriebene, koloniale und weltweite Arbeitsteilung.

2.3.5 Die Legitimation der Internalisierung sozial-ökologischer Kosten durch die internen Machtverhältnisse in der Peripherie

Ausgehend von den oben dargelegten Ansätzen der Externalisierung und der imperialen Lebensweise, haben Jakob Graf und ich diese Überlegungen auf die Peripherie übertragen und mit den lateinamerikanischen Theorien in Dialog gesetzt.29 Gerade in Ländern wie Chile haben sich diese Kosten der Externalisierung und der imperialen Lebensweise – bedingt durch die Übernutzung der Ressourcen in Kombination mit ersten spürbaren Folgen des Klimawandels – in den letzten Jahren erheblich verschlimmert und zu einer starken Zunahme sozial-ökologischer Konflikte geführt. Die Internalisierung schwerwiegender Kosten zum „Nutzen anderer“ wird zwar von Machtverhältnissen und Strukturen auf internationaler Ebene bestimmt, kann allerdings nicht allein von diesen aufrechterhalten werden. Die angeführten makrostrukturellen Erklärungsansätze der Machtbeziehungen und Abhängigkeiten auf globaler Ebene können daher nicht als allumfassende Erklärung für die wirtschaftliche und politische Entwicklung innerhalb der Peripherien verstanden werden.
Schon in Zeiten der Debatten, aus denen sich die dependenztheoretischen Ansätze entwickelt haben, wurde von einer Reihe von AutorInnen kritisiert, man könne die bisher vorherrschende modernisierungstheoretische Darstellung der endogenen Ursachen der „Unterentwicklung“ nicht einfach vollkommen durch die externen Faktoren der Abhängigkeit ersetzen (Cardoso & Faletto 1976 [1969]; Marini 1974; Cardoso 1995). Besonders Fernando Cardoso und Enzo Faletto wiesen darauf hin, dass die Abhängigkeit zwar maßgebend für die internen Entwicklungen der lateinamerikanischen Länder sei, dass sie diese aber nicht gänzlich und allein erklären könnte. Sie betonten vielmehr die Verknüpfung von internen und externen strukturellen Komponenten, denn die externe Komponente kommt, auf diese Weise betrachtet, auch als eine spezifische Art der Beziehung zwischen den sozialen Gruppen und Klassen innerhalb der unterentwickelten Nationen zum Ausdruck (Cardoso & Faletto 1976:28 ff.). Und wie Cardoso (1995) später schreibt:
„Die Analysen des historischen Konstitutionsprozesses der Peripherie der internationalen kapitalistischen Ordnung müssen die Dynamik der Klassenbeziehungen im Inneren der Nationen erklären […]. Die externen Konditionierungen, das heißt die kapitalistische Produktionsweise auf internationaler Ebene, „der Imperialismus“, der externe Markt, etc. […] schreiben sich auf strukturelle Weise sowohl in die Artikulation der Wirtschaft, der sozialen Klassen und des Staates mit den Zentrumsökonomien und den dominanten Mächten ein als auch in die Artikulation derselben Klassen und der ökonomischen und politischen Organisationsform, die im Inneren der jeweiligen Abhängigkeitssituation vorherrscht“ (Cardoso 1995:188).
Im Sinne von Cardoso & Faletto widmen sich auch Jakob Graf und ich den internen Strukturen und Mechanismen der Internalisierungsgesellschaften30 und identifizieren dabei die zentrale Rolle der „besitzenden Klasse“ sowie internationaler Unternehmen zur Aufrechterhaltung dieser Strukturen auf lokaler und nationaler Ebene (Landherr & Graf 2017, 2019, 2021; Landherr und Ramírez 2019). Im Falle von Chile konzentrierten wir uns auf den Akteur der „besitzenden Klasse“, dessen Rolle durch Extraktivismus, Neoliberalismus und Machtkonzentration besondere Bedeutung erlangt (Landherr & Graf 2017:571 ff.). Dabei wurden die zentralen Mechanismen zur Durchsetzung ihrer Interessen auf nationaler und lokaler Ebene untersucht (Landherr & Graf 2021) – die zumeist mit den Interessen der Zentren konvergieren. Diese Machtressourcen ermöglichen es der besitzenden Klasse, ihre Interessen in politischen Entscheidungen, der Verabschiedung von Gesetzen und Regulierungen den öffentlichen Medien und im hegemonialen Diskurs, der Wissensproduktion und in den Territorien durchzusetzen. Auf diese Weise tragen die besitzende Klasse und all diejenigen, die für sie arbeiten, im Wesentlichen dazu bei, dass slow violence-Phänomene nicht als gesellschaftliches Problem anerkannt werden. Sie sind jene, die Fanon (2018: 41 ff.) die „cultural bewilderers“ des Kapitalismus nennt. Diese „army of new bewilderers“ unserer Zeiten sind „doubt producers und doubt disseminaitors whose job it is to maintain populist levels of uncertainty sufficient to guarantee inaction“(Nixon 2011:40). Von ihnen werden gezielt und intendiert Machtressourcen und Mechanismen eingesetzt, die das Nicht-Wissen fördern und somit zur Unsichtbarkeit und inaction gegenüber den slow violence-Phänomenen beitragen (Landherr & Graf 2017: 579; Landherr & Graf 2021). Auf diese Weise können besonders große Unternehmen von der gesellschaftlichen inaction profitieren und sich Zeit erkaufen (Nixon 2011:40), bevor das von ihnen verursachte Umweltproblem öffentlich bekannt wird.31 Gleichzeitig werden damit die durch die globale Weltwirtschaft und die damit einhergehenden Vorgänge des ökologisch ungleichen Tauschs verursachten sozialen und ökologischen Kosten aktiv internalisiert. Die Machtressourcen der besitzenden Klasse stellen somit zentrale endogene Internalisierungsmechanismen dar, die latenten und offenen Konflikte vor Ort vorbeugen und diese teilweise effektiv verhindern können.

2.3.6 Die Politische Ökologie und die Verteilungskonflikte um Ressourcen und Senken

Der oben beschriebene, sich aus den globalen Verhältnissen ergebende, soziale Metabolismus führt auf lokaler, nationaler und globaler Ebene – wie bereits angemerkt wurde – nicht nur zu sozialen Ungleichheiten, sondern auch zur ungleichen Verteilung und Konzentration von Ressourcen und der Inanspruchnahme von natürlichen Senken. Die junge Disziplin der Politischen Ökologie widmet sich den dadurch entstehenden ökologischen Verteilungskonflikten und erweitert hierfür Begriffe der Politischen Ökonomie um solche der Ökologie.32 Laut ihr haben Umweltprobleme immer eine soziale Ursache und müssen deshalb in ihrem politischen und ökonomischen Kontext analysiert werden und die Interessen und Machtverhältnisse der beteiligten Akteure sowie deren Diskurse berücksichtigen. Joan Martínez-Alier, der die Politische Ökologie mitprägte, führte das Konzept Anfang der 1990er als einer der ersten in die spanischsprachigen Debatten ein. Er versteht als zentralen Gegenstand der Disziplin die Untersuchung ökologischer Verteilungskonflikte (Martinez-Alier 2002: 12 f., 54, 70). SozialwissenschaftlerInnen aus dem Bereich der Politischen Ökologie beschäftigten sich seitdem vor allem mit der Geschichte und dem Wissen über (Escobar 2005; Leff 2006; De Sousa Santos 2006; Quijano 2000, 2007), dem Zugang zu (Martínez-Alier 2004a; Alimonda 2002) und der Kontrolle über (Leff 2006; Folchi 2003; Machado 2010) natürliche Ressourcen und ergründen Machtverhältnisse, -beziehungen und -strukturen (Dietz 2014).
Die Politische Ökologie entspringt teilweise auch Debatten, die oben schon angesprochen wurden: So geht sie aus der ökologischen Kritik der ökonomischen Vernunft (Gorz 1977, 1989), der Aufdeckung des zweiten Widerspruchs des Kapitals (O’Connor 2001), aber auch aus den kritischen Teilen der Ökologischen Ökonomie hervor (Martínez-Alier 1995). Während sich die Politische Ökologie im Allgemeinen mit der „ökologischen Verteilung“ und den Konflikten um den (sozialen und materiellen) Nutzen der Natur als Lebensgrundlage um die angeeigneten Ressourcen sowie den dabei anfallenden Kosten beschäftigt, fügen die lateinamerikanischen TheoretikerInnen ihr noch weitere Aspekte hinzu. Dies hat vor allem mit der dekolonialen Kritik an der westlichen Wissensproduktion und dem ihr zugrunde liegenden Naturverständnis zu tun, das teilweise auch die Politische Ökologie übernehme. Arturo Escobar (2005) spricht deshalb von ökonomischen, ökologischen und kulturellen Verteilungskonflikten und Enrique Leff (2015) plädiert für die Errichtung alternativer ökologischer Rationalitäten, die unter anderem auch die Wissensformen der Betroffenen berücksichtigen, um diesem Forschungsfeld gerecht werden zu können:
Political ecology is the study of power relations and political conflict over ecological distribution and the social struggles for the appropriation of nature; it is the field of controversies on the ways of understanding the relations between humanity and nature, the history of exploitation of nature and the submission of cultures, of their subsumption to capitalism and to the rationality of the global world-system; of power strategies within the geopolitics of sustainable development and for the construction of an environmental rationality (Leff 2015: 33).
Alimonda (2011: 46) fasst die unterschiedlichen Definitionen der Politischen Ökologie als die Untersuchung komplexer und widersprüchlicher Artikulationen zwischen vielzähligen Praktiken und Repräsentationen (mitinbegriffen hier sind unterschiedliche Wissenssysteme und topologische Dispositive) zusammen, durch welche verschiedene politische Akteure auf gleicher oder unterschiedlichen Ebenen (lokal, regional, national, global) auftreten und entsprechende Effekte auf die Konstruktion von Territorien und der Verwaltung der natürlichen Ressourcen ausüben. Dies tun sie mit unterschiedlichen Legitimitätsgraden und durch Kollaboration oder Konflikt.33 Alimonda (2011:51 ff.) plädiert – wie oben beschrieben – außerdem für die Berücksichtigung der Kolonialität der Natur in den Peripherien.
Ein weiterer besonderer Fokus der Politischen Ökologie in Lateinamerika ist seine intensive Beschäftigung mit dem Sektor des Bergbaus (Alimonda 2011; Machado 2011, 2014; Svampa 2011; Dietz 2017; Landherr 2018; Nacif 2019). Die Politische Ökologie der Bergbauindustrie spielt dabei auch in der Extraktivismusdebatte (siehe in Anschnitt 2.3.8) eine wichtige Rolle und wird hier vor allem auf den Widerstand, den er erzeugt (Gudynas 2012; Svampa 2011) und die (Entwicklungs-) Alternativen, die daraus entstehen (Acosta 2014; Gudynas 2012), untersucht. Darüber hinaus werden auch die strukturellen Aspekte der slow violence innerhalb der Politischen Ökologie untersucht. Ein interessanter Anknüpfungspunkt ist, dass viele Ansätze innerhalb der Politischen Ökologie direkt oder indirekt auf Galtungs Konzept der strukturellen Gewalt zurückgreifen, indem die Nord-Süd-Perspektive beispielsweise anhand der Dependenztheorien (Zentrum und Peripherie) oder des Weltsystemansatzes (erweitert auf Semiperipherie) eingenommen wird, die wiederum stark von Galtungs Theorie des strukturellen Imperialismus (Galtung 1971) beeinflusst wurden. Im lateinamerikanischen Kontext werden diese Aspekte noch durch die oben beschriebenen dekolonialen Ansätze (Machado 2014) etwa vom Grupo Modernidad/Colonialidad (Alimonda 2011; Leff 2003, 2015, 2017; Escobar 1996, 2005) und verschiedenen anderen „Epistemologías del Sur“ (De Santos Sousa 2006) ergänzt, um die Ursachen, Formen und Konsequenzen der funktionalen Aufteilung der Welt zu beschreiben und zu untersuchen.34
In der vorliegenden Forschungsarbeit werde ich die dekolonialen Ansätze der Politischen Ökologie bzw. diejenigen Ansätze bevorzugen, die bei ihren Analysen den lateinamerikanischen Kontext berücksichtigen. Sie sind, was die Wissens- und Machtverhältnisse in Lateinamerika angeht, stark von den Arbeiten von Escobar (1996, 2005, 2011) und Enrique Leff (2001, 2003, 2004, 2017) beeinflusst. Escobar verwendet dabei Foucaults Diskurskonzept (Foucault 1991), um der Frage nachzugehen, wie die Natur durch Diskurse sozial konstruiert wird und wie bestimmte Ideen und Verständnisse der Natur, Ökologie, Gesellschaft und Politischen Ökonomie darüber bestimmen, wie Natur wahrgenommen und genutzt wird. Weiter beschäftigt ihn die Frage, welchen Einfluss diese Wahrnehmungen und Einstellungen auf Subjekt- und Machtpositionen in Form einer „Eco-governamentality“ haben. AutorInnen wie Escobar und Leff identifizieren „Entwicklung“ dabei – wie schon oben dargelegt wurde – als Herrschaftsdiskurs, der in eine „imperiale Globalität“ mit eurozentrischen Vorstellungen von Modernität und Entwicklung eingebettet ist und zunehmend globale Gültigkeit erlangt hat (Escobar 2008). Demnach ist auch das Konzept des Extraktivismus, welches auf eine 500-jährige Geschichte der Ressourcenausbeutung verweist, von großer Bedeutung, um die koloniale und postkoloniale Plünderung, Ausbeutung, Akkumulation, Konzentration und Zerstörung zu verstehen (Acosta 2014; Harvey 2004; Gudynas 2012; Svampa 2011; Machado 2014).
Sozial-ökologische Konflikte werden innerhalb dieser Disziplin auf allen Ebenden erforscht. Im Laufe der letzten Jahrzehnte sind zudem auch unterschiedliche Werkzeuge entstanden, um diese zu dokumentieren. So gibt es mittlerweile regionale (siehe etwa FIOCRUZ) und globale (EJOLT und EGOV) Karten, die sozial-ökologische Konflikte abbilden sowie Datenbanken (OLCA, OCMAL, WRM, GRAIN), in denen diese thematisch oder nach Sektoren aufgelistet werden. Die Forschungslücke der Politischen Ökologie (und der Ungleichheitsforschung im Allgemeinen) besteht allerdings im Bereich der unsichtbaren Umweltprobleme, da sich die bisherigen Forschungen nicht mit latenten Ungleichheiten und Konflikten oder gar Umweltproblemen und Fällen ungleicher Verteilung von Ressourcen oder ökologischer Kosten, durch die kein manifester Konflikt entsteht, beschäftigen und deshalb meist auch weder die inaction der beteiligten Akteure gegenüber diesen noch die unterschiedlichen Dimensionen des Nicht-Wissens bezüglich dieser berücksichtigen. Vereinzelt werden diese Aspekte zwar erkannt, allerdings unzureichend auf ihre Gründe und Wechselbeziehungen untersucht. Außerdem liegt der Fokus der bisherigen Forschung vor allem auf einzelnen Akteursgruppen, etwa der betroffenen Bevölkerung, der Wissenschaft oder dem Staat und nicht auf den Beziehungen, Netzwerken und ihrem übergeordneten Zusammenspiel als gesellschaftlicher Umgang mit diesen sozial-ökologischen Problemen.
In der vorliegenden Arbeit geht es im Wesentlichen um die Konsequenzen der extraktivistischen Naturaneignung und -ausbeutung der Bergbauindustrie auf konkrete ökologische Kreisläufe und lokale Bevölkerungsgruppen. Dabei lege ich einen Fokus auf das Eindringen von giftigen Substanzen und Schadstoffen in Luft, Wasser, Böden, Nahrungsketten und Körper, und somit auf die langsame und gewaltvolle Zerstörung von Lebensgrundlagen und dem Leben selbst. Da diese allerdings materiell unsichtbar sind und ein manifester, offener Konflikt in der Regel ausbleibt, werden diese Konsequenzen, die sich in Form von slow violence äußern, oftmals nicht in der Politischen Ökologie berücksichtigt. Die weiterführende Forschung müsste meines Erachtens den Kategorien der gesellschaftlichen Unsichtbarkeit von Umweltproblemen und der latenten Konflikte mehr Beachtung schenken, um auch diese Formen der ökologischen Ungleichheiten fassen zu können.

2.3.7 Unsichtbare Betroffene, offener Widerstand und latente Konflikte

Ein zentraler Aspekt, der dazu führt, dass sich slow violence-Phänomene oftmals unbeachtet über lange Zeiträume ausbreiten, ist die Tatsache, dass die Betroffenen oft marginalisierte und benachteiligte Bevölkerungsgruppen darstellen, die in Politik und Medien, aber auch in den (Sozial-)Wissenschaften wenig oder gar keine Beachtung finden. Nach dem Motto: „wo wir keine Opfer sehen, gibt es auch kein Problem“, werden diese sozial-ökologischen Probleme oftmals auch wissentlich ignoriert (siehe doubt producers in Nixon 2011:40) oder nicht wahrgenommen. Dies gilt – wie ich im Rahmen meiner empirischen Forschungen darstellen werde – sowohl auf lokaler als auch auf nationaler und internationaler Ebene. Seit Anfang der 1980er Jahre beschreiben die Umweltgerechtigkeitsbewegungen (EJ – Environmental Justice) ausgehend von den USA, die ungleiche Verteilung von Umweltbelastungen auf verschiedene Bevölkerungsgruppen, wobei meistens jene Gruppen betroffen sind, die schon gesellschaftlich – teilweise mehrfach – benachteiligt sind (Pulido 1996; Newton 2009; Martinez-Alier 2002: 168 ff.).35 Bei Opfern von slow violence überlappen sich häufig eine Reihe von Ungleichheitsachsen, was zu einer mehrfachen gesellschaftlichen Marginalisierung der betroffenen Gruppen führt: „Their unseen poverty is compounded by the invisibility of the slow violence that permeates so many of their lives“ (Nixon 2011:4).
Um diese Unsichtbarkeit marginalisierter Gruppen aufzuzeigen, stützt sich Nixon auf die Theorien von Ramachandra Guha und Joan Martinez-Alier (Guha & Martinez-Alier 1997), auf die Studien von Mike Davis (2006) und besonders auf all jene lokal verorteten AutorInnen, die von Nixon als „writer-activists“ beschrieben werden und die für ihn eine zentrale Bedeutung einnehmen. Nixon zeigt dabei auch diejenigen Phänomene der slow violence auf, die teilweise von westlichem Umweltaktivismus hervorgerufen werden. Er beschreibt etwa, wie die reichen Zentrums-Länder, nach der Durchsetzung vom Umweltstandards durch den erfolgreichen Druck von „full stomach environmentalists“ in diesen Ländern, ihren giftigen (Industrie-)Müll in ärmere Länder abschieben und das Problem für sie dadurch gelöst scheint. Dass der Müll weiterhin existiert und ab diesem Punkt einfach andere, aber vor allem viel ärmere Menschen verseucht, bleibt schlichtweg unsichtbar (Nixon 2011: 2). Lessenich begreift dies als den Schleier des „Nicht-wissen-Wollens“ (Lessenich 2016:63 ff.) innerhalb der „Externalisierungsgesellschaften“, deren Teilhabende ignorieren, über die Verhältnisse der BewohnerInnen anderer Weltregionen zu leben. Das Funktionieren der Externalisierungsgesellschaft beruht demnach wesentlich auch auf individuellem und kollektivem Vergessen (Lessenich 2016:67). Vergessen werden dabei jedoch nicht nur die Konsequenzen des kollektiven Handelns, sondern eben auch die Betroffenen.
Während die politischen Eliten und die besitzende Klasse der peripheren Staaten direkt an der Aufrechterhaltung der internationalen Arbeitsteilung und den damit einhergehenden extraktivistischen Sektoren beteiligt sind und von diesen profitieren,36 ist besonders die ländliche und lokale Bevölkerung, sowie die der städtischen Armutsviertel negativ davon betroffen (Martínez-Alier 2004a; Auyero & Berti 2013; Davis 2006; Landherr 2018). Auch das viel verbreitete Argument der durch diese Sektoren geschaffenen Arbeitsplätze und des Ausbaus der Infrastrukturen entpuppt sich für diese Bevölkerungsgruppen häufig als ein leeres Versprechen (Bechtum 2022; Landherr & Graf 2021). Die gut bezahlten, höher qualifizierten und formellen Arbeitsplätze werden in der Regel an Personen von außerhalb vergeben, während nur ein geringer Anteil der AnwohnerInnen dieser Megaprojekte einen Arbeitsplatz ergattern kann. Letztere werden zudem oftmals saisonal oder zeitlich begrenzt und – wenn sie überhaupt formell angestellt werden – oft über Subunternehmen beschäftigt (Arboleda 2020; Landherr & Graf 2021). Besonders wenn es sich um extraktivistische Enklaven handelt, wie sie oft im Bergbau vorherrschen (Svampa 2020:78 f.), kommt den großen extraktiven Unternehmen die Eigenschaft zu, den Arbeitsmarkt zu monopolisieren, indem sie andere wirtschaftliche Sektoren (oftmals durch den „Kampf um die gleichen Ressourcen“), lokale Ökonomien und die Subsistenzwirtschaft verdrängen (Landherr & Graf 2021; Svampa 2020: 78 ff.). Auch die Infrastrukturprojekte und der versprochene „Fortschritt“ tragen weit mehr zur Vertiefung und Steigerung der Extraktion der Ressourcen bei als zum Allgemeinwohl der Bevölkerung (Bechtum 2022). Maristella Svampa beschreibt die Situation wie folgt: „Solche Territorien [bieten] oft das wiederholte Bild von Plünderung und Enteignung: Postkarten eines stark degradierten Territoriums, verwandelt in eine Opferzone, die den lokalen Gemeinschaften nur noch die desolaten ökologischen und sozial-gesundheitlichen Auswirkungen als Erbe hinterlässt“ (Svampa 2020:78).
All dies erklärt, warum in Ländern wie Chile die Zahl der sozial-ökologischen Konflikte Hand in Hand mit der Intensivierung des Extraktivismus stetig zunimmt. Durch die steigende Präsenz und der Häufung von Umweltskandalen kommt es auch immer häufiger schon vor der Errichtung neuer Megaprojekte zu Widerstand seitens der Bevölkerung. Die „Entwicklungsillusionen“ die mit dem Rohstoffkonsens Anfang des 21. Jahrhunderts (Svampa 2020:22 f.) verbreitet wurden, haben ihre Wirkung verloren. Dies ist spätestens seit Ende des Rohstoffbooms ab 2014 der Fall, wo die extrem ungleiche Kosten-Nutzen-Verteilung sichtbar wurde (Landherr et al. 2019). Ramachandra Guha und Joan Martínez-Alier beschreiben die häufigste Konfliktform in diesem Kontext als „environmentalism of the poor“. Damit weisen sie erstens darauf hin, dass die extrem ungleiche Verteilung der ökologischen Schäden dazu führt, dass der Anstieg der ökologischen Verteilungskonflikte besonders bei armen Bevölkerungsgruppen zu beobachten ist (Martínez-Alier 2002: 54) und zweitens, dass die städtischen und ländlichen Armen sich vor allem deshalb für den Schutz von ökologischen Ressourcen engagieren, weil ihre Produktions- und Lebensweise von deren Verfügbarkeit und intakten Ökosystemen abhängt (Martinez-Alier 2002: 12 f.; Guha & Martinez-Alier 1997: xxi). Dies wurde auch von Mike Davis (2006) konstatiert, der das Phänomen als Slum Ecology37 beschreibt. Was Davis besonders für Armenviertel in Großstädten konstatiert, beobachtet auch Enrique Leff im ländlichen Bereich Lateinamerikas, wo es zu einer zunehmenden „Ökologisierung der Kämpfe der Indigenen und Bauern“ kommt (Leff 2004 in Svampa 2020:47). Ökologischen Konflikten kommt in diesem Kontext folglich stets eine Verteilungsdimension bezüglich der natürlichen Ressourcen zu. Darüber hinaus sind in diesem Kontext die sozialen, ökologischen und ökonomischen Konfliktlinien nicht die einzig relevanten Dimensionen. Kulturelle Faktoren und Kosmovisionen des eigenen Naturbezugs spielen insbesondere dann eine Rolle, wenn die Konflikte indigen geprägt sind (Alimonda 2011: 45).
Auch die Pionierarbeit von Laura Pulido (1996) zeigt die Überlappung der „Ungerechtigkeiten“ bei denjenigen Bevölkerungsgruppen, die typischerweise am stärksten menschlich verursachten Umweltproblemen ausgesetzt sind. In ihrer Untersuchung des Widerstands einer Kooperative wirtschaftlich benachteiligter und rassistisch diskriminierter ArbeiterInnen in New Mexico gegen den Einsatz von Pestiziden distanzierten sich diese im Laufe der Proteste allmählich immer deutlicher vom vorherrschenden Umweltaktivismus, da ihre Forderungen teilweise inkompatibel oder sogar konträr waren. Während der westlich geprägte und oft städtische Umweltaktivismus vermehrt mit abstrakten Idealvorstellungen arbeitet und oftmals durch die räumliche Distanz und die Möglichkeit der Externalisierung keinen direkten Bezug zu den konkreten Umweltproblemen hat, sind es die ärmeren Gemeinschaften, die teilweise zwar kein Ideal der unberührten intakten Natur haben oder haben können (weil sie auch ökonomisch direkt von ihr abhängen), aber gleichzeitig die alltäglichen ökonomischen, sozialen und ökologischen Kosten am eigenen Leib spüren (Pulido 1996: 125 ff., 161). Für sie bedeutet Umweltschutz die Sicherung ihrer Produktions- und (Über-)Lebensbedingungen und ist Ursache und Teil für eine Reihe von Ungleichheiten, von denen sie gleichzeitig betroffen sind (ebd.: 146 ff.).
So wichtig die Analysen von Guha & Martínez-Alier (1997), Pulido (1996, 2015) und Davis (2006) sowie der breiten (sozial-ökologischen) Konfliktforschung auch sein mögen, sie zeigen auch auf, warum slow violence-Phänomene kaum in ihnen vorkommen. Ein manifester Konflikt ist eine allgemeine Grundvoraussetzung für die Wahrnehmung eines sozial-ökologischen Problems innerhalb der Sozialwissenschaften. Ohne einen Konflikt scheint es keine Betroffenen zu geben und ohne sie auch kein Umweltproblem. Dementgegen werde ich im empirischen Teil dieser Arbeit zeigen, dass die betroffenen Bevölkerungsgruppen oftmals gerade wegen ihrer gesellschaftlichen Benachteiligung nicht über das offiziell anerkannte Wissen verfügen, das es ihnen erlauben würde, Umweltprobleme „zu belegen“. Darüber hinaus wissen sie teilweise selbst teilweise nichts über die Ursachen ihrer Probleme. Und sogar wenn das Wissen und die Belege dafür vorhanden sind, fehlen ihnen die sozialen, ökologischen und kulturellen Mittel, um einen Konflikt öffentlich werden zu lassen. Aus der allgemeinen Ungewissheit und die durch ihre Unsichtbarkeit entstehende Unmöglichkeit einer Lösung der bestehenden sozial-ökologischen Probleme entsteht das, was Auyero und Swistun (2007, 2008a, 2009) die toxische Ungewissheit (incertidumbre tóxica) nennen, die die Betroffenen über die Dauer zur inaction zwingt. Teilweise entsteht aber auch eine toxische Frustration (Singer 2011), also die eigene Gewissheit über die Umwelt- und Gesundheitsbelastung bei gleichzeitig fehlenden Mittel, etwas dagegen zu tun. Arme Menschen haben folglich – und wie im empirischen Teil dieser Arbeit nochmal deutlich wird – oftmals nicht die Mittel ihre Konflikte manifest zu machen. Doch nicht nur die Umweltprobleme auch die Bevölkerungsgruppen selbst befinden sich auf der anderen Seite der „abyssalen Linie“ (de Sousa Santos 2010: 30, 36). Sie selbst, ihre Praktiken, ihre Wissens- und Lebensformen und besonders ihre Probleme bleiben „out of sight“ (ebd.) und gesellschaftlich „nicht-existent“. Im besten Fall gehören sie in der öffentlichen Wahrnehmung zu den „minderwertigen“ Menschen (Quijano 2000), im schlechtesten zu den „Nicht-Menschen“ (Fanon 2018). Es handelt sich um die unsichtbaren disposable people (Bales 1999; Nixon 2011; Ureta 2018). Auch wenn also der sogenannte Enviromentalism of the poor und Bewegungen der „Environmental Justice“ in den letzten Jahrzehnten an Stärke gewinnen, heißt dies nicht, dass durch sie alle sozial-ökologischen Ungleichheiten aufgedeckt werden. Latente Konflikte und auf diese Weise auch die hinter ihnen stehenden ökologischen Probleme, um die es in der vorliegenden Arbeit geht und die vermutlich die Mehrzahl bilden, bleiben in der öffentlichen Wahrnehmung unsichtbar.

2.3.8 Extraktivismus als internalisierter sozialer Metabolismus der Peripherie

Die lateinamerikanische Extraktivismusdebatte ist für die vorliegende Forschung von besonderer Bedeutung, weshalb sie in einem eigenen Unterkapitel dargestellt wird. Sie entstand in einer Zeit, als eine Reihe von Ländern Lateinamerikas Anfang der 21. Jahrhunderts unter progressiven Regierungen (allen voran Venezuela, Brasilien, Ecuador und Bolivien) umfangreiche Reformen und ehrgeizige sozialpolitische Ziele verfolgten, die sie mit den Erträgen größtenteils verstaatlichter extraktivistischer Sektoren finanzierten (Svampa 2016: 11).38
Die Extraktivismusdebatte hat ihren Ursprung dabei in einer innerlinken Diskussion über die Fortführung der politischen Ausrichtung dieser progressiven Regierungen Lateinamerikas auf Rohstoffexporte und der daraus folgenden Fortführung ihrer Rohstoffabhängigkeit. Zentrale AutorInnen der Debatte sind unter anderem Eduardo Gudynas, Maristella Svampa, Alberto Acosta und Edgardo Lander. Im Mittelpunkt der von der Politischen Ökologie, den dependentistas und dem Weltsystemdenken inspirierten Kritik am (Neo-)extraktivismus steht die mit diesem verbundene Zerstörung der zukünftigen Lebensgrundlagen der Bevölkerung und der Produktion vor Ort. Sie weisen gleichzeitig von Anfang an auf die mit der Intensivierung der Rohstoffausbeutung einhergehende Vertiefung der Abhängigkeit und der damit verbundenen Verfestigung der Position dieser Länder im globalen Welt-System hin (Svampa 2020: 12 ff.). Obwohl die Debatte nicht explizit in einer der vorhergehenden Theorietraditionen verankert ist, kristallisieren sich doch am Begriff des Extraktivismus die Kernmerkmale und -elemente aller zentralen Theorieströmungen heraus, in denen sich auch die vorliegende Arbeit wiederfindet.
Der Begriff des Extraktivismus wurde erstmals vom uruguayischen Sozialökologen Eduardo Gudynas 2009 prominent (wieder)verwendet (Gudynas 2009: 190 ff.), um das Entwicklungsmodell einiger progressiver Regierungen zu beschreiben, das auf der Aneignung und dem billigen Export der Natur beruhe. Extraktivismus bzw. Extraktivismen definiert er „als eine Art der Aneignung natürlicher Ressourcen in großen Mengen und/oder mit hoher Intensität […] bei denen mindestens die Hälfte als Rohstoffe ohne industrielle oder nur mit geringer Verarbeitung exportiert werden und als Commodity definiert werden können“ (Gudynas 2019: 22, 2013: 15).39 Diese allgemeine Definition wird auch in dieser Arbeit verwendet, wobei sie in den folgenden Seiten noch spezifiziert bzw. durch das Verständnis anderer AutorInnen erweitert wird. Der Fokus von Gudynas liegt seitdem in der Ausarbeitung und dem Verständnis des Extraktivimus als eine Aneignungsweise/-form natürlicher Ressourcen.
Obwohl Gudynas Extraktivismus von Anfang an auch als einen abhängigen und nichtnachhaltigen Entwicklungsweg verstand, waren es vorwiegend andere AutorInnen, die diese beiden Aspekte ausarbeiteten. Sie verstehen Extraktivismus nicht nur als eine konkrete Aneignungsweise, sondern auch als eine (kapitalistische) Produktionsweise im umfassenderen Sinne,40 das heißt, beispielsweise als ein bestimmtes Entwicklungsmodell (Svampa 2016). Außerdem wird der Extraktivismus als eine spezifische Rolle Lateinamerikas in der internationalen Arbeitsteilung verortet (Machado 2014). Extraktivismus beschreibt und verbindet somit die lokale Extraktion von Rohstoffen bis hin zu den globalen Handels- und Herrschaftsbeziehungen und ermöglicht es die kausalen, geografischen und zeitlichen Zusammenhänge sichtbar zu machen, die teils auch zur Unsichtbarkeit schleichender Gewalt (slow violence) führen (Nixon 2011). Extraktivismus ist insofern immer glokal, da er einerseits ganz konkret lokal an ein bestimmtes Territorium und gleichzeitig in die Globalisierung und die globalen Märkte eingebunden ist, welche wiederum (durch Faktoren wie Rohstoffpreise oder Investitionszuflüsse) die Entwicklung auf lokaler Ebene (mit)bestimmen (Gudynas 2019: 23). Gleichzeitig verstehe ich in dieser Arbeit Extraktivismus – wie Gudynas (2019:23) – eng gefasst immer als ein sozial-ökologisches Phänomen der konkreten massenhaften und irreversiblen wirtschaftlichen Aneignung von Natur. Damit distanziere ich mich von neueren Ansätzen, die das Konzept auf eine Reihe anderer Aneignungsprozesse übertragen. So verstehe ich unter Extraktivismus weder finanziellen Extraktivismus (Cavallero & Gago 2020), ontologischen oder epistemischen Extraktivismus (Grosfoguel 2016) noch etwa z. B. Care- oder Sorgeextraktivismus (Wichterich 2019). Auch wenn sich in vielen dieser Ansätze deutliche Parallelen abzeichnen, so ist es doch u. a. die stofflich-materielle Ebene und die damit einhergehenden irreversiblen Eingriffe und Veränderungen unseres Lebensraums, die meiner Ansicht nach ein entscheidendes Kernelement darstellen, das bei diesen Formen der Aneignung nicht zutrifft. Außerdem gibt es zu diesen Themen meistens einen jeweils ganzen eigenen Theoriestrang, der berücksichtigt werden sollte.
Zu den AutorInnen, die das dieser Arbeit zugrunde liegende Verständnis von Extraktivismus prägen, gehören des Weiteren hauptsächlich Maristella Svampa und Horacio Machado. Laut Maristella Svampa (2019:14) stelle der Extraktivismusbegriff innerhalb der (Sozial-)Wissenschaften ein Werkzeug dar, um das Akkumulationsmodell meist (semi-)peripherer Länder zu verstehen und fungiere gleichzeitig als ein Kampfbegriff sozialer Bewegungen, die sich gegen die sozial-ökologischen Auswirkungen, die mit extraktiven Prozessen einhergehen, wehren (Svampa 2020). Der Extraktivimus als Akkumulationsmodell – so ein breit geteilter Konsens – hat seinen Ursprung vor etwa 500 Jahren und wird seitdem durch die Nachfrage der Zentren des (damals entstehenden) Kapitalismus bestimmt (Acosta 2009; Machado 2014; Svampa 2020: 12 f.). Horacio Machado Aráoz (2014) versteht Extraktivismus in diesem Sinne weder als spezifisches Problem gewisser „unterentwickelter“ Ökonomien noch als eine modernisierungstheoretisch gedachte Phase oder Stufe des Kapitalismus, sondern vielmehr als ein strukturelles Merkmal des globalen Kapitalismus: das Produkt der ursprünglichen historisch-geopolitischen Hierarchie zwischen Kolonialgebieten und imperialistischen Metropolen (Machado Araóz 2014:149 ff.). Die umfassende Aneignung der Natur in Lateinamerika ist durch deren abhängige Integration in die Weltwirtschaft, die „Erfindung Europas“ im Kolonialismus und die sich seitdem vollziehende Expansion des Kapitals gekennzeichnet (Svampa 2020: 13). Neben der engeren, oben eingeführten Grunddefinition von Gudynas halte auch ich dieses zusätzliche weite Extraktivismusverständnis als Akkumulationsmodell für analytisch wertvoll und führe im Folgenden die wichtigsten Aspekte davon aus.
Maristella Svampa (2019: 14) versteht den Extraktivimus – wie oben bereits angedeutet – als eine analytische, zeitdiagnostische und politische Kategorie, die sowohl die Machtverhältnisse als auch die bestehenden Konflikte deutlich macht und gleichzeitig über die tatsächlich existierenden Asymmetrien hinaus „auf einen Komplex geteilter Verantwortung, der sowohl den Globalen Norden als auch den Globalen Süden, Zentrum und Peripherie gleichermaßen betrifft“, verweist (Svampa 2020:11). Außerdem lässt sich durch den Begriff auch die aktuelle multiple Krise verdeutlichen sowie die ökologische Nicht-Nachhaltigkeit des aktuellen lateinamerikanischen Entwicklungsmodells und „seiner fortschreitenden Logik der sozialen Enteignung (desposesión)“ (Svampa 2020:11) aufzeigen. Dabei ist jedoch zwischen Extraktivismus und Neoextraktivismus zu unterschieden (Gudynas 2009, 2011). Im Gegensatz zu neoextraktivistischen Ländern, die durch eine größere Rolle des Staates und öffentliche Umverteilungsprogrammen charakterisiert sind, kann sich der konventionelle Extraktivismus –wie er auch in Chile vorzufinden ist – nicht durch soziale Umverteilung legitimieren und Konflikte in geringerem Maße durch staatliche Eingriffe abfedern. Die beiden Modelle unterscheiden sich auch durch ihre jeweilige Form der Aneignung der Natur. In Chile gibt der Staat die Kontrolle über die natürlichen Ressourcen beispielsweise weitgehend an private Unternehmen ab. Die besitzende Klasse entsteht damit – wie schon oben angesprochen – als sozialer und politischer Akteur der Internalisierung globaler Abhängigkeiten und ökonomischer Zwänge (Landherr & Graf 2017). Dieser Gruppe gelingt es, aus der extraktivistischen Position innerhalb des Weltsystems sowohl Profit zu schlagen als auch das Wirtschaftsmodell gegen Veränderungen zu verteidigen. Allerdings ergeben sich daraus auch erhebliche Konfliktpotenziale bei denen sich Extraktivismus, Neoliberalismus und soziale Ungleichheit gegenseitig verstärken (Landherr & Graf 2017; Landherr, Graf & Puk 2019; Graf & Landherr 2020).
Bis etwa 2014 hielt der seit Beginn der 2000 durch hohe Rohstoffpreise gekennzeichnete commodity boom und damit auch der sogenannte Rohstoff-Konsens in Lateinamerika an (Svampa 2020: 22 ff.). Letzterer sei mit einem „[…] großangelegten Export von Primärgütern, dem Wirtschaftswachstum und der Ausweitung des Konsums verbunden“ (Svampa 2020: 22). Die Phase ließe sich laut Stefan Schmalz durch vier Eigenheiten charakterisieren: die Transnationalisierung der Produktion weltweit und in Lateinamerika, die hohe Rohstoffnachfrage aus China, eine allgemeine ökologische Krise sowie den relativen Erfolg der Mitte-Links-Regierungen (Schmalz 2019: 43 ff.). Die Reprimarisierung der lateinamerikanischen Ökonomien dieser Phase vertiefte allerdings – wie von den KritikerInnen vorausgesagt – die bestehenden Abhängigkeiten und erschwerte gleichzeitig Schritte hin zu einer größeren Unabhängigkeit ihrer Ökonomien vom Weltmarkt (Svampa 2020:24).41 Statt die Wirtschaft zu diversifizieren, haben die hohen Erträge, die durch den extraktivistischen und exportbasierten Ansatz generiert wurden, zudem zu einer Tendenz zur Monoproduktion und zur Monopolisierung der Wirtschaftszweige geführt, wodurch sich die Länder auf den Export von sehr wenigen kaum oder gar nicht weiterverarbeiteten Rohstoffen spezialisiert und von deren Nachfrage und Rohstoffpreisen auf dem Weltmarkt stark abhängig gemacht haben.
In Krisenzeiten, wie nach dem Rohstoffpreissturz 2014, wurde die Weltmarktabhängigkeit des extraktivistischen Wirtschaftsmodells immer wieder deutlich. Zudem führten die Krisen zu einer Verschärfung der sozial-ökologischen Probleme, da sie zur Intensivierung von Kommodifizierungsprozessen der Natur beitragen würden, wie etwa das sogenannte integrative Green Economy-Modell (Svampa 2020:17). Zusammenfassen lässt sich über den Extraktivismus als Entwicklungsmodell mit Svampa Folgendes sagen:
„Er definiert einen Modus der Naturaneignung, ein Muster der kolonialen Akkumulation, das mit der Geburt des modernen Kapitalismus verbunden ist. Seine Aktualisierung im 21. Jahrhundert bringt jedoch neue Dimensionen auf unterschiedlichen Ebenen mit sich: die globale Ebene (hegemonialer Übergang, Erweiterung der Rohstoffgrenzen, Erschöpfung nicht erneuerbarer Naturgüter, sozial-ökologische Krise, planetarische Ausmaße), die regionale und nationale Ebene (Verhältnis zwischen dem extraktiven Exportmodell, dem Nationalstaat und der Aneignung außerordentlicher Erträge), die territoriale Ebene (stärkere Besetzung der Territoriums, ökoterritoriale Kämpfe mit Beteiligung verschiedener kollektiver Akteure) und schließlich die politische Ebene (Entstehung einer neuen Grammatik des politischen Protests, Zunahme der staatlichen und halbstaatlichen Gewalt)“ (Svampa 2020:19).
Von besonderem Interesse für die vorliegende Arbeit ist die von Svampa angesprochene territoriale Ebene des Extraktivismus. Insbesondere mit Blick auf Konflikte um extraktive Prozesse stellt Territorialität ein begriffliches Kernelement dar, um die Dynamiken und den Fortbestand des Extraktivimus in Lateinamerika verstehen zu können (Svampa 2020: 19 f., 57 ff.; Landherr & Graf 2021: 59 f.). Der Extraktivismus geht auf der territorialen Ebene einher mit einem Vormarsch extraktivistischer Gewalt (Svampa 2020:75 ff.). Die steigende direkte Gewalt und die wachsende Kriminalisierung von sozial-ökologischen Protesten sowie den zunehmenden Morden an UmweltaktivistInnen – besonders in Lateinamerika – stellt eine ernsthafte Bedrohung für die Demokratie dar (Svampa 2020:18). Besonders in extraktivistischen Enklaven und „kriminellen Territorialitäten“ kommt es dabei zur Verstärkung und Diversifizierung kollektiver Gewalt und der Intensivierung von Gewaltketten.42 In diese sind teilweise auch schleichende, langsam eintretende und unsichtbare Gewaltformen mitinbegriffen (Auyero & Swistun 2008b; Auyero & Berti 2013), die langfristig schwere und oftmals irreversible Spuren in Ökosystemen und Körpern hinterlassen (Machado 2011:137 ff.). Genau wie schon für die Politische Ökologie im Allgemeinen beschrieben, besteht allerdings auch in der Extraktivismusdebatte die größte Forschungslücke bei latenten Konflikten, also bei jenen Umweltkatastrophen, die gesellschaftlich (noch) nicht als solche anerkannt wurden.

2.4 Der Bergbau als Ursache von slow violence

Un día el cobre se alzará
Y en las entrañas del carbón
Temblará el grito contenido de la tierra.
Eines Tages wird sich das Kupfer erheben
Und aus den Eingeweiden der Kohle
Wird der erstickte Schrei der Erde erbeben
Aus Canto a los caídos von José Seves, Jorge Coulón und Luis Advis

2.4.1 Bergbau in Lateinamerika und seine Konflikte heute

Der Bergbau spielt seit Anfang des kapitalistischen Weltsystems bis heute eine zentrale Rolle im kapitalistischen Weltsystem. Wie oben dargestellt (siehe Abschnitt 2.2.4), waren es besonders die Bodenschätze, die die „Eroberung“ der „neuen Welt“ vorangetrieben haben (Machado 2014). Seitdem sind sie wesentlicher Bestandteil des modernen kapitalistischen Industriesystems, der Infrastrukturen der Wohlstandsgesellschaften sowie der Technologien der Zentren (Altvater 1992:23 ff.). Es geht dabei um weit mehr als die Nachfrage nach Edelmetallen. Im Folgenden werde ich einen kurzen Überblick über die Bedeutung des Bergbaus geben, um daraufhin auf seine allgemeinen sozial-ökologischen Konsequenzen einzugehen. Im Gegensatz zu den vorherigen Abschnitten dieses Kapitels gehen die folgenden Abschnitte nicht nur auf die bestehende Theorie, sondern auch ganz konkret auf den Forschungsgegenstand selbst ein. In Kapitel 5 wird dieser nochmals kontextualisiert und auf den konkreten Fall bezogen dargestellt. Aufgrund der Spezifität des Forschungsthemas erscheint es mit allerdings unabdinglich diesen schon vor der Fragestellung und Heuristik (Kapitel 3) einzuführen, um es dem/der LerserIn zu ermöglichen, die spezifischen Merkmale, die ihn zu einem prädestinierten slow violence-Phänomen machen, nachvollziehen zu können.
Bergbauprodukte sind überall: Gold und Silber, aber viel mehr noch Kupfer und Eisen (und der daraus hergestellte Stahlt) werden in der Automobil- und Transportindustrie genauso großzügig eingesetzt wie in der Bauindustrie und in der Errichtung moderner Infrastruktur. Kupfer ist zentral für Elektroinstallationen, für Strom- und Netzkabel und -trassen, Rohrleitungen, elektrische Maschinen und Elektromotoren, beim Schienenverkehr und generell für den Gebäudebau. Stahl und Eisen wiederum werden sowohl in der Bauindustrie (besonders im Hochbau), als auch im Schiffsbau und besonders in der Herstellung eines Großteils von Maschinen (darunter auch Autos, landwirtschaftliche Maschinen, Kräne, Pumpen, Förderanlagen, Turbinen) aber auch im Brückenbau, für die Herstellung von Waffen und Werkzeugen sowie Stahlseilen benötigt. Des Weiteren waren Bergbauprodukte wie Salpeter als Düngemittel ein Grundstein für großflächige industrielle Landwirtschaft. Mineralien und Seltene Erden werden in der Chemieindustrie, bei der Herstellung von Glas, Keramik, Katalysatoren und Elektronik sowie in der Metallurgie benötigt. Besonders bei Lithium, Kobalt und Nickel gibt es derzeit eine große Nachfrage für die Herstellung von Batterien im Bereich der Elektroautos und erneuerbarer Energien. Der Abbau der benötigten Rohstoffe für die sogenannte grünen Technologien, also die „kritischen“ und „strategischen“ Rohstoffe der heutigen Zeit wird durch die steigende Nachfrage auf dem Weltmarkt derzeit stark intensiviert und führt in den extraktivistischen Ländern (aus denen sie stammen) seit geraumer Zeit zu einer stetigen Intensivierung des Bergbaus (Alimonda 2011; Martínez-Alier & Walter 2015; Svampa 2016). Nicht nur Lateinamerika, sondern auch ostasiatische Staaten und andere Semi-Peripherien des Weltsystems nehmen im Bereich der Bergbauprodukte eine wichtige Rolle ein (Arboleda 2020; Rodríguez 2020).
Der Rohstoffboom ab Anfang des 21. Jahrhunderts hatte in Lateinamerika allerdings besonders starke Konsequenzen. Der Anteil der Bergbauprodukte in den Materialflüssen der Region ist von zehn Prozent im Jahr 1970 auf 25 Prozent im Jahr 2009 gestiegen. Im selben Jahr stellten Bergbauprodukte mit 2100 Millionen Tonnen materiell gesehen den zweithöchsten Export an Materie nach dem an Biomasse dar (West & Schandl 2013). Die Region produzierte fast die Hälfte des weltweit extrahierten Kupfers, sowie die Hälfte des Silbers und über 20 Prozent des globalen Zinks und Goldes (Henríquez 2012). Ein Drittel der Bergbauinvestitionen fließt auf diese Weise nach Lateinamerika (Ericsson & Larsson 2013). Ein Großteil des Kupfers, rund dreißig Prozent der gesamten Produktion, wird allein in Chile extrahiert (Dorner 2020: 6). Neun Prozent des weltweiten Kupferabbaus entfallen allein auf den staatlichen chilenischen Konzern Codelco.43 Kupfer stellt gerade vor dem Hintergrund der Energiewende einen Rohstoff mit zentraler Bedeutung für die Zentrums-Länder dar (Dorner 2020: 6).44 Unter besonderem Druck stehen derzeit Bolivien, Argentinien und Chile zudem deshalb, weil auf ihren Territorien 70 Prozent der hochbegehrten Lithiumvorkommen liegen. Chile allein exportiert derzeit fast 60 Prozent des weltweiten Lithiums.45
Die sozialen und ökologischen Kosten (siehe nächster Abschnitt) steigen mit zunehmendem Druck auf die Vorkommen nicht proportional, sondern exponentiell. Hinzu kommt, dass der Bergbau ein „intrinsisch nicht-nachhaltiger“ Sektor ist (Landherr 2018: 131 ff.). Bergbauressourcen sind per se nicht erneuerbar und somit begrenzt, ihre Extraktion und Weiterverarbeitung ist grundsätzlich nicht gänzlich nachhaltig gestaltbar und geht deswegen mit erheblichen Kosten für die Umwelt und die Menschen an den unterschiedlichen Stationen der Wertschöpfungskette einher (Martínez-Alier & Walter 2015:87 ff.). Dabei fällt die große Mehrheit dieser Kosten im Falle des Bergbaus direkt am Abbauort an. Die Umweltbelastung und die damit einhergehenden ökologischen Auswirkungen können teilweise zwar leicht minimiert, aber keinesfalls gänzlich behoben werden (Bridge 2004). Die Industrie ist zudem stark abhängig von anderen Ressourcen wie Wasser, großen Mengen an Energie und dem Einsatz von chemischen Komponenten. Deren Einsatz kann durch neue Technologien nur teilweise minimiert werden. Besonders aber die Abfall- und Tailingsproduktion nimmt stetig weiter zu (siehe nächster Abschnitt) und stellt ein grundlegendes und größtenteils irreversibles46 Problem für Mensch und Natur dar (Martínez-Alier & Walter 2015). Peak metals/minerals (Kerr 2014) sollten demnach nicht am reinen Vorkommen der Metalle, sondern neben den abnehmenden ökonomischen Gewinnen vor allem an den steigenden sozialen und ökologischen Kosten und daraus resultierenden Grenzen gemessen werden (Prior et al. 2012).
Die ökologischen Auswirkungen auf Wasser, Böden, Gesundheit, Lebensformen und deren gesellschaftlichen Rechte (Berechtigung) versetzt UmweltaktivistInnen und besonders betroffene Bevölkerungsgruppe zunehmen in Sorge. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in diesem Sektor auch besonders viele sozial-ökologische Konflikte auftreten (siehe bspw. für Chile INDH 2016). Die Konflikte können an den unterschiedlichen Ebenen der Wertschöpfungskette entstehen. Typischerweise treten sie an vier Momenten auf: bei der Extraktion, beim Transport, bei der Weiterverarbeitung und bei der Entsorgung der Abfälle des Produktionsprozesses (Martínez-Alier & Walter 2015: 94; Arboleda 2020). Im Fall vom Bergbau fällt der Extraktionsort in der Regel mit dem ersten Verarbeitungsort, den zentralen Materialtransportwegen und dem Lagerungsort der größten Menge der produzierten Industrieabfälle zusammen. Es kommt in diesem Kontext vor, dass sogenannte „Opferzonen“ (zonas de sacrificio) entstehen, das heißt, geografische Räume, die äußerst hohe Maße an Umweltbelastungen konzentrieren. In diesen Zonen nehmen häufig einzelne Industrien große Mengen an Ressourcen und Senken in Anspruch und geben Schadstoffe über verschiedene Wege (Luft, Wasser, Böden) an die Umwelt ab. Die Folge ist nicht zuletzt eine stetig steigende Zahl an Konflikten. Die Daten von OCMAL47 zeigen, dass bezüglich des Bergbaus die Länder Peru, Mexiko und Chile dabei an der Spitze der Liste stehen. Von den 284 von OCMAL aufgelisteten Bergbaukonflikten in Lateinamerika befinden sich 49 allein in Chile.48 Laut EJOLT sind diese zu 50 Prozent indigenen Gruppen zuzuordnen (Martínez-Alier & Walter 2015). Bei 162 (mehr als die Hälfte) davon handelt es sich um Konflikte zwischen Unternehmen und Bevölkerung, die um die Nutzung des Wassers geführt werden. Dabei fällt im Rahmen der vorliegenden Arbeit auf, dass nur einer der drei empirischen Untersuchungsfälle derzeit in einer der existierenden Datenbanken gelistet ist. Tailings sind nur in seltenen Fällen Ausgangspunkt oder zentrales Thema eines offenen Konflikts. Selbst wenn ein Konflikt im Kontext von Tailings entsteht, werden sie höchstens im Laufe eines solchen offenen Konflikts überhaupt auf die Liste der Konsequenzen des Bergbaus aufgenommen oder als Ursache für andere Probleme – wie etwa die Wasserverschmutzung – wahrgenommen. Tailings als alleinstehendes ernstzunehmendes gesellschaftliches Problem, werden in den seltensten Fällen durch einen sozial-ökologischen Konflikt sichtbar.
Die Omnipräsenz der Bergbauprodukte in der kapitalistischen Produktion und somit im gesamten modernen Wirtschaftssystem sowie die zahlreichen daraus resultierenden sozial-ökologischen Konflikte auf der ganzen Welt spiegeln sich thematisch auch in den Sozialwissenschaften und insbesondere in der Politischen Ökologie und der Extraktivismusdebatte wider, was den Bergbau und dessen Konflikte zu einem gut erforschten Forschungsgegenstand macht. Hierzu zählen Klassiker wie „We eat the Mines and the Mines eat us“ von June Nash (1983), Forschungen zur Bergbaukonflikten in unterschiedlichen Weltregionen (Dietz & Engels 2017; Dietz 2019; Bebbington 2007; Romero-Toledo 2019) und den daraus resultierenden Ungleichheiten (Göbel & Ulloa 2014) oder die unzähligen Sammelbände zum Thema (Alimonda 2011; Delgado Ramos 2010) sowie die globalen Analysen der neuen Ressourcenabbaupolitik (Machado 2014, 2015) und rekonfigurierten Territorialitäten (Svampa 2020), die mit dem Aufstieg semi-peripherer ostasiatischer Staaten im Weltsystem und einer durch logistische Netzwerke reorganisierte Bergbauindustrie einhergehen, wie sie Martín Arboleda (2020) in „Planetary Mine. Territories of Extraction under Late Capitalism“ beschreibt. Auch in der Ungleichheitsforschung – spezifisch in der zu Environmental Justice – wird die Bergbauindustrie in vielen Fällen als Ursache für die Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheiten identifiziert (Göbel 2015; Alfie Cohen 2015; Martínez-Alier und Roca-Jusmet 2001; Martínez-Alier 2002, 2004a). Studien zum environmentalism of the poor (Martinez-Alier 2002; Folchi 2001) und dem so genannten empty belly ecologism widmen sich ebenfalls häufig diesem Bereich.
In der Folge sind sozial-ökologische Konflikte sowie die beteiligten Akteure in ihnen, die Macht- und Herrschaftsbeziehungen sowohl auf lokaler Ebene (Bechtum 2022; Nacif 2019; Svampa 2020:78 ff.), auf nationaler Ebene (Valencia-Hernández et al. 2017; Svampa 2020; Landherr 2018; Landherr et al. 2019) als auch auf globaler Ebene (Arboleda 2020; Fischer et al. 2016) und entlang des gesamten Produktionsprozesses und den daraus resultierenden Wertschöpfungsketten (Fischer et al. 2010; Fischer et al. 2021) und Stoffströmen (Martínez-Alier & Walter 2015; Schaffartzik & Kusche 2020) umfangreich beforscht worden. Diese Literatur ist außerordentlich wertvoll für die vorliegende Arbeit und ermöglicht es, auf bestehende Forschungsergebnisse und Erklärungsansätze zu diesem Thema zurückzugreifen. Sie stellt darüber hinaus einen guten Ausgangspunkt dar, um das Thema dieses Vorhabens innerhalb des lokalen, nationalen und globalen Kontextes einzubetten und bei der Aufarbeitung und Analyse der erhobenen Daten ein umfangreicheres Gesamtbild des Umgangs mit den industriellen Abfällen des chilenischen Bergbaus darstellen zu können. Diese aufgeführten Untersuchungen sind unter anderem sehr aufschlussreich, um diejenigen Ungleichheiten auszumachen, mit denen sich die slow violence im Bergbau überlappt. Die bisherige Forschung weist allerdings diesbezüglich auch eine deutliche Forschungslücke auf, die im Mittelpunkt des Forschungsinteresses dieser Arbeit stehen wird. Die aufgeführten Arbeiten beschäftigen sich fast ausschließlich mit gesellschaftlichen Umweltproblemen und Fällen der sozio-ökologischen Ungleichheit, die bereits durch einen manifesten Konflikt sichtbar geworden sind. Das bedeutet, dass slow violence-Phänomene wegen den ihnen inhärenten Merkmalen hier so gut wie kaum erfasst werden. Auch das Thema der Tailings an sich wird entweder nur als eines unter vielen Risikos aufgelistet und nicht weiter ausgeführt, oder aber nur dann erwähnt, wenn die von ihnen hervorgerufenen sozial-ökologischen Probleme durch ein katastrophales Ereignis plötzlich sichtbar werden. Damit weist die bisherige Forschung mit Blick auf die latenten und unsichtbaren Ungleichheiten eine Lücke auf.
Allerdings finden sich auch unter der bestehenden Literatur Ausnahmen, die sich mit Phänomenen der slow violence im Bergbausektor beschäftigten. So widmet sich etwa Horacio Machado Aráoz (2011) seit einiger Zeit den biopolitischen Konsequenzen dieser Industrie und seiner Industrieabfälle und darunter auch der „materiellen Gewalt“, die auf die Körper und Territorien ausgeübt wird sowie der „symbolischen Gewalt“ der öffentlichen Einrichtungen, der Gesundheitsämter und des Rechtswesens, die diese materielle Gewalt nicht anerkennen oder minimieren (Machado 2011: 137 f.). Dabei liefert er eine detaillierte Beschreibung der slow violence, die von den Produktionsprozessen im Bergbau ausgeht und legt dar, wie diese „ihre irreversiblen Spuren auf Körper und Territorien“ hinterlassen (ebd.: 137). Er beschreibt die gesundheitlichen Folgen der hohen Konzentrationen an toxischen Substanzen im Blut der Kinder und Erwachsenen, die Haut- und Atemwegskrankheiten, die neurologischen Anomalien und Erkrankungen des Verdauungstrakts, die hohen Krebs-, Morbiditäts- und Mortalitätsraten in der benachbarten Bevölkerung solcher Bergbauprojekte. Die lokale Bevölkerung – das wird in Machados Forschung deutlich – lebt in einer vergifteten Umwelt, einem verstümmelten Ökosystem, mit hoher Luftverschmutzung, stark belasteten Gewässern und Böden sowie kranken Pflanzen und Tieren. Er beschreibt auch die sich immer weiter zuspitzende Armut, die die frühe Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit zusammen mit der Vernichtung lokaler Ökonomien und den Bedingungen für eine erfolgreiche Subsistenzwirtschaft zur Folge haben (ebd.: 137 ff.). In meiner vorliegenden Arbeit werde ich an derartige deskriptive Forschungen anschließen und darüber hinaus darlegen, warum diese dramatischen Probleme und die Situation der „Gewalt über Körper und Territorien“ gesellschaftlich meist nicht sichtbar werden und die damit einhergehenden Konflikte meist latent bleiben. Dafür ist es zunächst nötig, nach den spezifischen Charakteristika der Schadstoffe, Chemikalien und Schwermetallen im Bereich des Bergbaumülls und deren Einfluss auf die wissenschaftliche und gesellschaftliche Unsichtbarkeit der mit ihnen einhergehenden sozial-ökologischen Problematik zu fragen.

2.4.2 Altlasten, chemische Substanzen und Tailings: die schleichende und unsichtbare Gefahr des Bergbaus

Die Wertschöpfungskette von Metallen und Mineralien zeichnet sich dadurch aus, dass der ökonomische Reichtum, der am Ort der Extraktion und der Aufbereitung der Erze verbleibt, äußerst gering ist, dabei aber enorme ökologische und soziale Kosten entstehen.49 Diese Kosten steigen, wenn die Reinheit der Vorkommen und somit die Konzentration der Mineralien und Metalle in den Erzen über die Zeit abnimmt und deshalb für den gleichen Ertrag insgesamt mehr Material gefördert werden muss. Dabei steigt auch ihr Energie- und Wasserverbrauch, die Menge an eingesetzten Chemikalien und die Produktion von Abgasen, Schlacke, Abfällen und Tailings (Kerr 2014). Während die Industrie diesbezüglich derzeit stark darum bemüht ist, die öffentliche Wahrnehmung über Bergbau zu verändern, indem sie in neue Technologien investiert und Konzepte wie Green Mining in den Mittelpunkt stellt, führt die steigende Nachfrage zusammen mit dem abnehmenden Reinheitsgrad zu einem weiterhin stetig steigenden Ressourcen- und Energieverbrauch und einer stetig zunehmenden Umweltbelastung durch immer größere Mengen an Tailings. Dieser Teufelskreis aus steigender Nachfrage und sinkender Reinheit ist mit Blick auf die Endlichkeit der Ressourcen der intrinsischen Nicht-Nachhaltigkeit der Bergbaus selbst geschuldet (Landherr 2018:132 f.). Darüber hinaus werden heutzutage vermehrt neue Vorkommen erschlossen, die aufgrund ihres geringeren Reinheitsgrades vorher nicht rentabel erschienen (Giurco et al. 2010). Die vom Bergbau ausgehende Umweltbelastung wird umso problematischer, weil sich durch den Druck des Weltmarkts die frontiers des Bergbaus in sensible Ökosysteme (etwa tropische Regenwälder, Nebelwälder, Gletscher, usw.) ausbreiten und auf Territorien indigener oder kleinbäuerlicher Bevölkerungsgruppen stoßen. Gerade in solchen Gebieten nehmen die Investitionen zuletzt allerdings stark zu (Svampa 2020; Bridge 2004; Bebbington 2012b).
Die größten ökologischen Belastungen im Bergbau entstehen – wie schon dargestellt – am Ort der Extraktion. Die Umweltverschmutzung resultiert meistens durch das Freisetzen chemischer Substanzen und Reagenzien während des Extraktions- und Verarbeitungsprozesses sowie im Lagerungsprozess der Abfälle. Die für diese Arbeit zentralen Rückstände des Bergbaus sind die dabei entstehenden Tailings, die ein Abfallprodukt des Bergbaus darstellen, das in großen Mengen bei der Aufarbeitung der Erze produziert wird. Die Art der Tailings, ihr Volumen und die Zusammensetzung der in ihnen enthaltenen Chemikalien und Schwermetalle hängen wiederum direkt vom Typus der Metalle und Mineralien ab, die abgebaut werden. Während bspw. Eisen oder Aluminium in relativ hohen Konzentrationen im Untergrund vorzufinden sind, müssen für Metalle wie Silber oder Kupfer sehr große Mengen an Erzen aufbereitet werden, was wiederum zu hohen Mengen an Tailings führt. Bei Kupfer stellt sich das Verhältnis als eins zu hundert dar (für ein Kilo Kupfer muss etwa. 1 Tonne Material bearbeitet werden) (Schoer et al. 2012; Martínez-Alier & Walter 2015: 89). Besonders dramatisch sind die Zahlen bei der Produktion von Gold: aus einer Tonne Erz werden lediglich 20 Gramm Gold gewonnen (Schoer et al 2012; Martínez-Alier & Walter 2015: 89). Die stetig steigende Bergbauproduktion und gleichzeitige „Verschlechterung“ der Vorkommen führt – wie schon erwähnt – weltweit zu einem starken Anstieg an jährlich neu produzierten Tailings und Industrieabfällen im Bergbausektor (Giurco et al. 2010; Mudd 2007a; Prior et al. 2012).
Die feinkörnigen Rückstände enthalten je nach Mineralien oder Metallen, die aus dem Erz extrahiert werden, unterschiedliche Chemikalien und Substanzen, die den Erzen – je nach Zusammensetzung der Erze – in unterschiedlichen Mengen und Kombinationen zur Trennung der Metalle von den übrigen Materialien beigefügt werden. Typischerweise handelt es sich dabei um hoch giftige Stoffe, wie Schwefelsäure in der Kupferproduktion50 oder Quecksilber in der Aufarbeitung von Gold sowie Zyanid im Gold- und Silberabbau (Español 2012).51 Die Erze enthalten außerdem an sich schon eine große Menge an Schwermetallen, die auf natürliche Weise im Untergrund vorkommen und durch den Produktions- und Lagerungsprozess extrahiert und an die Umwelt freigegeben werden. Die häufigsten gesundheits- und umweltschädlichen Substanzen, die in Tailings in hohen Konzentrationen vorzufinden sind, sind neben den oben genannten zudem Arsen, Blei, Chrom, Kupfer und Zink52(Sernageomin 2018). Nach der Extraktion stellen diese Substanzen vor allem in ihrer Kombination eine ernstzunehmende Gefährdung für die Gesundheit der Menschen und die Ökosysteme dar und können auch bei ordnungsgemäßer Lagerung nach internationalen Standards (meist in halbflüssiger Form in Absatzbecken oder Schlammteichen) mit einer hohen Umweltbelastung verbunden sein (Engelke & Klug 2018). Immer wieder versickert beispielsweise belastete Flüssigkeit in den Boden oder es geraten Schwermetalle und Chemikalien durch Wind, Regen und andere Wetterphänomene in die Umwelt. Auf diese Weise gelangen Schadstoffe auch in die Nahrungskette, die Ökosysteme und die Körper von Tieren und Menschen.
Auch durch die Oxidierung der Metalle und Mineralien (bspw. Nickel, Kupfer oder Blei), die in den Erzen natürlich vorkommen und die auftritt, sobald diese in Kontakt mit Sauerstoff, Wasser oder bestimmten Bakterien kommen, entstehen giftige Substanzen wie Schwefelsäure (Sernageomin 2018). Dies geschieht sowohl im Produktionsprozess als auch bei der darauffolgenden Lagerung. Die giftigen Substanzen dringen, besonders im Tagebau durch die höhere Wetterexposition, in die Böden und das Grundwasser oder oberflächliche Gewässer ein und breiten sich auf diese Weise unkontrolliert in andere Gebiete aus. Durch diese Prozesse können auch die in den Erzen enthaltenen Schwermetalle in das Grundwasser gelangen (Martínez-Alier & Walter 2015: 90; Bridge 2004; Giurco et al. 2010; Machado 2010).
Gelagert werden Tailings meistens in großen Auffang-, Absatzbecken oder Schlammteichen in Form von Schlamm (Engelke & Klug 2018). Die Dauer der Schadstoffbelastung, die von dieser Tailingdeponien ausgeht, kann von mehreren tausend Jahren bis mehrere hunderttausend Jahre betragen (Sernageomin 2018; Weinberg 2010; Terram 2003; Umweltbundesamt 2004), wie auch ExpertInnen der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) betonen (PW03). Theoretisch müssen sie deshalb auch über diese Zeiträume gewartet und instandgehalten werden, um die Ausbreitung der Schadstoffe auf die Umgebung zu vermeiden und die chemische Stabilität in ihnen zu erhalten (Sernageomin 2018). Um eine flüssige Konsistenz beizubehalten, braucht die Lagerung der Tailings ausreichend Wasser. Bisher gibt es auch keine endgültigen Lösungen, um über lange Zeiträume das Versickern von Bestandteilen in den Untergrund und das Grundwasser zu verhindern (Umweltbundesamt 2004: 329 ff.). Über diese Zeiträume muss also nicht nur für ihre chemische Stabilität, sondern auch für die physische Stabilität der Tailingdämme und Auffangbecken gesorgt werden (ebd.: 327 ff.). Immer wieder kommt es allerdings sogar bei noch funktionierenden Deponien zu Dammbrüchen mit katastrophalen Folgen. Bei fehlender Wartung der „sicher geschlossenen“ Bergwerke und der Einordnung der Tailings als Altlasten wird dies umso häufiger passieren. Statt ein sicheres Endlager stellen Tailingdämme folglich ein über sehr lange Zeiträume beständig drohendes und über die Zeit wachsendes Risiko für die naheliegende Bevölkerung und die Umwelt dar (Adasme et al. 2010). Dies gilt auch für die historischen Tailings, die in der Regel nicht als Schlamm, sondern in trockener Form gelagert werden.53 Dabei ist die Ausbreitung über die Luft und die Oxidierung ihrer Komponenten unvermeidbar. Ausschlaggebend für die Stärke und Art der Umweltverseuchung ist nicht unbedingt der Gesamtumfang der Tailings oder die Größe der Deponie, sondern ihre chemische Zusammensetzung. Es gibt also auch sehr kleine Deponien, die ein hohes Risiko für Umwelt und Gesundheit darstellen. Auch Projekte der Aufbereitung von Tailings tragen häufig zu noch größerer Belastung bei.54 Im Fall von Tailings gibt es zudem keine „endgültige Lösung“, sie können nur „sicher verpackt“ werden, aber ähnlich wie Atommüll nicht beseitigt werden. Sie stellen damit ein dauerhaftes gesellschaftliches Problem dar von dem ein konstantes Risiko ausgeht (Lottermoser 2007).
Tailings wurden zudem historisch in der Regel nicht ordnungsgemäß gelagert,55 weshalb sie sich heute ungesichert in großen Mengen und mit hohen Schadstoffkonzentrationen in ehemaligen (und teils aktuellen) Bergbaugebieten wiederfinden (Sernageomin 2020). Diese historischen Tailings liegen dann nicht in abgetrennten Becken, sondern als Deponien mit feinkörnigem sandartigem Material vor. Dieses Material unterscheidet sich in den meisten Bergbaugebieten kaum von der Umgebung, da es farblich den vor Ort vorkommenden Böden gleicht. Durch diese materielle Unsichtbarkeit und das kollektive Vergessen ihrer Existenz (viele von ihnen sind mehrere Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte alt) werden sie häufig nicht einmal als solche wahrgenommen, sind folglich auch nicht als solche gekennzeichnet und können sich deshalb ungestört ausbreiten (siehe hierzu Kapitel 6). Dies ist ein zusätzlicher Grund dafür, warum die Anzahl der Tailings konstant steigt, da alte Tailings wiederentdeckt werden. In Chile wurden bspw. im Jahr 2016 606 Tailingdeponien gezählt, im Jahr 2020 steht die Zählung schon bei derzeit 758 bekannten Tailings.56 Im Jahr 2016 wurden die Tailings zudem kategorisiert. Damals galten nur 100 als „aktive“ Tailings, was bedeutet, dass sie einem noch funktionierenden Bergwerk zugehörig sind. Die historischen Tailings geschlossener Bergwerke beliefen sich auf 266 und 239 galten als verlassen bzw. konnten ihren Verursachern nicht zugeordnet werden. Die allermeisten von ihnen, besonders die der letzten zwei Kategorien sind – nach heutiger Rechtslage57– nicht ordnungsgemäß gesichert. ExpertInnen gehen zudem von einer sehr hohen Dunkelziffer aus und schätzen die noch nicht registrierten, „verlassenen“ Tailings auf mehrere Tausend (siehe Kapitel 5 und PW03, PW05). Außerdem kommen durch die aktiven Bergwerke in Chile jährlich 700 bis 800 Millionen Tonnen Tailings hinzu (Sernageomin 2015).
Trotz des enormen Ausmaßes des Bergbaumülls, der unschätzbar langen Zeit ihrer Folgebelastungen und ihrer schon heute großen sozial-ökologischen Folgen, sind Tailings- nicht einmal in den sogenannten Bergbaunationen wie Chile ein bekanntes oder gesellschaftlich als relevant anerkanntes Umweltproblem. Die öffentliche Wahrnehmung erreichen Tailings auch weltweit nur selten. Dies ist meist nur dann der Fall, wenn ein spektakulärer oder katastrophaler Unfall – etwa in Form von Dammbrüchen wie sie 2015 und 2019 in Brasilien eintreten sind – geschieht. Sie werden dann allerdings als einmalige Ereignisse, als Unglück oder Folge fahrlässiger Instandhaltung eingeordnet und nicht mit einer permanenten slow violence in Verbindung gebracht, die über lange Zeiträume von ihnen ausgeht. Auch in Chile wurde erst dann erstmalig in der Öffentlichkeit über Tailings gesprochen, als beim Erdbeben 2010 ein Damm brach und ein Dokumentarfilm „Minas de oro, desechos de muerte“58 von Carola Fuentes diesen Fall kurzzeitig zum öffentlichen Thema machte. Die dennoch derzeit bestehende allgemeine gesellschaftliche Unsichtbarkeit der Tailings schlägt sich auch in der zu ihnen bestehenden sozialwissenschaftlichen Forschung nieder. Im Folgenden wird kurz auf die bestehende Literatur zu ähnlichen ökologischen slow violence-Phänomenen, die durch materiell unsichtbare Schadstoffe ausgelöst werden, sowie auf die vereinzelten Forschungen zu Tailings in Chile eingegangen.

2.4.3 Materiell unsichtbare Umweltprobleme (und Tailings) in den Sozialwissenschaften

Die Auffassung des langsamen und schleichenden Charakters von Umweltphänomenen und der slow violence, die von ihnen ausgeht, wurde von Rob Nixon (2011) nicht zuletzt von Rachel Carson übernommen, die als eine der ersten mit ihren Schriften über die langfristigen Auswirkungen menschlichen Handelns auf Ökosysteme ein größeres Publikum erreichte. Mit ihrem erstmals 1962 erschienenen Buch „Silent Spring“ legte sie den Grundstein für die US-Amerikanische Umweltbewegung. In ihrem Werk beschreibt sie das langsame und weitgehend unbeachtete Verschwinden von Tier- und Pflanzenarten – im Besonderen von Vögeln – sowie der Beschädigung von ganzen Ökosystemen seit dem massiven landwirtschaftlichen Einsatz von Pestiziden auf den Feldern (in diesem Fall hauptsächlich das Insektizid Dichlordiphenyltrichlorethan, abgekürzt DDT) (Carson 2000). Da sie in ihrem Buch vor allem über die langfristigen Folgen des Pestizideinsatzes schreibt, handelt es sich hierbei um ein Paradebeispiel dessen, was Nixon (2011) fünfzig Jahre später als slow violence bezeichnet und auf weitere Umweltkatastrophen angewendet hat. Carson hält den Einsatz von giftigen Chemikalien und deren Ausbreitung auf Wasser, Luft, Böden und Meere, für einen der alarmierendsten Angriffe auf die Umwelt, da diese Art der Umweltverschmutzung größtenteils irreversibel sei: „In this now universal contamination of the environment, chemicals are the sinister and little-recognized partners of radiation in changing the very nature of the world – the very nature of its life" (Carson 2000:23). Das Ausmaß der Verbreitung dieser Chemikalien beschreibt sie schon damals als quasi allgegenwärtig. Jeder Mensch würde in seinem Leben mit ihnen in Kontakt kommen und WissenschaftlerInnen würden keine Tiere mehr finden, in deren Körpern keine Rückstände dieser Chemikalien nachzuweisen seien: „For these chemicals are now stored in the bodies of the vast majority of human beings, regardless of age. They occur in the mother’s milk, and probably in the tissues of the unborn child“ (ebd.:31). Und weiter: „Chemicals sprayed on croplands or forests or gardens lie long in soil, entering into living organisms, passing from one to another in a chain of poisoning and death“ (ebd.:23). Sie spricht dabei auch schon von dem in dieser Arbeit verwendeten Konzept des Nicht-Wissens. Dabei verweist sie nicht allein auf das Nicht-Wissen unter den Betroffenen oder den AnwenderInnen dieser Pestizide,59 sondern auch auf das wissenschaftliche Nicht-Wissen: „I content, […] that we have allowed these chemicals to be used with little or no advance investigation of their effect on soil, water, wildlife, and man himself. Future generations are unlikely to condone our lack of prudent concern for the integrity of the natural world that supports all life“ (Carson 2000:29).
Seit Carsons Buch werden Schadstoffe, Müll, Strahlungen und Emissionen immer stärker Teil sozialwissenschaftlicher Forschung, stellen allerdings vergleichsweise immer noch ein Randthema innerhalb dieser dar. Auf globaler und nationaler Ebene werden beispielsweise in den Materialflussanalysen auch die materiellen Outputs erfasst (siehe Abschnitt 2.3.3), also teilweise auch die Industrieabfälle des Bergbaus. Allerdings werden diese in ihrer bloßen Menge und ohne qualitative Unterschiede dargestellt. Diese Methoden ermöglichen es zwar, wichtige Informationen etwa bezüglich des CO2-Ausstoßes auf verschiedenen Ebenen herzustellen und auch sonst „unsichtbare“ Schadstoffe zu quantifizieren (Martínez-Alier & Walter 2015). In ihnen kommen allerdings viele der tatsächlich verursachten Abfälle nicht vor, sie quantifizieren vor allem das, was gesellschaftlich sichtbar ist. Auch die qualitativen unterschiede der quantifizierten Outputs bspw. bezüglich ihrer Toxizität für Mensch und Natur oder die zeitliche Ausdehnung ihrer Folgen in die Zukunft werden nicht erfasst. Abfälle im Allgemeinen tauchen in der Literatur also oftmals auf, werden allerdings fast nie in ihrer Spezifität und ihren potenziellen Risiken analysiert, sondern vielmehr als Ursache und Beispiel ungleicher Verteilung der Outputs des (globalen) sozialen Metabolismus und der Nutzung natürlicher Senken (Laser & Schlitz 2019, 2021; Adeola 2011; de Carvalho Vallin & Gonzalves Dias 2019; Hafner & Zirkl 2019).
Obwohl also „toxische Gefahren“, „atomare Bedrohungen“ und „gefährliche Strahlungen“ in der politökologischen, ökofeministischen oder ökomarxistischen Literatur oft als Beispiele „hinterhältiger“ und katastrophaler Konsequenzen menschlichen Handelns gegenüber der Natur und (meist sehr armen) Bevölkerungsgruppen genutzt werden (Mies & Shiva 2016:95, 97, 103), bleibt die Spezifik häufig unsichtbarer Schadstoffe in der Regel auch hier außen vor. Es geht so gut wie immer um die wenigen, bereits sichtbar gewordenen slow violence-Phänomene und öffentlich bekannte Umweltskandale. Besonders die Schadstoffbelastung durch Tailings steht – trotz ihrer überbordenden Problematik – nur sehr selten im Mittelpunkt sozialwissenschaftlicher Untersuchungen (Ureta 2016b, 2022; Ojeda-Pereira & Campos-Medina 2021). Seitdem der Klimawandel zu einer globalen öffentlichen Sorge geworden ist, kam es in den Sozialwissenschaften zwar in letzter Zeit vermehrt zu Forschungen zu den Ursachen des Klimawandels und somit auch zu den ihn verursachenden Treibhausgasen – im Besonderen zu CO2- und Methanausstößen – (Malm 2016; Mitchell 2011; Wissen 2016) sowie vereinzelt auch zu Analysen zum Umgang mit Atommüll (Brunnergräber et al. 2012; Brunnergräber & Mez 2014). Alle weiteren Formen und Arten unsichtbarer Schadstoffe, Chemikalien, Schwermetalle und Strahlungen und ihrer Auswirkungen auf soziale Prozesse, bestimmte Personengruppen und die Gesellschaft im Allgemeinen bleiben innerhalb der Politischen Ökologie, der Umweltsoziologie und generell der Sozialforschung allerdings Randthemen Die bestehenden Untersuchungen zu derartigen Themen innerhalb der Sozialwissenschaften wurden fast ausschließlich im Bereich der Umweltgeschichte (Environmental History) und den Science an Technology Studies (STS) durchgeführt (siehe unten). Ausnahmen stellen die Arbeiten von Francis O. Adeola (2011) zu giftigem Industriemüll und ihren Auswirkungen auf nahegelegene Gemeinden sowie diejenigen von Auyero und Swistun (2007, 2008a, 2009), in denen sie den Zustand der konstanten Ungewissheit (toxische Ungewissheit) der betroffenen Bevölkerung über die Umwelt- und Gesundheitsauswirkungen ihres giftigen Umfeldes beschreiben oder jene von Singer (2011) dar, der eine anthropologische Untersuchung von Betroffenen durchführt und eine toxische Frustration bei den Betroffenen aufgrund fehlender Handlungsmöglichkeiten konstatiert.
Um die Schadstoffbelastung durch Tailings besser begreifen zu können, ist es also notwendig auf die Forschungen zum gesellschaftlichen Umgang mit Abfällen und Schadstoffbelastungen durch Chemikalien und Schwermetalle zurückzugreifen, die in der Umweltgeschichte und der STS darüber durchgeführt wurden. Im Bereich der Umweltgeschichte sind in den letzten Jahrzehnten einige Forschungsprojekte und -plattformen zum Thema (Industrie-)Müll und giftiger Abfälle entstanden, die teilweise in direkter Tradition zu Rachel Carsons Werk stehen. Darunter findet sich auch das internationale Forschungsnetzwerk „Deadly Dreams“, das interdisziplinäre Projekt „Toxic Commons“ oder die an der LMU München angesiedelte DFG-Emmy Noether Research Group „Hazardous Travels: Ghost Acres and the Global Waste Economy“ am Rachel Carson Center for Environment and Society unter der Leitung von Simone Müller. Dabei wird der Akzent häufig auf die Entstehungsgeschichte von bestimmten (Industrie-)Abfällen und ihre Entsorgung gelegt. Simone Müller untersucht bspw., wie die Weltmeere seit Jahrhunderten als Auffangbecken für alles „Ungewollte“ der Gesellschaft dienen. Im Meer können bis heute Abfälle außerhalb der Sichtweite und der (Umwelt-)Regulierungen verkappt werden. Alle nicht-recycelbaren Externalitäten des Wirtschaftssystems, besonders der giftige Müll, wurden auf diese Weise entsorgt: „The ships’ tales were one of the industrial world’s most toxic by-products, such as PCBs or outdated chemical weapons from the wars in Korea and Vietnam, which were first dumped and later on burned at sea. In the end, these ghost ships transported toxic remnants of industrial production in the Global North along former colonial shipping routes to “disposal” sites in countries of the Global South“ (Müller 2016b:13).60 Andere AutorInnen betonen, dass nicht nur ferne Weltmeere, sondern selbst der menschliche Körper als Senke für gefährlichen Müll dienen kann (Brown 2016:41 ff.).61 Zu Tailings können im Rahmen der Geschichtswissenschaft etwa die Arbeiten von Angela Vergara (2011) zur geschichtlichen Entstehung der Verseuchung der Bucht von Chañaral hervorgehoben werden, die in Kapitel 8 detailliert dargestellt werden.
Der gesellschaftliche Umgang mit Schadstoffen und chemischen Substanzen wird allerdings besonders innerhalb der Sociology of Science and Technology bzw. der Science and Technology Studies (STS) sowie von Ansätzen wie der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), die von Bruno Latour (1996, 2005) geprägt sind, erforscht. Diese Theorieansätze reihen sich zwar nicht unmittelbar in die bisher aufgeführten Theorietraditionen ein, sie sind allerdings von besonderer Bedeutung, um die Relevanz des Wissens, des Prozesses der Wissensproduktion und -verbreitung über unsichtbare Schadstoffe begreifen zu können, da sie die Besonderheiten dieser Art von Umweltbelastungen und dem gesellschaftlichen Umgang mit diesen herausarbeiten. Für mein Vorhaben sind diese Ansätze zudem deshalb relevant, weil sie die Rolle des Wissens in Schadstoffkontroversen untersuchen und die verbreitete Kausalität zwischen Wissen und action, das heißt die Annahme, dass Wissen automatisch zu problembezogenem Handeln führt, kritisch hinterfragen (Bickerstaff and Walker 2001; Irwin, Simmons & Walker 1999). Gerade diese Thematik des Übergangs von Wissen zu Handeln stellt ein Kernelement meiner Forschungsfrage und -heuristik dar.62 Die Annahme, dass Wissen von einem Problem unmittelbar zu problembezogenem Handeln führt, wird in dieser Arbeit kritisch hinterfragt und nach den Konditionen und Voraussetzungen für das (Nicht-)Eintreten problembezogenen Handelns geforscht. Dennoch wird konstatiert, dass das Wissen über Phänomene eine Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Wahrnehmung und Handlung bezüglich slow violence darstellt.63 Dies ist auch bei Tailings der Fall, die oftmals an den Orten, wo sie deponiert werden und sich die chemischen Substanzen verbreiten, bei der lokalen Bevölkerung völlig unbekannt sind. Außer den Unternehmen, die diese Tailings produzieren und in manchen Fällen dem Staat, besitzt – wie meine empirische Forschung zeigen wird – in der Regel niemand ausreichend Informationen über ihre Existenz oder Schadstoffzusammensetzung.
Diese Unsichtbarkeit der chemischen Stoffe, die die Bergbauindustrie hinterlässt, ist auch ihrer Materialität zuzuschreiben. Die Substanzen sind für Laien meistens nicht sichtbar oder spürbar und es bedarf einer hohen Dosis oder langen Zeiträumen, damit sich die Symptome bei Natur und Mensch erkennbar machen (Ureta et al. 2018; Vogel 2008). In Bergbauregionen wie dem Norden Chiles heben sie sich weder farblich noch von ihrer Konsistenz her von der restlichen Umgebung ab, weshalb sie meist nur durch (natur-)wissenschaftliche Verfahren ausgemacht werden können (Vergara 2011). Die dafür notwendigen Messungen erfolgen aber in der Regel nur dort, wo Schadstoffe auch vermutet werden. Das heißt, es bedarf eines gewissen Vorwissens oder Verdachts über deren Anwesenheit an einem bestimmten Ort, damit überhaupt eine Produktion von Wissen über sie eingeleitet werden kann (Frickel 2008). Erst eine solche Messung kann sie dann tatsächlich sichtbar und zu einem öffentlich verhandelten Thema bzw. einem politischen Problem für Staat, Betroffene, Medien, Konzerne und die Wissenschaft machen (Vogel 2008; Frickel, S. & Elliott, J. 2018).
Daher werden im Folgenden einige Erkenntnisse der angesprochenen Forschungen aus den Bereichen der STS und der Umweltgeschichte dargelegt, die für meine Forschungsheuristik und die Bearbeitung der Forschungsfrage relevant sind. In erster Linie lässt sich dabei konstatieren, dass (technisches) Wissen und die daraus resultierende Risikobestimmung bzw. der Risikofaktor einer bestimmten chemischen Substanz keinen „absoluten Charakter“ haben (Vogel 2008). Das bedeutet, dass es sich bei Risiken erstens um eine Wahrscheinlichkeitsangabe handelt, mit der ein gewisses Ereignis eintreten kann. Zweitens besteht über die Effekte chemischer Stoffe auf lebende Organismen auch innerhalb der Naturwissenschaften in der Regel ein hoher Grad an Ungewissheit und Nicht-Wissen (Wehling 2001, 2006, 2011). Sowohl ihre Langzeiteffekte als auch die Wechselwirkungen bei der Kombination verschiedener Chemikalien sowie die verschiedenen Ausbreitungsmechanismen auf Umwelt und Körper sind meist weitgehend unbekannt (Vogel 2008). Hinzu kommt, dass auch der Forschungsprozess selbst ein sozialer Prozess ist, der von Machtverhältnissen, Interessen, Annahmen und der Weltanschauung der beteiligten Akteure durchzogen ist (Latour 1987). Letzteres wird in den Ergebnissen meiner empirischen Forschung, insbesondere in Kapiteln 8 zum Fall Chañaral, sehr deutlich.
Die politische Regulierung von und der öffentliche Umgang mit Chemikalien kann gleichzeitig nur dann erfolgen, wenn eine mögliche Gefahr oder Risiko auch bekannt ist, bzw. das Wissen über die Notwendigkeit einer Regulation existiert (Latour 2004; Frickel & Elliott 2018). Wenn ein hohes Maß an Nicht-Wissen (Wehling 2001, 2011) im Spiel ist, sind Regulierungen relativ und entsprechen nicht dem Risiko, das sie vermindern sollten (Nash 2008). Identität, Umgang und Regulierung von Chemikalien entstehen demnach aus dem, was wir über sie wissen (Fisher 2014). In dieser Hinsicht identifizieren Roberts und Langston (2008) eine Situation allgemeiner Ungewissheit über Chemikalien und ihre Effekte auf Körper und Umwelt. Im Sinne von Wehling (2011) kann der Umgang mit ihnen deshalb auch als eine Form der Gouvernance des Nicht-Wissens beschrieben werden.
Ein weiterer Aspekt, der dazu beiträgt, dass Schadstoffe unerkannt bleiben, ist das verlorene Wissen durch kollektives Vergessen (siehe Kapitel 6). Der Verlust von Wissen über die Zeit stellt vor allem bei relict industrial waste eine große gesellschaftliche Herausforderung dar (Frickel 2008). Dies kann in Chile daran erkannt werden, dass die historischen Tailings oftmals nicht mehr aufzufinden sind, obwohl sie immer noch ein großes Risiko darstellen (Ureta 2022). Das liegt unter anderem auch daran, dass ein und dieselbe chemische Substanz je nach sozialem Kontext unterschiedlich definiert wird. In unterschiedlichen Situationen kann sie als wissenschaftliches Objekt, als ökonomisches Produktionskapital oder als Risikofaktor verstanden werden (Fisher 2014). Wenn sich eine Substanz in diesem Sinne am „falschen Ort“ befindet (Deammrich 2008), wird sie überhaupt nicht als Schadstoff erkannt, weil sie dort zum Beispiel als produktives Element industrieller Aktivitäten gilt. Wenn diese „produktiven Elemente“, dann in Form von (Industrie-)Abfällen entsorgt werden, müssen sie ihre Identität ändern, um als Schadstoffe identifiziert zu werden (ebd.; Frickel 2008). Dies ist bei den „historischen“ Tailings in Chile mehrheitlich nicht der Fall gewesen. Da im Moment ihrer Entstehung kein Wissen über ihre potenziellen Risiken bestand, wurden sie nicht dokumentiert und galten nach dem Produktionsprozess erneut als Teil der „Natur“. Substanzen ändern also je nach sozialem Kontext und über die Zeit hinweg ihre „Identität“.64 Die Regulierung und der Umgang mit Chemikalien hängen damit laut der bestehenden Forschung stark von der zugeschriebenen Identität ab. Gleichzeitig wird diese Identität wiederum durch politische Regulierungen verändert, wenn bspw. Böden, Wasser, Luft ab einer bestimmten Schadstoffkonzentration als „kontaminiert“ oder aber als „unbedenklich“ deklariert wird (Frickel 2008; Nash 2008).
Das gesellschaftliche Verständnis von Chemikalien ist zudem durch einen spezifischen historischen und sozialen Kontext geprägt, von dem abhängt, was wir heute als Schadstoff verstehen, wie Wissen über diese Chemikalien produziert wird, wie sie reguliert werden und wie von den verschiedenen Akteuren mit ihnen umgegangen wird (Nash 2008). Wissenschaft ist darüber hinaus nicht immun gegenüber sozialen, politischen und ökonomischen Interessen und hängt stark von den vorhandenen Technologien, den Einstellungen des Wissenschaftlers und ihrer eigenen Vergangenheit ab (Kuhn 1976). Außerdem ist der Umgang mit diesem Wissen immer auch eine Form von Machtausübung (Foucault 1977), wobei vor allem das Verschweigen von „heiklen“ Informationen eine verbreitete Praktik darstellt (Allen 2008). Wissen ist durchdrungen von den bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen sowie von dem aus ihnen entspringendem hegemonialen Diskurs (siehe Abschnitte 2.2.5 und 2.3.1). So etwa auch von der – in Abschnitt 2.3.1 diskutierten – Vorstellung einer strengen Trennung von Mensch und Natur (Gudynas 2012; Acosta 2014), die mit Blick auf die Kreisläufe chemischer Substanzen von den Tatsachen konterkariert werden, da diese Stoffe immer wieder unbemerkt und ungehindert in die Körper der Menschen eindringen. Debatten über Chemikalien und den politischen Umgang mit ihnen sowie ihrer Regulierung sind in ihren Wurzeln Debatten über die Beziehung zwischen Körpern und ihrer Umwelt (Nash 2008).
Was die Untersuchung von Tailings anbelangt, konnten Iván Ojeda-Pereira und Fernando Campos-Medina (2021) zwischen 2010 und 2020 zwar einen Anstieg der Gesamtpublikationen konstatieren, dabei handelt es sich allerdings fast ausschließlich um naturwissenschaftliche Forschungen aus Ländern der Zentren bzw. der Semi-Peripherie, die sich dem Bergbau widmen (66,7 Prozent stammen allein aus Kanada und China). Die beiden Autoren konstatieren einerseits, dass ein sehr begrenzter Anteil der Forschungen zu Tailings in den Peripherien stattfindet und identifizieren andererseits eine große Forschungslücke zu diesem Thema innerhalb der Sozial- und Politikwissenschaften (Ojeda-Pereira & Campos-Medina 2021). In extraktivistischen Ländern des globalen Südens, die sich primär auf den Export von Bergbauprodukten konzentrieren und demnach überproportional von den potenziellen Risiken der Tailings betroffen sind, wie es etwa in Chile der Fall ist, wird kaum wissenschaftliches Wissen über diese produziert. Seit 2012 widmet sich Sebastián Ureta65 als einer der ersten66 und einzigen dem Thema der Tailings in Chile. Er tut dies aus der Perspektive der Science and Technology Studies. Seine Arbeiten werden in der vorliegenden Forschungsarbeit besonders berücksichtigt, da sie sich im selben Kontext (Land, Region, Ortschaften) mit denselben Themen (gesellschaftlicher Umgang mit Tailings und verseuchten Böden) befassen. Trotz meiner engen Zusammenarbeit mit Ureta seit 2013 sowie thematischen Überschneidungen, handelt es sich allerdings um gänzlich unterschiedliche Forschungsfragen und -ansätze. Ureta befasst sich hauptsächlich mit der staatlich outgesourcten Wissensproduktion über Tailings (Ureta 2020), dem Umgang von Unternehmen mit nicht lebenden „Entitäten“ (Ureta & Flores 2018), der Untersuchung von Aushandlungsprozessen über „die Wahrheit“ bezüglich sozial-ökologischer Risiken zwischen Unternehmen, Staat und Bevölkerung (Ureta & Contreras 2020) sowie der Entstehung von toxischen „Geosymbiosen“ zwischen der Natur, ihren BewohnerInnen und den Schadstoffen, die von Tailings ausgehen (Ureta & Flores 2022). Außerdem untersucht er im Sinne einer selbstkritischen Reflektion der eigenen wissenschaftlichen Arbeit die Art, wie Unternehmen von der Zusammenarbeit mit SozialwissenschaftlerInnen lernen und deren Strategien übernehmen (Ureta 2018) sowie die alltäglichen Praktiken der betroffenen Bevölkerung, mit der sie der Verseuchung durch Tailings begegnen, die er als „caring for waste“ bezeichnet (Ureta 2016a; Ureta et al. 2018). Besonders interessant für diese Arbeit ist seine Forschung zusammen mit Álvaro Otaegui zu der Art und Weise, wie dominante Klassifikationsmodelle der Natur (in diesem Fall der Schadstoffbelastung von Böden), die zur Untersuchung in den Naturwissenschaften angewandt werden, zu strategischem Nicht-Wissen führen können (Ureta & Otaegui 2021). Darin zitieren sie McGoey (2012) wie folgt: Strategisches Nicht-Wissen bestehe in „the multifaceted ways that ignorance can be harnessed as a resource, enabling knowledge to be deflected, obscured, concealed or magnified in a way that increases the scope of what remains unintelligible“ (Ureta & Otaegui 2021: 884). Dem fügen sie hinzu, dass in ihrem untersuchten Fall dieses Nicht-Wissen „[…] was explicitly directed towards ignoring most social and politics processes participating in soil formation, hence allowing soil science to maintain the notion of soil as solely a “natural body”“ (ebd.). Diese Naturalisierung lässt sich insbesondere dann vorfinden, wenn der lokale und historische Kontext dieser Taxonomien nicht berücksichtigt wird und kann deutlich beobachtet werden, wenn Klassifikationssysteme von den Industriestaaten unverändert auf den sogenannten globalen Süden übertragen werden. AkteurInnen des globalen Südens besitzen ihnen zufolge kaum Werkzeuge, sich bei den Aushandlungen gegen diese übertragenen Klassifikationssysteme durchzusetzen und auf diese Weise etwa eine ursächliche Schadstoffbelastung durch die Bergbauaktivitäten nachzuweisen (Ureta & Oraegui 2021: 884; Rodríguez Medina 2013: 29). Westliche Bestimmungen werden also in den Peripherien auf lokaler Ebene oft als „Realitäten“ wahrgenommen (da Costa Marques 2014: 85). Dies hat nicht nur praktische, sondern ebenfalls politische Konsequenzen. Durch diese Art der Darstellung und Klassifizierung nach der „natürlichen“ Zusammensetzung der Böden wird die menschliche Intervention und somit auch die Zugabe von Mineralien, (Schwer-)Metallen, Chemikalien und anderer Substanzen während, durch und nach bspw. den Bergbauaktivitäten in de Atacama Region, nicht wahrgenommen und ihre möglichen Konsequenzen nicht beachtet.
Generell lässt sich festhalten, dass die akademische Wissensproduktion über Tailings innerhalb der Sozialwissenschaften äußerst beschränkt ist und auch jene über Chemikalien und andere materielle unsichtbare Schadstoffe in großem Maße von Nicht-Wissen (siehe Kapitel 3) durchdrungen ist. Dies macht sowohl den individuellen als auch den politischen Umgang mit chemischen Substanzen und vor allem mit den von ihnen ausgehenden Gefahren für die menschliche Gesundheit und Ökosysteme zu einer großen Herausforderung mit größtenteils ungewissen und teils unvorhersehbaren Folgen. Umweltregulierungen in diesem Bereich beschränken sich in der Regel auf die Festlegung von Höchstwerten, wobei alles, was sich darunter befindet als unbedenklich und alles darüber als schädlich deklariert wird (Vogel 2008). Sie berücksichtigen dabei, wie in meiner empirischen Arbeit an mehreren Stellen deutlich wird, weder die Folgen der Langzeitexposition noch die Wechselwirkung gleichzeitiger Exposition durch unterschiedliche Chemikalien und Schwermetalle (ebd.; Wehling 2006). Die Nicht-Berücksichtigung dieser Phänomene hat insbesondere im Fall von Tailings für die betroffenen Bevölkerungsgruppen und Gebiete bedeutende Folgen. Deshalb wird seit einigen Jahren von einer Reihe von WissenschaftlerInnen ein „Paradigmenwechsel“ bei der Risikobewertung von Umweltchemikalien vorgeschlagen (Wehling 2006: 303): „Angesichts der ungeheuren Vielzahl umweltrelevanter chemischer Stoffe, der Bandbreite möglicher Wechselwirkungen und der enormen Variabilität von Randbedingungen (ist) de facto ausgeschlossen, jemals hinreichendes, geschweige denn vollständiges und sicheres Wissen über sämtliche möglichen (Negativ-)Effekte zu gewinnen“ (Scheringer et al. 1998:230 zitiert in Wehling 2006:303). Die Chemikalienpolitik operiere somit „[…] unter Bedingungen unaufhebbaren Nichtwissens“ (Wehling 2006:303). Ansätze wie etwa solche der environmental justice plädieren deshalb für einen mit naturwissenschaftlich Überlegungen begründeten Vorsorge-orientierten Umgang mit wissenschaftlichem Nicht-Wissen67. Andere WissenschaftlerInnen wie etwa Ureta & Flores (2022) schlagen in dieser Hinsicht die Anwendung von politics of weakness vor, die das Nicht-Wissen und die daraus resultierende Unmöglichkeit von Prognosen und Lösungsstrategien vorausschauend miteinbeziehen. Die angeführten Ansätze widmen sich – wie wir gesehen haben – Fragestellungen, die meinem Fokus, der sich auf die Beziehungen von Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit, Wissen/Nicht-Wissen und action/inaction richtet, in spezifischen Aspekten ähneln. Sie leisten einen wesentlichen Beitrag für meine Arbeit, besonders was die Beziehung zwischen Wissensproduktion und unsichtbaren Schadstoffen angeht. Allerdings wird im Folgenden deutlich, dass meine Forschung zudem einen weitaus stärkeren Schwerpunkt auf die Auswirkungen der Handlungen der beteiligten Akteure, auf die Unsichtbarkeit der Tailings sowie auf Fragen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, sozio-ökonomischen Prozessen und sozial-ökologischen Konfliktdynamiken legt. Dadurch wird es möglich zu zeigen, warum Tailings gesellschaftlich unsichtbar bleiben, nicht „gewusst“ werden oder nicht zu problemorientiertem Handeln der lokalen Bevölkerung führen. Um dies deutlich zu machen, werde ich im Folgenden meine Forschungsfrage und meine zentralen Thesen explizit darlegen, um anschließend zur Forschungsheuristik überzugehen.
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
insite
INHALT
download
DOWNLOAD
print
DRUCKEN
Fußnoten
1
Rechnet man die ostasiatischen Länder mit ein, ist die Ungleichheit zwischen den Ländern im Vergleich zu derjenigen innerhalb der Länder zwar wieder leicht rückläufig, dabei ist dieser Effekt allerdings marginal (Milanović 2016: 128 ff.).
 
2
Eigens durchgeführte vorherige Studien zu diesem Thema haben zur Definition der Auswirkungen von Tailings als slow violence geführt und die Identifikation der Kernkategorien ermöglicht. Siehe hierzu auch Ureta, Mondaca & Landherr 2018.
 
3
Unter dependentistas verstehe ich VertreterInnen des dependenztheoretischen Denkens, die vorwiegend aus Lateinamerika stammen und häufig unter den Begriff der Dependenztheorie subsumiert werden. Sie bilden allerdings eine äußerst heterogene Strömung, die der Gedanke eint, dass Lateinamerika – zum Nachteil seiner eigenen wirtschaftlichen Entwicklung – in einer Kontinuität der Abhängigkeit von der globalen Weltwirtschaft feststeckt (Boris 2012; Beigel 2015; Pimmer & Schmidt 2015; Franke & Kumitz 2016).
 
4
In diesem Kapitel werden vorwiegend die ursprünglichen Erklärungsansätze wiedergegeben, auf denen einige der Theorien der darauffolgenden Kapitel aufbauen. Neuere Debatten zu diesen Themen werden dann teilweise im Verlauf dieser Arbeit aufgenommen.
 
5
„Entwicklung“ und „Unterentwicklung“ werden hier und im Folgenden in Anführungszeichen gesetzt, um mich von ihrem teleologisch-normativen Fluchtpunkt, den diese Konzepte im Rahmen eurozentristischer Weltanschauungen beinhalten, zu distanzieren (Franke & Kumitz 2016: 44 f.).
 
6
Andre Gunder Frank stellte 1966 seine Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Brasiliens und Chiles vor, in denen er aufzeigte, wie diese Länder seit der Kolonisierung in die globale kapitalistische Entwicklung eingebunden waren: „Meine Arbeit zur chilenischen Geschichte stellt fest, dass das Land mit der spanischen Eroberung nicht nur völlig von der Expansion und Entwicklung des globalen handels- und später industriekapitalistischen Systems erfasst wurde, sondern dass damit auch die monopolistische Metropolen-Satelliten-Struktur und die monopolkapitalistische Entwicklung in die chilenische Binnenwirtschaft und Gesellschaft selbst eindrang […]. Seit jener Zeit […] ist Chile immer mehr von der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Struktur der Unterentwicklung der Satelliten gezeichnet worden“ (Frank 1969: 33). Bis zu dem Zeitpunkt der Untersuchungen ließ sich außerdem eine zunehmende Polarisierung dieser Dynamik der „Unterentwicklung“ durch die „Entwicklung“ der Weltmetropolen sowie innerhalb der chilenischen Wirtschaft beobachten. Dasselbe gilt auch für die meisten anderen Länder der Region (Prebisch 1950; Furtado 1972: 216).
 
7
Ebenso wie die Dependenztheorien ist die Weltsystemanalyse dabei stark ökonomisch geprägt, weshalb kulturelle und politische Entwicklungen zwar explizit berücksichtigt werden sollen, oftmals aber zu kurz kommen.
 
8
Dabei werden diese Zustände bei Wallerstein nicht als „Entwicklungsstadien“ verstanden (Wallerstein 1984b:86; Boris 2005: 178).
 
9
Ein grundlegender Weg, um dies zu erreichen, ist das Patentsystem, das die Rechte der „Erfindung“ und die Produktion vor Konkurrenz schützt (Wallerstein 2019:32). Aber auch protektionistische Maßnahmen oder die Position eines Staates als „Großabnehmer“ und somit als Preisbestimmer sowie eine Reihe anderer Verfahren ermöglichen den staatlichen Eingriff in den „virtuellen Markt“.
 
10
Die Anführungszeichen verweisen in diesem Fall darauf, dass es sich bei diesen Begriffen lediglich um die hegemoniale europäische Geschichtsschreibung handelt, durch die der Anschein entsteht, es habe sich bei den kolonisierten Regionen um unbewohnte Gebiete gehandelt, die zur freien Verfügung der Kolonialmächte standen. Hinter diesen Begriffen verbirgt sich allerdings eine gewaltvolle Geschichte der Aneignung von Menschen, Tieren, Pflanzen und Rohstoffen, die diese Gebiete schon seit Jahrhunderten bewohnten.
 
11
Schon hier zeichnet sich ab, was Aníbal Quijano 1997 in seiner „Kolonialität der Macht“ beschreibt: Eine rassifizierte, globale Arbeitsteilung, die auf einer hierarchischen Kategorisierung der Menschen bezüglich ihrer Ethnizität, Herkunft und Hautfarbe beruht (Quijano 2000).
 
12
Die Interaktion zwischen Kolonialherren und Indigenen wurde ab 1512 durch unterschiedliche Schriften der Leyes de Indias zu regulieren versucht, da die Königin Isabel I de Castilla die Versklavung der UreinwohnerInnen verboten hatte. Dennoch kam es regelmäßig zur Zwangsarbeit, Folter und sogar dem Tod (Machado 2014: 100 ff.).
 
13
Während Kolonialismus die militärische Besetzung durch eine Imperialmacht bezeichnet, sprechen die AutorInnen von Kolonialität, wenn sie sich auf die kulturelle Logik des Kolonialismus beziehen und damit auch auf das größtenteils heute noch bestehende Erbe des Kolonialismus.
 
14
Auf diese Tatsache verwies bereits 1966 Franz Fanon. Er kritisierte, dass die theoretischen Kategorien und Leitlinien der (Entwicklungs-)Politik hauptsächlich auf der Untersuchung der fortgeschrittenen kapitalistischen Nationen beruhen und für die Satelliten – wie er die peripheren Gebiete nannte – oftmals wenig aussagekräftig sind.
 
15
Obwohl der Marxismus einen großen Einfluss auf die AutorInnen der grupo modernidad/colonialidad hat, ist auch der klassische Marxismus nicht von einer eurozentrischen Sichtweise ausgenommen und übersieht -hauptsächlich in seinen westlichen Interpretationen – die koloniale Realität fast gänzlich (Alimonda 2011: 26). Es ist Rosa Luxemburg, die in ihrem 1913 geschriebenen Werk Die Akkumulation des Kapitals erstmals die Natur und die Kolonialität der Bevölkerung der Peripherien als begründenden Bestandteil der Kapitalakkumulation darstellt (Luxemburg 1990: 300 ff.).
 
16
Unter „abyssalem Denken“ versteht de Sousa Santos die westliche Episteme der Moderne, die eine Dualität im Denken entlang einer „abyssalen Linie“ produziere. Auf der einen Seite stehe das Menschliche, das Legale, die Wahrheit und das Rationale und auf der anderen Seite der abyssalen Linie die Illegalität, die Falschheit und die Untermenschen (de Sousa Santos 2010: 29 f., 36). Alles, was auf der anderen Seite dieser Linie stünde, werde unsichtbar (ebd.: 8, 29).
 
17
Für eine detaillierte Darlegung dieser Logiken und der von ihnen ausgehenden Produktion von „Nicht-Existenz“ siehe Kapitel 3.
 
18
José Carlos Mariáteguis Werke, in denen er den Marxismus etwa mit den Erben des Kolonialsystems, der Rohstoffabhängigkeit der Wirtschaft (Mariátegui 2012:25 ff.) dem „problema del indio“ (das Problem der Indigenen) und der Rassifizierung der Arbeitsteilung (Mariátegui 2008:57 ff., 2012:47 ff.) konfrontiert und ergänzt, stellen Pionierarbeiten dar.
 
19
„Der Begriff Anthropozän bezeichnet ein neues Erdzeitalter, in dem der Mensch zu einer Transformationskraft mit globaler und geologischer Tragweite geworden ist […]. Die Idee des Eintritts in ein neues Erdzeitalter basiert auf der Annahme, dass wir eine gefährliche Schwelle zu abrupten und irreversiblen Veränderungen, angeführt durch die Erderwärmung und den Klimawandel sowie das massenhafte Artensterben und den daraus resultierenden Verlust von Biodiversität, um nur die Spitze des Eisbergs zu nennen, überschritten haben“ (Svampa 2020:116).
 
20
AutorInnen wie Jason M. Moore verwenden dafür den Begriff des Kapitalozän, um darauf hinzuweisen, dass die Ursachen dieser Veränderungen nicht einfach „nur“ bei „der Menschheit“ als undifferenziertes Ganzes liegen, sondern vor allem dem kapitalistischen Wirtschaftssystem zu verschulden sind. Beim Begriff des Anthropozäns blieben die tiefen Ungleichheiten, die Rolle der Kommodifizierung, des Imperialismus, von „Rassen“-Konstrukten, aber vor allem von bestimmten Klassen und dem Kapital unbeachtet (Moore 2020: 262). Auch wenn ich diese Kritik und die Diagnose der Ursachen teile und sich diese Arbeit teilweise genau mit diesen Ursachen beschäftigt, werde ich größtenteils bei dem Konzept des Anthropozäns bleiben, da es den Dialog mit anderen wissenschaftlichen Debatten außerhalb der Sozialwissenschaften erleichtert. Außerdem legt der Begriff de Kapitalozäns nahe, dass durch die reine Überwindung des Kapitalismus die ökologische Krise gelöst wäre. Zudem lässt sich feststellen, dass es teilweise auch schon vor der Herausbildung des industriellen Kapitalismus zur Überschreitung ökologische Grenzen gekommen ist (Diamond 2010). Parallel zur Überwindung der kapitalistischen Weltwirtschaft muss demnach auch eine physiozentrische Alternative erarbeitet werden.
 
21
Humboldts Beobachtungen, die seiner Lateinamerikareise Ende des 18. Jahrhunderts (1799–1804) entstammten, machten ihm nicht nur den unzertrennlichen Zusammenhang aller Bestandteile der materiellen Welt bewusst, sondern auch, dass diese in ständiger Wechselwirkung zueinanderstehen und jegliches Eingreifen in diese Prozesse und Kreisläufe unausweichlich Konsequenzen mit sich bringen würde. So vermerkte er beispielsweise die klimatischen Folgen der Rohstoffausbeutung, Entwaldung und ersten (monokulturellen) Plantagen der Kolonialmächte in Venezuela 1800. Damit wurde Humboldt zum ersten westlichen Wissenschaftler, der von vom Menschen ausgelösten klimatischen Veränderungen sprach (Wulf 2016).
 
22
Im Laufe dieser Arbeit werden die Konzepte Umwelt und Natur oftmals als Synonyme benutzt, obwohl das Konzept der Umwelt gleichzeitig als anthropozentrisch kritisiert wird, da es unterstellt, der Mensch würde im Mittelpunkt stehen und alles andere nur „um ihn herum“ existieren. In der deutschen Sprache lässt sich das Wort Umwelt allerdings nicht immer ohne Weiteres durch das Wort Natur ersetzen. So wird bspw. der Begriff „Umweltkatastrophe/-Problem, -Verschmutzung“ für menschlich produzierte Schäden an der Natur gebraucht, während Naturkatastrophe ein natürliches Phänomen beschreibt. Um die Lesbarkeit und das Verständnis der Arbeit zu gewährleisten, wurde also größtenteils der allgemeine Sprachgebrauch dieser Begriffe beibehalten.
 
23
Dabei ist zu beachten, dass dem dargelegten Naturverständnis der Moderne allerdings nicht nur die heutige Form der materiellen Ausbeutung der Natur zugrunde liegt, sondern auch die Vorstellung des grenzenlosen wirtschaftlichen Wachstums.
 
24
Aus diesem Grund müssten die Produktionsbedingungen staatlich verwaltet werden. Der Staat stellt sich zwischen das Kapital und die Natur und politisiert auf diese Weise die Produktionsbedingungen. Die politische Macht des Kapitals und auf der anderen Seite der sozialen Bewegungen, bestimmen u. a. die Verfügbarkeit der Rohstoffe, der nötigen Arbeitskräfte, der Infrastruktur, usw. Die Produktionsbedingungen sind also per Definition (anders als die Produktion) politisiert (O’Connor 2001: 8).
 
25
In diesen Debatten wird mehrheitlich Mensch und Natur getrennt dargestellt, da ihr Ziel weniger die Überwindung der Dichotomie, als vielmehr das Aufzeigen der aktuellen Organisation und Verteilung der Ressourcenausbeutung ist. Auch wenn sie begrifflich die Dichotomie aufrechterhalten, begreifen sie Gesellschaften als Teil von ökologischen Kreisläufen (Fischer-Kowalski, Mayer & Schaffarzik 2011: 98–100).
 
26
Altvater (1992) bezieht sich hier direkt auf die Überlegungen der DependenztheoretikerInnen (siehe Abschnitte 2.2.2 und 2.2.3). Es bestehen zudem direkte Anknüpfungspunkte an die Überlegungen der Gruppe Modernidad/Kolonialidad im Abschnitt 2.2.4.
 
27
Siehe mehr dazu im 2. und 3. Kapitel von Altvater 1992.
 
28
Und sie bringt Krisenphänomene wie die Konzentration der Konsequenzen des Klimawandels, die Vernichtung der Ökosysteme, soziale Polarisierung, Verarmung vieler Menschen, Zerstörung lokaler Ökonomien und Verschärfung geopolitischer Spannungen wesentlich mit hervor.
 
29
Dabei ist auch das Konzept der Peripheren Imperialen Lebensweise entstanden, das zusammen mit Martín Ramirez (Landherr & Ramírez 2019) und Jakob Graf (Landherr & Graf 2021) in Anlehnung an das der imperialen Lebensweise (Brand & Wissen 2017) entwickelt wurde und die Produktions- und Lebensweise der ökonomisch herrschenden Klassen sowie einem kleinen privilegierten Teil der städtischen Bevölkerung in den Peripherien beschreibt, wobei diese den überproportionalen und exklusiven Zugriff auf die ökologischen und sozialen Ressourcen und Senken innerhalb der Peripherien beinhaltet, von dem die Mehrheit der dort lebenden Bevölkerung ausgeschlossen ist.
 
30
Teilweise war auch Martín Ramírez an der Ausarbeitung dieses Konzepts beteiligt (siehe Landherr & Ramírez 2019).
 
31
Dies geschieht durchaus auch im großen Stil, wenn man sich den Einfluss der großen Öl- und Energiekonzerne auf die US-Amerikanische Politik ansieht, wie sie Nathaniel Rich in seinem Buch „Losing Earth“ darstellt. Dabei haben diese Unternehmen vor dreißig Jahren ihre Machtressourcen nachweislich aktiv gegen die staatliche Handlung zur Prävention der Klimakrise/Klimawandels eingesetzt (Rich 2019b).
 
32
Der Begriff der Politischen Ökologie tauchte in den 1960er Jahren vermehrt auf und hat sich im Laufe der Jahre fest in die sozialwissenschaftlichen Debatten integriert. Spätestens seit den 1990er Jahren kann von einer eigenen Disziplin gesprochen werden, die ein Feld bildet, in dem unterschiedliche sozialwissenschaftliche Disziplinen zusammenfließen. Besonders die Humanökologie sowie die Sozialökologie, der Ökofeminismus und der Ökomarxismus sowie die Geografie (unter ihnen auch David Harvey) haben wichtige Anstöße für die neue Disziplin gebracht.
 
33
Die Übersetzung aus dem spanischen Original wurde von der Autorin selbst erstellt.
 
34
Ein Problem dabei ist allerdings, dass auch hier, wo oftmals die unsichtbare Gewalt im Mittelpunkt steht, ironischerweise einige der unsichtbaren Konsequenzen keinen Platz im wissenschaftlichen Diskurs finden.
 
35
Bei den environmental justice-Bewegungen ging es um die besondere Betroffenheit mehrfach ökologisch und sozial benachteiligter Gruppen wie Frauen, ethnischen Minderheiten oder ärmeren Teilen der Arbeiterklasse. In diesem Zusammenhang sprechen AutorInnen auch von „environmental racism“ (Martinez-Alier 2002: 168 ff.).
 
36
Auch die Oberschicht und Teile der städtischen Mittelschicht der Peripherie profitieren teilweise indirekt (oft eher als NutznießerInnen) von der (neo-)extraktivistischen Ausrichtung der Wirtschaften ihrer Länder (Schmalz 2008: 95 ff.; Boris 2013). Vielerorts haben die Auswirkungen allerdings ein solches Ausmaß angenommen, dass auch sie teilweise negativ davon betroffen sind.
 
37
Genau wie in den empirischen Fallstudien dieser Arbeit wohnen die von Davis (2006) beschriebenen Bevölkerungsgruppen oftmals direkt auf Müllhalden oder Industrieabfällen, da ihnen kein anderes Gelände als Wohnraum zur Verfügung steht. Siehe hierzu auch den Fall Pabellón in Kapitel 6.
 
38
Chile blieb trotz mehrerer Mitte-Links-Regierungen eher bei einem konventionellen Extraktivismus.
 
39
Gudynas (2019) vermerkt, dass die dabei verwendete Definition von commodities als unverarbeitete, massenhaft vermarktete Rohstoffe der Festsetzung der Statistikabteilung der Vereinten Nationen entspricht und von Regierungen weltweit akzeptiert wurde.
 
40
Gudynas unterstreicht hier, dass es begrifflich gesehen falsch ist von Produktion zu sprechen, wenn lediglich der Natur Ressourcen entnommen werden. Inhaltlich teile ich diese Ansicht voll und ganz, analytisch allerdings ist es durchaus aufschlussreich neben der konkreten Aneignungsweise (in diesem Fall von Metallen), die damit einhergehenden Produktionsweisen zu berücksichtigen, obwohl die Metalle an sich natürlich nicht menschlich hergestellt wurden, sondern lediglich aufbereitet und aus den Erzen gewonnen werden.
 
41
Die große Abhängigkeit vom Weltmarkt wurde im Rahmen der Weltwirtschaftskrise ab 2007 deutlich. Ein verstärkender Grund dafür sind finanzielle Kreisläufe, „[…] da das gegenwärtige Akkumulationsmodell mit den Reformen des neoliberalen Finanzkapitalismus seit den 1990er Jahren, die sich durch die Finanzkrise von 2008 verschärft haben, verbunden erscheint. Einerseits spielt das Finanzwesen eine grundlegende Rolle bei der Gewinnung von Rohstoffen sowie bei der Organisation der Logistik ihres Umlaufs“ (Gago und Mezzadra 2015 in Svampa 2020:17). Die verheerenden Folgen dieser Abhängigkeit zeigten sich in Lateinamerika nach dem Rohstoffpreissturz im Jahr 2014, der einige Länder der Region in eine Tiefe ökonomische Krise rutschen ließ.
 
42
Der Begriff der Gewaltkette bezieht sich dabei auf die Art und Weise, „[…] wie verschiedene Arten von Gewalt, die gewöhnlich als getrennte und analytisch unterschiedliche Phänomene gedacht werden, miteinander verbunden sind und aufeinander reagieren“ (Auyero und Berti 2013:94).
 
43
Vgl. die offiziellen Angaben von CODELCO (2022): Presencia Mundial, [online] https://​www.​codelco.​com/​presencia-mundial/​prontus_​codelco/​2011-02-25/​155417.​html [24.06.22].
 
44
In einem Papier der Deutschen Rohstoffagentur heißt es beispielsweise: „Kupfer hat nach Silber die beste Leitfähigkeit. Damit spielt das Metall eine wichtige Rolle als Leitmaterial bei der Energiewende und der Dekarbonisierung der Gesellschaft, wie dem Ausbau von Erneuerbaren Energien oder der Elektromobilität“ (Dorner 2020: 6).
 
45
Observatory of Economic Complexity (2020): Lithium carbonates, [online] https://​oec.​world/​en/​profile/​hs92/​lithium-carbonates [24.06.22].
 
46
Je nach abgebautem Material/Metall und nach Quelle variieren die Prognosen zwar stark. Es herrscht allerdings Einigkeit darüber, dass die Verseuchung von Altlasten und Tailings mehrere hunderttausend Jahre andauern kann. Renaturierungs- und Bepflanzungsprojekte werden hier oft als endgültige Lösung genannt. Diese scheinen einigen der interviewten ExpertInnen (PW03; FZ07; PW09) allerdings als höchst problematisch, da sie das Eindringen der Substanzen in Nahrungsketten und somit ihre Ausbreitung befördern können. Der Versuch der Bepflanzung einer der untersuchten Fälle ist aufgrund der Toxizität des Bodens gänzlich gescheitert.
 
47
Auch wenn diese Form des Konfliktmappings – wie EJOLT oder OCMAL – sehr hilfreich sind, um Umweltprobleme sichtbarer zu machen, muss beachtet werden, dass in ihnen meistens nur Konflikte vorkommen, die bereits eine hohe gesellschaftliche Sichtbarkeit besitzen. Hier kommen also slow violence-Phänomene so gut wie nie vor. Auch jene Konflikte, die bspw. durch eine effektive CSR-Politik vom Unternehmen bearbeitet werden, finden keinen Platz. Sie zeigen also keineswegs, wo sozial-ökologische Probleme auftreten, sondern vielmehr wo eine Gruppe oder Gemeinde es geschafft hat, dieses Problem in einen Konflikt zu transformieren.
 
48
OCMAL (2022): Conflictos Mineros en América Latina, [online] https://​mapa.​conflictosminero​s.​net/​ocmal_​db-v2 [25.5.2022].
 
49
Dieser Abschnitt dient der Definition von Tailings und dem Verständnis der von ihnen potenziell ausgehenden Gesundheits- und Umweltschäden. In ihm wird deshalb im Gegensatz zu den restlichen Abschnitten dieses Kapitels nicht die über Tailings bestehende sozialwissenschaftliche Forschung und Literatur wiedergegeben (siehe hierfür Abschnitt 2.4.3), sondern Tailings als Ursache von slow violence und demnach als zentraler Aspekt des dieser Arbeit zugrunde liegenden Forschungsgegenstandes dargestellt. Eine noch tiefgründigere Definition von Tailings wird in Kapitel 5 in Bezug auf den chilenischen Kontext ausgearbeitet.
 
51
Metallurgist (2017, 1 Januar): Introducción a la Lixiviación de Oro y Plata, [online] https://​www.​911metallurgist.​com/​metalurgia/​cianuracion-oro-plata/​ [23.06.22].
 
52
Beim Uranbergbau kommen zudem radioaktive Schadstoffe vor.
 
53
Unter historischen Tailings verstehe ich Bergbaumüll, der aus ehemaligen Bergbauaktivitäten hervorging, die schon abgeschlossen sind und für den sich in der Regel auch kein Besitzer oder Verantwortlicher mehr ausmachen lässt.
 
54
Selbst Versuche der Renaturierung oder Bepflanzung der Deponien sind erstens nicht immer möglich (siehe den empirischen Fall Chañaral) und können zweitens erhebliche negative Effekte mit sich bringen. So besteht die Gefahr, dass über die Pflanzen Schadstoffe leichter in Nahrungsketten gelangen als sie dies in steriler Form tun würden. Außerdem hat eine Renaturierung meistens nur eine oberflächliche Wirkung und kann die Versickerung der Schadstoffe in Grundwasser und Untergrund nicht bremsen.
 
55
In Chile besteht ein entsprechendes Gesetz erst seit 2012, obwohl der Bergbau schon seit mind. fünf Jahrhunderten im Land praktiziert wird.
 
56
Sernageomin (2020, 10. August): Datos Públicos Depósito de Relaves. Catástro de Depósitos de Relaves en Chile, [online] https://​www.​sernageomin.​cl/​datos-publicos-deposito-de-relaves/​ (16.06.2022).
 
57
Die chilenische Rechtslage zu Tailings ist auch heute noch lückenhaft, wie im Kapitel 5 ausführlich dargestellt wird.
 
58
La Ventana Cine (2022): Minas de oro, desechos de muerte, [online] https://​www.​laventanacine.​com/​Programas/​minasdeoro.​html [24.06.22].
 
59
Vgl. zu den AnwenderInnen der Pestizide ihre folgende Einschätzung: „I do contend that we have put poisonous and biologically potent chemicals indiscriminately into the hands of persons largely or wholly ignorant of their potentials of harm. We have subjected enormous numbers of people to contact with these poisons, without their consent and often without their knowledge“ (Carson 2000:29).
 
60
Müller (2016b) beschreibt an anderer Stelle die Externalisierung giftiger Abfälle auch als einen Nebeneffekt des greenings der Industrie in den kapitalistischen Zentren, wie etwa in den USA (Müller 2019).
 
61
Kate Brown untersucht den Körper als letzte Senke für radioaktiven Müll (Brown 2016).
 
62
Dies ist von besonderer Bedeutung, da in einem Großteil der bestehenden Literatur zu Umweltproblemen, aber auch beispielsweise zu Gesundheitsproblemen angenommen oder impliziert dargelegt wird, dass ein Problem gelöst sei, wenn die Betroffenen darüber informiert werden oder anders gesagt, dass die involvierten Akteure handeln werden, wenn das Wissen über ein Problem besteht (Steht 2000:81).
 
63
Diese Problematik machte Bruno Latour mit seiner bekannten provokanten Frage „Wo waren die Mikroben vor Pasteur?“ deutlich. Seine Antwort lautete: „sie existierten nicht“. Sie wurden vor ihrer Entdeckung durch Louis Pasteur weder als Problem oder Ursache von Krankheiten wahrgenommen, noch konnten die von ihnen ausgelösten Krankheiten behandelt werden (Latour 2000: 175 ff.).
 
64
Wenn dadurch Schadstoffe, Tailings oder Altlasten nicht mehr als solche identifiziert werden, können aufgrund des Wissensverlustes, kontaminierte Böden als produktive Böden verwendet werden oder – wie es in den Untersuchungsfällen dieser Arbeit häufig vorkommt – verseuchte Gebiete vom Staat als Lebensraum und Wohnort freigegeben werden.
 
65
Sebastián Ureta leitete zwischen 2013 und 2016 das Projekt: „El desecho de Chile: Un análisis sociotécnico de prácticas y políticas respecto del manejo de relaves mineros en las últimas dos décadas“. FONDECYT–CONICYT. In diesem Projekt habe ich zusammen mit Florencia Mondaca erstmals zum gesellschaftlichen Umgang mit Tailings geforscht. Unsere damaligen Forschungsergebnisse haben wichtige Anstöße zur Forschungsfrage dieser Arbeit gegeben. Derzeit leitet Ureta das Projekt „Nuestros Suelos“ (Unsere Böden) zu diesem Thema (https://​nuestrossuelos.​cl/​). Dieses Projekt ist Teil seiner Forschung mit dem Titel „Entierrando el antropoceno: Ensamblando nuevos ecosistemas desde suelos degradados en la región de Atacama“ FONDECYT–CONICYT (2017–2020).
 
66
Der andere Pionier in der chilenischen sozialwissenschaftlichen Forschung zu Tailings ist Mauricio Folchi (2003, 2004), der sie allerdings als ein weiteres durch den Bergbau verursachtes Umweltproblem in die Debatte einführt und nicht auf ihre spezifischen Merkmale hin untersucht.
 
67
Dabei soll berücksichtigt werden, dass das übliche Verfahren in den etablierten institutionellen Routinen, bei dem das Fehlen empirischer Indizien für negative Effekte als Wissen darüber gewertet wird, dass solche Effekte nicht existieren, nicht als aussagekräftig gewertet wird. Siehe hierfür negative Evidenz bei Walton (1996:140).
 
Metadaten
Titel
Theoretischer Rahmen, zentrale Begriffe und Forschungsstand
verfasst von
Anna Landherr
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-43288-1_2