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Erschienen in: Organisationsberatung, Supervision, Coaching 1/2024

Open Access 30.11.2023 | Hauptbeiträge

Umweltverhalten mit Hand und Fuss(-abdruck)

verfasst von: Prof. Dr. Andreas Ernst

Erschienen in: Organisationsberatung, Supervision, Coaching | Ausgabe 1/2024

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Zusammenfassung

Die Klimaerwärmung stellt Gesellschaften ebenso wie Individuen vor bislang völlig unzureichend gelöste Probleme. Nullemissionen von Treibhausgasen sind zwar notwendig und werden politisch auch angestrebt, dennoch steigen sie immer schneller an. Um eine Transformation zur Nachhaltigkeit zu erreichen, ist ein sozialer Kipppunkt nötig. Bereits bekannte soziale Kipppunkte aus der jüngeren Vergangenheit sowie Hindernisse auf dem Weg zur Nachhaltigkeit werden vorgestellt. Der Fußabdruck bezeichnet den individuellen Umweltverbrauch. Er wird ergänzt um den Handabdruck, der bürgerschaftliches Engagement und politischen Aktivismus zur Veränderung der systemischen, nicht-nachhaltigen Zwänge meint. Ethisches Coaching wird als eine Form des Handabdrucks vorgeschlagen.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
All die individuelle, gesellschaftliche und politische Beschäftigung mit Umweltproblemen – hier allen voran Klimawandel und Artensterben – ist derzeit nicht dazu in der Lage, die notwendigen positiven Veränderungen herbeizuführen. Das liegt einerseits im Charakter dieser Probleme, wie zunächst in diesem Beitrag skizziert wird. Andererseits liegt es aber auch im Charakter der Antwort von Individuen und Gesellschaften auf die Probleme, was darauffolgend das Thema des Beitrags sein wird.

1 Klimaerwärmung als individuelles und gesellschaftliches Problem

Da die Klimaerwärmung bereits im Bewusstsein vieler Menschen ist, möchte ich sie als ein typisches Beispiel für die zahlreichen, leider in verzwickter Weise zusammenhängenden Umweltprobleme nehmen. Es ist bekannt, dass die Emissionen von Treibhausgasen (allen voran CO2 aus Verbrennungsprozessen für Industrie, Heizung und Mobilität, Methan aus der agrarischen Tierhaltung sowie die Beschädigung der Regenerationsfähigkeit des Erdsystems z. B. durch Rodung von Waldflächen) für die Klimaerwärmung verantwortlich sind. Mehr noch, es besteht eine bekannte feste Beziehung zwischen jeder Tonne an Treibhausgasen in der Atmosphäre und der globalen Temperatur (IPCC 2023). Viele dieser Gase brauchen 20 Jahre, um nach ihrem Ausstoß überhaupt erst in der Atmosphäre wirksam zu werden, und einige haben eine Verweildauer dort von mehreren Jahrzehnten. Das heißt, selbst wenn die Emissionen von Treibhausgasen heute plötzlich aufhören würden, würde sich die Atmosphäre, die Landmassen und die Meere weiter aufheizen. Das 1,5 Grad-Ziel aus dem Pariser Abkommen von 2015 ist nicht mehr zu halten – und das völlig unabhängig von dem, was sich politisch tätige Personen wünschen.
Nicht umsonst sind die politischen Ziele, basierend auf den naturwissenschaftlichen Fakten, auf Nullemissionen ausgerichtet. Es gilt, jegliche Emissionen zu vermeiden, bis zu dem Punkt, an dem die Regenerationsfähigkeit des Erdsystems damit dauerhaft klarkommt. Wie weit sind wir auf diesem Weg? Nun, weltweit sinken die Klimagasemissionen nicht, sie bleiben nicht einmal gleich. Ersteres würde den Globus wenigstens langsamer erwärmen, letzteres lässt die Erwärmung des Globus im selben Maß wie heute weiter steigen. Nein, die Emissionen steigen weltweit unvermindert an, und dies besonders schnell seit den 1950er-Jahren. Und sie steigen sogar immer schneller, völlig ungeachtet von Krisen, wie etwa die Emissionen nach der Banken- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 oder nach der Corona-Epidemie zeigen. Jedes neue Jahr wird eine historisch nicht gekannte Menge an Treibhausgasen ausgestoßen. Es ist so, als würden die Gesellschaften der Erde mit schon hoher Geschwindigkeit auf eine Mauer zurasen, sie geben aber noch Gas und beschleunigen.
Der tatsächlich zu beobachtende Pfad der globalen Emissionen liegt damit auf dem Pfad des schlimmsten Szenarios, welches der Internationale Klimarat entworfen hat, um mögliche Zukünfte der Klimaentwicklung für die Politik zu beschreiben (IPCC 2023). Während die Emissionen von Treibhausgasen also jedes Jahr zunehmen, ist aus naturwissenschaftlicher Sicht klar, dass diese im Gegenteil drastisch abnehmen müssen, um das Klima der Erde in einem Bereich zu halten, der die Gesellschaften einigermaßen unbeschadet durch die zu erwartende Heißzeit bringt. Von neun Systemgrenzen der Erde (wie Klima, Biosphäre, Wasserkreislauf etc.) sind acht bereits überschritten (Rockström et al. 2023). Wir haben den sicheren Bereich des Umgangs mit unserem Erdball längst hinter uns gelassen.

2 Soziale Kipppunkte

Wie kommt man nun von einer ständig wachsenden Treibhausgasemission zur Nullemission? Dazu ist eine radikale Wende im individuellen und im gesellschaftlichen Verhalten nötig, ein sogenannter sozialer Kipppunkt (Otto et al. 2020). Dieser Kipppunkt soll alle Ebenen der Gesellschaft erfassen: auf der Ebene der Wirtschaft und der Märkte ebenso wie auf der der Technologie, in der Politik oder der schulischen Erziehung ebenso wie im individuellen Norm- und Wertesystem.
Das klingt unwahrscheinlich. Und doch gibt es Beispiele aus der jüngeren Geschichte für erfolgreiche soziale Kipppunkte. Während noch vor wenigen Jahrzehnten in Flugzeugen, Zügen, Restaurants und auch im Fernsehen viel geraucht wurde (es war damals normal), hat sich im Lauf der Zeit die naturwissenschaftliche, d. h. die medizinische Erkenntnis der Schädlichkeit des Rauchens durchgesetzt. Das hat seine Zeit gebraucht. Die wissenschaftliche Evidenz verfestigte sich in den 1950er-Jahren. Sie hatte es aber nicht leicht: Es formierte sich eine von der Tabakindustrie sehr gut finanzierte Gegenbewegung. Es entstanden Institute mit dem Ziel, quasi-wissenschaftliche „Beweise“ für die Unschädlichkeit von Tabakkonsum zu (er-)finden. Die Evidenz war jedoch erdrückend und zeigte, dass Tabakkonsum ein gesellschaftliches Problem ist. Langsam entwickelte sich eine verzahnte Bewegung zwischen Individuen, Institutionen und gesellschaftlichen Normen gegen Rauchen. Wir kennen den Schlusspunkt: Rauchverbot in öffentlichen Verkehrsmitteln, Restaurants usw. Der Weg allerdings dahin war lang: Es dauerte etwa 60 Jahre.
So viel Zeit werden wir in Sachen Klimaerwärmung nicht haben. Doch manchmal geht es auch schneller. Bei den sogenannten Montagsdemonstrationen in Leipzig im Herbst 1989 schwoll die Zahl der Demonstrierenden innerhalb von nur sechs Wochen von wenigen Hundert Menschen auf etwa 320.000 an (Lohmann 1994). Drei Tage später fiel dann die Mauer. Das ist eine gute Illustration eines sozialen Kipppunkts: Die Bewegung beginnt vielleicht zögerlich, entwickelt eine Anziehungskraft für weitere Beteiligte, das Wachstum beschleunigt sich, bis die Macht der Vielen eindeutig ist. Ein Kipppunkt zeichnet sich durch eine gewisse Plötzlichkeit aus, die aus der Beschleunigung der Bewegung resultiert. Altbekanntes und für stabil Gehaltenes kommt in Bewegung und fällt. Der sich selbst beschleunigende, autokatalytische Prozess bei den Montagsdemonstrationen lag (neben internationalen Entwicklungen) in dem steigenden Unzufriedenheitsdruck in der DDR und dem Schwinden der Angst vor Verfolgung mit jeder weiteren demonstrierenden Person.
Allerdings ist bei diesem Beispiel auch offensichtlich, dass es für jede beteiligte Person unmittelbar nachvollziehbare und wirksame Anreize (wie demokratische Freiheiten, materieller Wohlstand) gab, die die Bewegung in Gang brachten. Während genauso eine sich selbst beschleunigende Bewegung Vieler als sozialer Kipppunkt für nachhaltige Gesellschaften notwendig ist, sind die Anreize hier jedoch anders gelagert. Während die Naturwissenschaft und die politischen Ziele klar sind, ist die Übertragung in fassbare Nachhaltigkeitserfolge, in großflächig verändertes Verhalten, nicht so sichtbar. Nachhaltigkeitserfolg wird dabei z. B. in Maßen wie Tonnen CO2, ökologischen Rucksäcken oder Fußabdrücken gemessen.

3 Der Fußabdruck

Der ökologische Fußabdruck macht es besonders anschaulich: Menschlicher Ressourcenverbrauch wird in Landfläche umgerechnet. Gewissermaßen bewegen wir uns wie Riesen auf dem Planeten und nehmen Platz in Anspruch, den es nicht gibt. In diesem Beitrag steht der Begriff für die Auswirkungen menschlicher Existenz auf das Erdsystem, insbesondere für seine Klimawirkungen, den Klimafußabdruck. Jede und jeder von uns kennt das: Alle müssen sich anstrengen, um ihre Klimawirkung, gemessen in Tonnen CO2, zu reduzieren. Wie weit reicht dies in einer industrialisierten Gesellschaft wie der unseren? Die Zahlen des Bundesumweltamtes zeigen, dass derzeit jede Person in Deutschland etwa 10,5 t CO2 pro Jahr ausstößt. Dazu zählen die Bereiche Wohnen (insbesondere Heizen), Ernährung (insbesondere Fleischkonsum), Mobilität (also Pendeln, Freizeit- sowie Fernmobilität) und genereller Konsum (insbesondere Kleidung). Nachhaltig müssten wir allerdings bei zwei Tonnen pro Erdenbürger und -bürgerin sein. Der Weg dahin ist nicht offensichtlich, denn mehr als 1,5 t gehen bereits auf die Infrastruktur, also Schulen, Straßen, Krankenhäuser usw. zurück. Verbleiben also weniger als 0,5 t pro Person für das Leben. Das funktioniert einfach nicht. Man kann eine Solaranlage haben, Ökostrom beziehen, vegan und ohne Auto leben – es reicht trotzdem nicht. Wer bei acht Tonnen ist, ist in Deutschland schon klimafreundlicher als der Durchschnitt (vgl. Neckel in diesem Heft).
Wir haben als Individuen also einen möglichst kleinen Klimafußabdruck anzustreben. Das heißt aber auch, dass wir alle und immer ein bisschen schlechtes Gewissen haben sollten. Tatsächlich wurde der Fußabdruck, so wie wir ihn kennen, von dem Mineralölkonzern BP erfunden und bekannt gemacht, um von dem Geschäftsmodell und den Emissionen der Mineralölindustrie abzulenken. Die Sache mit dem Fußabdruck kam also sehr willkommen für Einige, die damit zumindest eine Teilschuld auf die individuellen Personen und ihre vermeintlich freien Entscheidungen abwälzen konnten. Nur ist diese Art von Teilschuld nicht zu tilgen, wie wir gerade gesehen haben. Warum nicht? Ich werde auf drei Ursachen, auf drei Barrieren eingehen. Die Barrieren sind dabei ineinander verzahnt.

3.1 Sozialer Vergleich

Die erste Barriere ist der soziale Vergleich. Menschen vergleichen sich bewusst oder unbewusst mehr oder weniger ständig mit anderen Menschen: Wie steht es um das Verhältnis der eigenen Leistung, des eigenen Besitzes, der körperlichen oder der moralischen Qualitäten, der Bekannten usw. im Vergleich zu denen von anderen? So ein Vergleich kann Ansporn sein, aber auch deprimieren, je nachdem, welche Vergleichspersonen jemand heranzieht. Hier geht es aber noch um etwas anderes: Wenn es eine Ressource zu verteilen gibt, wie viel davon steht jedem Einzelnen zu? Ein Experiment (Allison und Messick 1990) gibt darüber einigen Aufschluss. Man könnte auf die Idee kommen, von der Ressource stünde jeder Person die gleiche Menge zu. Das nennt man Egalität – alle werden gleich behandelt. Die Egalitätsregel ist nicht beliebt, weil sie unterschiedliche Bedürfnisse und unterschiedliche Leistungen nicht berücksichtigt. Diese Punkte berücksichtigt die sogenannte Equity-Regel. Diese Regel wird von den Probanden im Experiment auch angewendet, aber mit einem Twist: Wer von der Gruppe auserkoren ist, die Ressource zu verteilen, nimmt für sich selbst ein wenig mehr. Reihum gespielt, tun das die meisten. Das führt in den Gruppen zur Eskalation der Entnahmen aus der Ressource. „Diese Person hat schon mehr genommen, also mache ich das jetzt auch erst recht.“ Und diese Eskalation hat permanenten Neid zur Folge, permanentem negativen Affekt und Ressourcenübernutzung.
Es macht in sozialen Vergleichskontexten nicht glücklich, genug zu haben. Es gibt immer einen, der hat noch breitere Reifen am Auto. Und der fühlt sich glücklich, weil er eben die breitesten Reifen der Stadt hat – bis jemand aus einer anderen Stadt kommt und noch breitere Reifen hat. Diese Eskalationslogik ist ein Konsum- und Wachstumsmotor. Es ist ein rein psychologischer Antrieb, der von der Konsumindustrie früh erkannt wurde und zur Perfektion bedient wird. Das Mantra „Glück durch Materielles“ fußt auf dem sozialen Vergleich. Das gilt individuell wie international, wie man an den Ländern in Entwicklung sieht.

3.2 Ökologisch-soziale Dilemmata

Die zweite Barriere sind die sogenannten ökologisch-sozialen Dilemmata (Ernst 2008). Sie entstehen aus zwei miteinander verschränkten Dimensionen. Die erste Dimension ergibt sich aus der Frage, wer wieviel von einer Ressource entnimmt. Wir wissen, dass die Ungleichheiten in der Nutzung der Ressourcen der Erde enorm sind. Sie schüren Konflikte, die letztlich auf dem (für die meisten Erdbewohnenden unvorteilhaft ausgehenden) sozialen Vergleich (oder auf der Not aufgrund von ungleicher Verteilung von Ressourcen) beruhen. Soziale Nachhaltigkeit und gesellschaftlichen Frieden kann es nur mit einer ausgeglicheneren Ressourcennutzung und dem Zugang Vieler zum Notwendigsten geben. Die Anreize stehen aber zugunsten einer Vermehrung der individuellen Ressourcen, der individuellen Sicherheit, des individuellen Wohlstands von Wenigen. Von 1990 bis 2015 haben die reichsten 10 % der Weltbevölkerung über die Hälfte der Emissionen verursacht, die ärmeren 50 % der Weltbevölkerung nur 7 % der Emissionen (Oxfam 2020).
Die zweite Dimension ist die Zeitachse. Die zugehörige Frage ist, wieviel aus der Ressource wann entnommen wird. Schon eingangs in diesem Beitrag wurde sehr deutlich, dass Menschen mit ihrem Konsum und den dazugehörigen Abfallprodukten (wie CO2) die Tragfähigkeit des Erdsystems bereits jetzt bei weitem überschreiten, was jede kommende Generation stärker spüren wird. Vorsorge für die Zukunft ist uns nicht in die Wiege gelegt: Bei Kleinkindern ist es unmöglich, ein Zeitgefühl für längere Zeitspannen zu erzeugen. Bei Erwachsenen mag es kognitiv einsichtig sein, paust sich aber nur unvollständig in das Verhalten durch. Und so wissen wir, dass wir in nur wenigen Jahrzehnten eine radikal andere Welt haben als die, die wir kennen. Auch hier stehen die Anreize nicht richtig: Konsum jetzt und möglicherweise Verzicht in einer unsicheren Zukunft wirken belohnend, belohnender als Verzicht jetzt und Konsum vielleicht in der Zukunft.
Auf beiden Dimensionen, soziale Verteilung und zeitliche Verteilung, stehen die Anreize also strukturell falsch. Wenn beide Faktoren zusammen vorkommen, dann sind Lösungen nicht leicht. Das ist aber bei so gut wie allen Umweltproblemen der Fall, bei der Klimaerwärmung oder beim Artensterben, beim Ausbau von öffentlichem Nahverkehr in einer Gemeinde oder dem Nachbarschaftstreffen zum gemeinsamen Bau eines Nahwärmenetzes. Es bedarf sehr großer individueller Anstrengung, guter und wohlwollender sozialer Beziehungen wie auch einer unterstützenden institutionellen Einbettung, um die Auflösung des Dilemmas gelingen zu lassen. Je größer die eine Ressource nutzende Gruppe, desto schwieriger sind Lösungen. Bei der Klimaerwärmung befinden wir uns allerdings in einem Massendilemma mit acht Milliarden Menschen, in dem persönliche Bindungen praktisch keine Rolle spielen.
Es hängt alles davon ab, ob jemand den individuellen Profit jetzt oder das kollektive Wohlergehen in der Zukunft als Richtschnur des Verhaltens nimmt. Beide stehen im ökologisch-sozialen Dilemma in Konflikt, und es ist immer wieder zu beobachten, wie in vielen Kontexten das kollektive und langfristige Wohlergehen unter die Räder des individuellen und kurzfristigen Profits gerät. Die Anreize sind dabei stärker als die Einsicht. Guter Wille allein lässt diese Dilemmata ungerührt. Allein institutionell durchgesetzte, idealerweise gemeinschaftlich beschlossene Regeln vermögen die Anreize so umzubauen, dass die Dilemmata schwächer werden oder gar verschwinden. Das ist ein Punkt, auf den wir noch zurückkommen werden.

3.3 Rebound

Von Rebound spricht man, wenn Effizienzgewinne ganz oder teilweise durch Mehrverbrauch wieder aufgefressen werden. Er ist die dritte Barriere. Immer dann, wenn ein neues Produkt (z. B. ein Auto) energie- oder ressourcensparender als das vorherige Produkt ist, führt das zu einer Ersparnis: Material, Energie und meistens auch Geld (Santarius 2012). Doch es bleibt nicht einfach übrig für die Zukunft, nein, es hat einen Aufforderungscharakter, das Freigewordene zu nutzen. Dabei sind sowohl psychologische als auch wirtschaftliche Effekte maßgeblich. Benötigt beispielsweise ein neues, energieeffizientes Fahrzeug weniger Energie für die gleiche Fahrleistung, bleibt bei der betreibenden Person Geld übrig. Die Frage ist, was die Person mit dem Geld macht. Verbrennen wird sie es eher nicht – allerdings gäbe es dann auch keinen Rebound. Stattdessen nimmt die Person das Geld, finanziert damit längere Strecken mit dem neuen Auto, fliegt vielleicht sogar von der Ersparnis in Urlaub usw. Damit wird der ursprüngliche Effizienzgewinn geschmälert oder ganz aufgehoben.
Psychologischer Rebound ergibt sich zusätzlich zum finanziellen Rebound daraus, dass das neue Auto ja „modern“ und „effizient“ und damit „nicht mehr so schädlich“ ist und man guten Gewissens damit mehr fahren kann und letztlich nicht mehr ganz so gut auf die Ressource aufpassen muss. Dasselbe gilt für Heizungen, Beleuchtung im Haus (neue Leuchtmittel brennen nicht nur länger pro Tag, sie sind auch heller als die Leuchtmittel vorher) usw. Eine Studie (Herring und Roy 2007) zeigt, dass der Preis eines Lumens Licht in den letzten 200 Jahren praktisch auf Null gesunken ist. Im Gegenzug dafür haben wir die Welt beleuchtet und damit den Effizienzgewinn wieder ausgegeben. Besonders augenfällig ist Rebound im Bereich Mobilität, wo die Pkw mit der Zeit immer größer und schwerer geworden sind statt ressourcenschonender und immer mehr Kilometer gefahren werden.
Jedoch ist Effizienz unter Inkaufnahme von Rebound eine politische Strategie, die sehr akzeptiert ist, weil sie alle besserzustellen scheint. Konsumierenden bleibt (wenn man nur auf den Verbrauch schaut) mehr Geld, Produzierende können weiter neue Produkte auf den Markt bringen. Das theoretische Effizienzversprechen neuer Technologien (das sogenannte Effizienzpotenzial) ist, dass damit der Fußabdruck menschlichen Konsums gesenkt werden könne. Das ist die Vorstellung vom sogenannten „grünen“ Wachstum, also weiter wie bisher, nur mit immer geringeren Umweltkosten. Es wäre so schön, wenn das so stimmen würde, aber die Zahlen sprechen eindeutig dagegen. Warum ist das so? „Grünes“ Wachstum geht davon aus, dass letztlich alle neuen, innovativen Produkte erstens ganz ohne neue Ressourcen produziert werden könnten und zweitens vollständig recycelt oder abgebaut werden könnten. Das – die sogenannte doppelte Entkopplung – ist, vorsichtig gesagt, derzeit schwer vorstellbar. Die eingangs genannten Zahlen jedenfalls sprechen eine völlig andere Sprache.

4 Nach dem Wachstum

Wenn das also kein Weg ist, wie geht es dann? Es hilft, die Sache von den planetaren Grenzen her aufzuzäumen. Das Anerkennen der naturwissenschaftlichen Tatsachen bringt unweigerlich die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des ewigen Wachstums von Wirtschaft, Ressourcen- und Energieverbrauch sowie von Abfall auf dem Land, im Meer und in der Atmosphäre mit sich. Aber ist die Wachstumsgesellschaft nicht ein Erfolgsmodell? Sie hat den Menschen in den Industrieländern einen enormen, nie dagewesenen Lebensstandard beschert.
Allerdings lässt es sich feststellen, dass die Wirtschaftsleistung, wenn sie – wie üblich – mit dem Bruttoinlandsprodukt eines Landes gemessen wird, kein Maß für das tatsächliche Wohlergehen der Bevölkerung ist. So gibt es z. B. keine lineare Beziehung zwischen dem Bruttoinlandsprodukt und der Lebenserwartung bei der Geburt. Vielmehr steigen die Zahlen, wenn man die Länder der Erde miteinander vergleicht, bis zu einem bestimmten Betrag steil an: Findet ein Land aus Armut heraus und ist in der Lage, ein funktionierendes Gesundheitssystem aufzubauen, fördert das die Lebenserwartung enorm (Jackson 2011). Allerdings lässt sich oberhalb von einem Bruttoinlandsprodukt von etwa 10.000 Dollar pro Kopf und Jahr (weniger als ein Drittel des Wertes der Industrieländer) beobachten, dass eine zusätzliche Wirtschaftsleistung so gut wie keine Verbesserung in der Lebenserwartung bringt. Exakt das Gleiche gilt für die allgemeine Lebenszufriedenheit und dem Gefühl, glücklich zu sein. Für Glück und Zufriedenheit ist es wichtig, einen Mindestwohlstand (wie oben bei der Lebenserwartung) zu erreichen. Oberhalb dieser Grenze gibt es jedoch kaum noch einen Zuwachs des Wohlbefindens bei den Menschen. Tatsächlich lässt sich sogar zeigen, dass in manchen Industrieländern (z. B. den USA und Großbritannien) die mittlere Lebenszufriedenheit seit den 1970er-Jahren abgenommen, nicht weiter zugenommen hat, trotz ungebremstem Wirtschaftswachstum und Liberalisierung der Märkte (Hamilton 2004).
Eine Erklärung dafür findet sich in der Einkommensungleichheit, also der Schere zwischen arm und reich. Je geringer die Unterschiede zwischen ihnen sind, desto geringer fallen auch gesundheitliche und soziale Probleme in einer Gesellschaft aus (Jackson 2011). Das wirft ein Licht darauf, dass es nicht so sehr auf die absolute Höhe des materiellen Wohlstands ankommt als vielmehr auf geringere Unterschiede zwischen hohen und geringen Einkommen. Unweigerlich denkt man hier an die eskalationsfördernden Folgen des sozialen Vergleichs. Wir hatten ihn schon als einen Wachstumsmotor für Konsum identifiziert. An dieser Stelle ist es sinnvoll, zwischen Bedürfnissen und Wünschen zu unterscheiden. Bedürfnisse sind homöostatischer Natur, wie Essen, Trinken oder Wärme. Wünsche hingegen können grenzenlos sein. Konsum befriedigt einerseits notwendigerweise Bedürfnisse. Wachstum liegt aber in der Schaffung von immer neuen Wünschen, die dann mit neuen Handlungsoptionen oder Produkten befriedigt werden können. Da Wunscherfüllung durch materiellen Konsum, also von außen, nicht langfristig glücklich macht, lassen sich immer neue Variationen von Wünschen und damit Produkten schaffen – ein Teufelskreis.
Individuelle Genügsamkeit von innen, also Suffizienz, in Konsum und Lebensstil kann sehr befriedigend sein. Sie geht aber nicht die strukturell notwendigen Änderungen im gesellschaftlichen System an, das derzeit auf ein unbegrenztes Wachstum abseits der Wohlergehensbedürfnisse der Menschen abzielt und die Ressourcen der Erde bereits über ihre Grenzen gebracht hat. Hier kommt nun der Handabdruck ins Spiel.

5 Der Handabdruck – auch im Coaching

Wenn der Fußabdruck ein Maß der menschlichen Belastung der Umwelt ist, ist der Handabdruck ein Maß für das Engagement oder den Aktivismus, die politische Mitsprache und Selbstermächtigung von Bürgerinnen und Bürgern. Es geht also darum, sowohl den eigenen Fußabdruck zu überprüfen als auch die eigene politische und berufliche Rolle zu hinterfragen. Die institutionellen und wirtschaftlichen Strukturen müssen sich – genauso wie die Individuen – auf nachhaltige Ressourcennutzung einstellen. Von allein werden sie das vermutlich nur ungenügend und mit starker Verzögerung tun. Das oben angeführte Beispiel des Rauchens hat dies deutlich gemacht. Daher ist, um die nicht direkt im individuellen Machtbereich liegenden Strukturen zu beeinflussen, gesellschaftliches und politisches Engagement über das eigene nachhaltige Verhalten hinaus notwendig – und ethisch geboten. Letztlich ist genau dieses ethische Engagement der Treiber für den gesellschaftlichen Kipppunkt in Richtung Nachhaltigkeit.
Es ist wichtig, dass sich wirtschaftliche Prozesse umstellen auf einen geringen Fußabdruck und auf echtes nachhaltiges Wirtschaften. Das gilt nicht nur für den Ressourcen- und Energieverbrauch, sondern auch für die jeweils angebotene Produktpalette. Das macht die Frage, bei wem und für wen wir arbeiten, zu einer ethisch relevanten Frage. Es gilt, von der klassischen Beratungsdienstleistung zu einer ethisch orientierten Beratung zu kommen. Es gilt, die wirklich wichtigen, nachhaltigen und langfristigen Aspekte im Blick zu behalten und, falls nötig, in den Vordergrund zu rücken. Das gilt natürlich auch für ein Hinterfragen des Mantras des immerwährenden Wachstums. Wann ist ein Unternehmen genug gewachsen? Es geht also nicht mehr um die reine Produktivität, sondern um die strategische Ausrichtung von Unternehmen auf eine nachhaltige Existenz, auf einen geringen Fußabdruck sowie auf soziale Aspekte ihrer Tätigkeit. Ethische Beratung beginnt mit der Frage, wo die beratenen Unternehmen stehen im Hinblick auf Wachstumsglaube, Suffizienz, Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Verantwortung – jenseits von PR-wirksamem Greenwashing. Dabei kann jeder und jede schon in der Auswahl des Tätigkeitsfeldes eine Menge tun. Das ist so wie ethisches Finanz-Investment. Es können die offenkundigen Probleme eines Unternehmens mit seiner Langfristperspektive angesprochen werden, damit sie nicht länger als Elefant im Raum stehen. Auf diese Weise lassen sich erst tiefgreifende Veränderungsprozesse in Richtung Nachhaltigkeit anstoßen, d. h. solche Prozesse, die das Überleben des Unternehmens auch in einer ressourcenknappen Zukunft zu sichern helfen. Letztendlich gilt es, an einer Stelle anzufangen, und am besten dort, wo man selbst am wirksamsten werden kann.
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Literatur
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Metadaten
Titel
Umweltverhalten mit Hand und Fuss(-abdruck)
verfasst von
Prof. Dr. Andreas Ernst
Publikationsdatum
30.11.2023
Verlag
Springer Fachmedien Wiesbaden
Erschienen in
Organisationsberatung, Supervision, Coaching / Ausgabe 1/2024
Print ISSN: 1618-808X
Elektronische ISSN: 1862-2577
DOI
https://doi.org/10.1007/s11613-023-00860-0

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