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2006 | Buch

Die Ausweitung der Bekenntniskultur — neue Formen der Selbstthematisierung?

herausgegeben von: Günter Burkart

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Einleitung. Selbstreflexion und Bekenntniskultur
Auszug
Im Januar 2006 wurde in der ARD ein ausführliches Interview mit der Archäologin Susanne Osthoff gesendet, die vorher im Irak entführt worden war. Nach ihrer Freilassung, deren Umstände von den Behörden geheim gehalten wurden, war in den Medien viel spekuliert worden und sie zum Teil heftig kritisiert. Reinhold Beckmann, der Interviewer, versuchte die Geschichte zu durchleuchten. Dabei legte er großen Eifer an den Tag, Frau Osthoff persönliche Bekenntnisse abzuringen: zu ihrem Glauben, ihren familiären und persönlichen Beziehungen, ihren Gefühlen gegenüber den Entführern, ihrer kulturellen Identität, ihrer Dankbarkeit für Deutschland. „Sind Sie dankbar, Frau Osthoff?“, fragte Beckmann immer wieder, während er ihr Feuer gab — eine (angesichts der heute fast skandalösen Praxis, im Fernsehen zu rauchen) seltsam antiquierte Höflichkeitsgeste, die in scharfem Kontrast zur unhöflichen Insistenz des bohrenden Fragens stand. Aber trotz dieser intensiven Befragung gelang es dem Moderator nur selten, Bekenntnisse zutage zu fördern.
Günter Burkart
Selbstthematisierung. Von der (Er-)Findung des Selbst und der Suche nach Aufmerksamkeit
Auszug
Das Thema Selbstthematisierung hat eine lange Geschichte. Es lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen, hat von Augustinus über Montaigne bis Rousseau berühmte Vorbilder hervorgebracht und in der Diskussion um die Postmoderne eine wahre Konjunktur erlebt (vgl. Foucault 1989a, 1989b; Taylor 1996; Vester 1984). Sind es zunächst vor allem religiöse Zusammenhänge, die eine Selbsterforschung und -befragung auf den Plan rufen, kommen später auch rechtliche und politische Zusammenhänge hinzu, in denen es um Selbstthematisierung in Form von Bekenntnissen und Geständnissen geht (vgl. Hahn/ Kapp 1987). Heute denken wir bei Selbstthematisierung längst auch an private Gespräche, therapeutische Diskurse und mediale Selbstpräsentationen. Gewandelt haben sich über die Jahrhunderte sowohl Kontext, Funktion und Form der Selbstthematisierung als auch die Anzahl derer, die Selbstthematisierung betreiben.
Markus Schoer
Vom Beichtstuhl zum Chatroom. Strukturwandlungen institutioneller Selbstthematisierung
Auszug
Die Formation des modernen Individuums ist bekanntlich ein langfristiger und komplexer historischer Prozess, der viele Dimensionen und Wurzeln hat (vgl. Hahn 1984; Willems/ Hahn 1999). Zentral ist nach allgemeiner soziologischer Auffassung die grundlegende Wandlung der Sozialstruktur, d.h. vor allem: der Prozess der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems. Im Verlauf dieses sich über vierhundert Jahre hinziehenden Prozesses sind die gesellschaftlichen Funktionsbereiche anhand ihres jeweiligen zentralen Bezugsproblems ausdifferenziert worden. Damit geraten die Individuen in eine strukturelle Außenstellung zur Gesellschaft. Sie sind in alle Sphären der Gesellschaft eingelassen, jedoch jeweils nur in für sie selbst partiellen Engagements, z.B. als Kunden, Gläubiger, Ärzte, Patienten, Verkehrsteilnehmer usw. Sie können nun nicht mehr nur einem Teilsystem der Gesellschaft angehören, wie man nur einem Stand angehörte. Vielmehr muss jedermann Zugang zu allen funktionalen Teilsystemen der Gesellschaft erhalten können, „je nach Bedarf, nach Situationslagen, nach funktionsrelevanten Fähigkeiten oder sonstigen Relevanzgesichtspunkten“ (Luhmann 1989: 149 ff.). Die moderne Gesellschaft schließt den Einzelnen damit in seiner psychischen Totalität aus. Das moderne Individuum ist ein Kosmos, der sich in keiner realen kommunikativen Situation mehr voll kommunizieren lässt, der in keines der Subsysteme als ganzes kommunikativ ‘eingebracht’ werden kann. Weil es an verschiedenen als Sinnsphären eigengesetzlichen und nicht aufeinander abgestimmten Funktionsbereichen partizipieren muss, kann das moderne Individuum seine Identität nicht mehr auf soziale Inklusion gründen.
Herbert Willems, Sebastian Pranz
‘Magic Mirrors’. Zur extensiven Ausleuchtung des Subjekts
Auszug
Globalisierungsprozesse ordnen nicht nur gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, sondern auch individuelle Lebensformen neu. Mehr denn je ist das einzelne Subjekt abhängig von globalen — ökonomischen, sozialen und politischen — Machtstrukturen und dennoch, unausweichlich individualisiert, darauf verwiesen, Selbstkonzepte zu entwickeln. Diese spiegeln in sich die Heterogenität industriell verfertigter Stilmittel und die Pluralität neuer Lebenskulturen. Deren Ikonen, Models und Superstars bringen die „Macht der Schönheit“ gestylter Produkte, das Subjekt und seinen Körper eingeschlossen, auf globales Niveau. Sie sind die ästhetischen Insignien expressiver „Selbst-Kulturen“ (Beck/ Sopp 1997), deren Organisationszentrum das Individuum ist, und deren (Ausdrucks-) Kraft sich aus einem massenmedial inszenierten Individualismus speist, der sich exklusiv gibt.
Hannelore Bublitz
Serielle Einzigartigkeit und Eigensinn
Auszug
Die Debatten der letzten Jahrzehnte um Bedingungen und Folgen der vielfach diagnostizierten Individualisierung der westlichen Gesellschaften haben auf die Selbstwahrnehmung und das Selbstverständnis der Betroffenen zurückgewirkt. Dabei führte insbesondere die verkürzte Rezeption der Individualisierungsthese in den Massenmedien gelegentlich zum Missverständnis, hier werde ein neues ‘Reich der Freiheit’ und der bedingungslosen Selbstgestaltung angekündigt. Je nach Standort wurde das damit verbundene Versprechen als Befreiung vom Zwang des Sozialen begrüßt oder als Triumph eines beziehungslosen Egoismus verdammt. Dagegen wurde sowohl von soziologischen Klassikern wie Durkheim, Simmel, Weber und Parsons, als auch in der von Beck und anderen angestoßenen neueren Individualisierungsdebatte der sozialstrukturelle Charakter und damit auch die Unentrinnbarkeit der modernen Individualisierungsprozesse betont: Diese galten immer auch als Zwang, nicht nur als Option, auch als Verhängnis, nicht nur als Chance. Neue Freiheiten und neue Zwänge also.
Undine Eberlein
Transformationen des Selbst im spätmodernen Raum. Relational, vereinzelt oder hyperreal?
Auszug
Aktuelle Veränderungen der Struktur und Organisation des sozialen Lebens haben die Analyse von Raum in den Mittelpunkt der Sozialtheorie gerückt. Raum/Zeit-Konfigurationen, die für das Zeitalter der Moderne als selbstverständlich genommen wurden, sind durch die Globalisierung des Kapitals, den Aufstieg weit reichender Fernsehsender, die Ausbreitung der Konsumkultur sowie durch Touristen, Immigranten und Flüchtlinge, die über die internationalen Grenzen strömen, ins Wanken gebracht worden. Nach Edward Soja (1989) markiert die Betonung von Räumlichkeit des sozialen und kulturellen Lebens eine bemerkenswerte Abkehr von einer modernen Sozialtheorie, die in erster Linie am gesellschaftlichen Wandel im Zeitverlauf interessiert war. Dies beschreibt Michel Foucault folgendermaßen: „Raum wurde als das Tote, Starre, Undialektische, Unveränderbare behandelt. Im Gegensatz dazu war Zeit Fülle, Fruchtbarkeit, Leben, Dialektik“ (1980: 70).
Jeffrey Stepnisky
Massenmedien im und als Spiegel der Person
Auszug
Massenkommunikation, personale Identitätszuschreibungen und Selbstwahrnehmungen sind auf vielen verschiedenen Dimensionen mehr oder weniger komplex miteinander verflochten, so dass ich an dieser Stelle nur einen skizzenhaften Einblick in die Thematik geben kann (für einen umfassenden Überblick siehe Reinhardt 2006). Dabei konzentriere ich mich auf eine von vielen möglichen Perspektiven, die an die klassische soziologische Identitätstheorie, die Theorie des sozialen Selbst oder Spiegelselbst anknüpft.
Jan D. Reinhardt
Dissensfiktionen bei Paaren
Auszug
Während eines Workshops, auf dem das Protokoll eines Gesprächs mit zwei Paaren analysiert wurde, stießen wir auf eine Interaktionsfigur, die uns spontan auf die Idee brachte, dem von Alois Hahn geprägten Begriff der „Konsensfiktionen“ (Hahn 1983) den Begriff der Dissensfiktionen an die Seite zu stellen bzw. diesem von Hahn selbst bereits angedeuteten, aber nicht weiter vertieften Begriff stärker Geltung zu verschaffen. Die hier angestellten Überlegungen sind daher aus der Beschäftigung mit empirischem Material entstanden und von dort aus in die Theoriebildung hineingetragen worden, anders ausgedrückt: Hier suchen Daten ihre Theorie, nicht umgekehrt.
Bruno Hildenbrand
Das erzählte Ich in der Liebe. Biografische Selbstthematisierung und Generationswandel in einem modernen Kulturmuster
Auszug
Die hier zitierte Textpassage entstammt der Filmchronik „Die zweite Heimat“ von Edgar Reitz. In der ausgewählten Szene liest der Protagonist ‘Hermann’ in einer Ausgabe der Illustrierten’ stern’ aus dem Jahre 1968 von einer, wie es dort heißt: „Deutung der Liebe“, zu der sich eine Kommunardin ‘Katrin’ bekenne. Der Artikel ist überschrieben mit: „Das ist die Liebe der Kommune“. Es handelt sich dabei zwar um eine reale Ausgabe der Illustrierten aus dem Spätherbst 1968 mit dem Titel „Deutschlands schönste Kommunardin“, in der ein Interview mit Uschi Obermaier (‘Kommune I’) abgedruckt ist. Allerdings ist dieser Text in der Originalausgabe nicht zu finden, und Edgar Reitz ließ auf Anfrage verlautbaren, er habe sich lediglich am ikonografischen Frame der Darstellung orientiert und dazu schließlich einen eigenen Text verfasst. Auch wenn — oder vielleicht gerade weil — es sich damit um eine kollektive Selbstbeschreibung aus ‘zweiter Hand’ handelt und die Textpassage insgesamt stilisiert und überzeichnet wirkt, werden darin Regeln der Selbstpositionierung im historisch Sozialen sichtbar.
Holger Herma
Die Veralltäglichung der Patchwork-Identität. Veränderungen normativer Konstruktionen in Ratgebern für autobiografisches Schreiben
Auszug
Das Schreiben über sich selbst geht nicht von selbst, konstatiert Philippe Lejeune (2004: 49). Auch wenn auf den ersten Blick der Eindruck entstehen mag, dass doch jede und jeder ein Leben führt und es daher erzählen können muss, so ist der Akt des autobiografischen Schreibens sehr voraussetzungsvoll. Das merkt man spätestens dann, wenn man es tatsächlich versucht. Die Vielfalt eines Lebens in eine Form zu bringen, wirft konstruktive Fragen auf, der Umgang mit der Wahrheit moralische; ein mühsamer Konstruktionsprozess also im Spannungsfeld von Leben und Sinn, Genauigkeit und Ehrlichkeit. Hilfe ist möglich, auch wenn dies merkwürdig erscheinen mag. Wie bitte, soll denn in so einem ganz persönlichen, einmaligen Unternehmen Hilfe aussehen? Die eine Hilfe ist die Rezeption anderer Autobiografien, die Übernahme — oder Ablehnung — der Darstellungsweise Dritter. Die zweite Strategie stützt sich auf die angeleitete Einübung des autobiografischen Schreibens als einer ‘Technik des Selbst’. Mögliche Orte dafür sind Kurse über autobiografisches Schreiben, wie sie mittlerweile an vielen Volkshochschulen angeboten werden. Zur Rezeption von Modellen der Selbstpräsentation kommen hier die direkte Rückmeldung zu eigenen Versuchen und die Gemeinschaft Motivierter. Die dritte Strategie schließlich besteht in der Lektüre von Ratgeberliteratur. Solche Manuale helfen, indem sie vorschreiben; indem sie vorschreiben, beschreiben sie aber auch, nämlich den — popularisierten — Stand des Nachdenkens über diese Form der Selbstthematisierung.
Wolfgang Kraus
Die Herstellung von Biografie(n). Lebensgeschichtliche Selbstpräsentationen und ihre produktive Wirkung
Auszug
Hier wirbt die Firma Rohnstock Biografien auf ihrer Homepage für ihre Dienstleistung.2 Sie bietet an, aus autobiografischen Erinnerungen Bücher herzustellen
„Eine Idee für alle, die sich wieder einmal den Kopf über ein sinnvolles Geschenk zerbrochen und doch nicht das Richtige gefunden haben: Machen Sie sich unsterblich! Schenken Sie IHR LEBEN ALS BUCH™! Denn warum sollen sich nur Prominente in Memoiren verewigen? Ihr Leben ist genauso interessant!“
1998/99 hat Katrin Rohnstock begonnen, Biografien von Menschen wie ‘Du und ich’ festzuhalten und zu veröffentlichen; in geringer Auflage, zum familieninternen Gebrauch und gegen Bezahlung — versteht sich. Heute, im Frühjahr 2006, beschäftigt ihr Unternehmen sieben hauptamtliche Mitarbeiterinnen, die für die Organisation der Geschäfte sorgen. Auch weitere, in Intensivkursen geschulte Kolleginnen, ‘Rohnstock-Autobiografiker’ genannt, betreiben das Zuhören und Aufzeichnen von Lebens-, Familien- und Firmengeschichten als Dienstleistung; und dies alles unter dem Dach des Mutter-Unternehmens und im Rahmen eines auch international auf den deutschsprachigen Raum und die deutschsprachige Community ausgerichteten Franchisesystems.
Bettina Völter
Eine Romantische Arbeitsethik? Die neuen Ideale in der Arbeitswelt
Auszug
Kreativität, Flexibilität und Autonomie sind auf dem besten Wege, die wichtigsten Arbeitstugenden der westlichen Industriegesellschaften zu werden. Sie gelten heute als Minimalvoraussetzung für eine erfolgreiche Karriere und haben die alten Ideale von Pflichtergebenheit und Treue teilweise abgelöst. Arbeitgeberverbände fordern von den Mitarbeitern beständig mehr Mut zum Wechsel, Weiterbildungsaktivitäten und Entschlussfreudigkeit. Die Anforderungen der modernen Arbeitswelt ähneln dabei auf verblüffende Weise den Idealen, die ab den sechziger Jahren von denjenigen in Anspruch genommen wurden, die sich als antikapitalistisch und revolutionär verstanden.
Carl Sasse
Gibt es Virtuosen der Selbstthematisierung?
Auszug
Max Weber sprach in seiner Religionssoziologie von religiösen „Virtuosen“ — er meinte damit religiös besonders „qualifizierte“ und sozial hervorgehobene, „ihre Erlösung methodisch erarbeitende“ Individuen, denen oft besondere soziale Ehre zukam.1 In Anlehnung an Weber verstehen wir unter Virtuosen der Selbst-thematisierung eine Personengruppe, zu deren Stärken die Selbstreflexion gehört. An die Stelle von „Erlösung“ tritt’ selbstfindung’ oder’ selbstverwirklichung’. Virtuosen der Selbstthematisierung sind in besonderer Weise geschult, über sich selbst nachzudenken, sich zu beobachten und auf das eigene Selbst zu achten, das eigene Leben kontinuierlich zu thematisieren; Personen also, die in der Lage sein sollten, auch im sozialwissenschaftlichen Interview eine komplexe Selbstpräsentation bzw. -darstellung zu liefern. Die Hintergrundthese der folgenden Ausführungen ist, dass die Intensivierung einer Kultur der Selbstthematisierung ein solches Virtuosentum gefördert hat. In diesem Beitrag geht es darum, einige Aspekte dieses Virtuosentums mittels biografischer Interviews herauszufinden.
Günter Burkart, Melanie Fröhlich, Marlene Heidel, Vanessa Watkins
Wohl dem der eine Narbe hat. Identifikationen und ihre soziale Konstruktion
Auszug
Keine menschliche Gesellschaft kann völlig unberücksichtigt lassen, dass jedes Individuum eine separate Existenz führt, dass es also niemanden zweimal gleichzeitig gibt. Selbst wenn in einzelnen Momenten Zweifel aufkommen können, wer jemand ist, so ist prinzipiell die Jemeinigkeit des Lebens schwer zu übersehen. Heidegger hat diese Unvertretbarkeit des Selbst mit einigem Pathos an der Jemeinigkeit des Sterbens verankert. Aber das, was er vom Tod schreibt, gilt auch für weniger spektakuläre Momente des Daseins, auch meinen Herzschlag kann niemand für mich übernehmen, mein Zahnschmerz ist nicht deiner, und jeder meiner Augenblicke ist ein Blick meiner Augen, selbst wenn du - gleichzeitig an gleicher Stelle stehend — dasselbe sähest.1
Alois Hahn
Backmatter
Metadaten
Titel
Die Ausweitung der Bekenntniskultur — neue Formen der Selbstthematisierung?
herausgegeben von
Günter Burkart
Copyright-Jahr
2006
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-90288-3
Print ISBN
978-3-531-14759-8
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-90288-3

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