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2010 | Buch

Handbuch Medienethik

herausgegeben von: Christian Schicha, Carsten Brosda

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Einleitung

Einleitung

In der britischen BBC-Serie

The Thick Of It

, wendet sich der Minister in einer Szene an seine Pressesprecherin, die Bedenken in Hinblick auf eine geplante öffentliche Aktion äußert: „I love doing things the right way, that ethical stuff. I love it, we all do. But it's very difficult when you're the first person to put your gun down because people tend to jump on your head as if it's a ripe watermelon. We don't want that.“

Carsten Brosda, Christian Schicha

Begründungen der Medienethik

Frontmatter
Philosophische Ethik

Die Medienethik als Form der angewandten Moralphilosophie leistet einen systematischen Beitrag zur Suche nach einem angemessenen Umgang mit der Fülle unterschiedlicher medialer Angebote und Formate. Der Ruf nach einer Medienethik wird meist dann laut, wenn vermeintlich dramatische Verfehlungen im Medienbereich für öffentliche Empörung sorgen. Die Aufgabe einer Medienethik besteht jedoch nicht primär darin, den ‚moralischen Zeigefinger‘ bei ethisch fragwürdiger Berichterstattung anhand von skandalträchtigen Einzelfällen zu erheben. Sie soll vielmehr als Steuerungs- und Reflexionsinstanz die normativen Begründungswege im Umgang mit medialen Ausprägungen, Inhalten und Rezeptionsweisen analysieren. Dabei greift sie auf die Instrumentarien der philosophischen Ethik zurück, auf die im Folgenden Bezug genommen wird.

Christian Schicha
Individualethische Ansätze

Journalisten erfüllen für die demokratische Gesellschaft essentielle Aufgaben: Sie recherchieren, selektieren, bearbeiten und veröffentlichen Nachrichten. Sie moderieren das ‚Zeitgespräch der Gesellschaft‘ und wirken durch interpretierende und kommentierende Beiträge an der Meinungsbildung mit. Darüber hinaus tragen sie wesentlich zu Integration, Rekreation und gesellschaftlicher Orientierung bei. Dieser gesellschaftliche Auftrag bedeutet, dass eine Demokratie nicht funktionieren kann, wenn ihre Bürger nicht über ein leistungsfähiges System zur Information, Meinungsbildung und öffentlichen Diskussion über Gegenstände gemeinsamen Interesses verfügen. Die Presse- und Mediengesetze der Länder sprechen hier von einer ‚öffentlichen Aufgabe‘.

Walter Hömberg, Christian Klenk
Konstruktivismus

Es gibt – soviel lässt sich aller erkenntnistheoretisch informierten Skepsis zum Trotz mit Gewissheit sagen – nicht

den

Konstruktivismus, sondern nur Varianten des Konstruktivismus, die bei aller Unterschiedlichkeit dann aber doch noch als solche erkennbar sind. Daher muss eine Einführung in das konstruktivistische Denken und eine Auseinandersetzung mit konstruktivistischen Begründungen der Medienethik notwendig aus einer doppelten Perspektive geschehen, gilt es doch einerseits

Gemeinsamkeiten

herauszuarbeiten, andererseits aber

Unterschiede

deutlich werden zu lassen. Die erste, die zentrale Gemeinsamkeit: Das konstruktivistische Kernproblem, nämlich die prozessual verstandene Entstehung von Wirklichkeit, zu beobachten und herauszuarbeiten, ist in groben Zügen identisch. Die Unterschiede werden deutlich, sobald man genauer betrachtet, wer mit welchen Begriffen und auf welcher disziplinären Grundlage dieses Kernproblem untersucht (vgl. einführend Pörksen 2002a und 2006). Hier zeigen sich die Differenzen. So haben

philosophisch belesene Konstruktivisten

eine Art Ahnengalerie erarbeitet, die sie bis zu den Skeptikern ins vorchristliche Jahrhundert zurückführt; schon zu diesem Zeitpunkt wird prinzipiell argumentiert, man könne doch als Wahrnehmender nicht hinter seine Wahrnehmungen zurück, könne nicht aus sich heraustreten, um das eigene Wahrnehmungsprodukt mit der noch von möglichen Verzerrungen unberührten Entität zu vergleichen. Ein Bild von einer menschenunabhängigen Realität ließe sich demnach gar nicht machen. Alles, was sich sagen lässt, sei von den eigenen Wahrnehmungs- und Begriffsfunktionen bestimmt; ein emphatisch verstandener Falsifikationstest müsse schon aus diesen Gründen scheitern. Die

psychologische Begründung des Konstruktivismus

geht auf den französischen Lerntheoretiker Jean Piaget, aber vor allem auf die Palo-Alto-Schule zurück, die sich um Therapeuten wie Don D. Jackson und Paul Watzlawick formiert hat und sich u. a. auf die Arbeiten des Anthropologen Gregory Bateson bezieht. Die Vertreter dieser therapeutisch ausgerichteten Schule teilen mit den konstruktivistischen Theoretikern ein gemeinsames Ziel: die Beobachtung der Konstruktion von Wirklichkeit. Ihr Kernanliegen besteht jedoch darin, dass sie nicht nur beobachten und analytisch rekonstruieren, sondern Leid erzeugende Kommunikationsmuster, Konflikt erzeugende Formen der Interaktion gezielt zu verändern trachten. Zahlreiche Konzepte der Kommunikationstheorie – selbstverständlich mit einem Schwerpunkt im Bereich der Individualkommunikation – resultieren aus den Arbeiten dieser konstruktivistisch und systemisch orientierten Psychologen. Zu nennen sind etwa die so genannten Axiome der Kommunikation, die Entdeckung zirkulärer Kommunikationsmuster, die systematische Orientierung an Deutungen (= Wirklichkeiten zweiter Ordnung im Sinne von Paul Watzlawick) und nicht an Wahrheiten.

Bernhard Pörksen
Systemtheorie

In der Theorie sozialer Systeme werden Ethik und Moral ‚theoriebautechnisch‘ an sekundärer Stelle eingeführt. Damit ist keine Abwertung ihrer Relevanz gemeint, sondern dass funktionale Aspekte den ethischen, moralischen, praktischen Aspekten vorgelagert sind (vgl. Luhmann 2008b: 153ff.), sodass die Systemtheorie selbst keine Ethik entwirft (vgl. Luhmann 2008g: 271). Vielmehr gibt sie die systemischen Bedingungen an, unter denen Moral ihre Geltung hat; sie beobachtet, wie Ethik und Moral in der Gesellschaft kommunikativ gehandhabt werden. Demzufolge kann Ethik, wenn sie systemtheoretisch betrieben wird, Moral nicht begründen, sondern nur die in der Gesellschaft empirisch vorfindbare und praktizierte Moral reflektieren (vgl. ebd.: 272). Man kann an einigen Stellen sogar den Eindruck gewinnen, dass Luhmann geradezu ethik- und moralfeindlich argumentiert, wenn er vor den Gefahren moralischer Kommunikation warnt (vgl. Luhmann 2008f: 266; 2008i: 371) oder den Geltungsbereich von Moral in der Gesellschaft stark relativiert (vgl. Luhmann 2008c: 174; 2008d: 186.).

Armin Scholl
Diskursethik

Kern einer Operationalisierung der Diskursethik als Medien- und Journalismusethik ist die immanente Verknüpfung des diskursiven Handelns in kommunikativer Interaktion mit der Herstellung einer öffentlichen Sphäre, deren demokratisch-normative Idee nicht zuletzt von dieser Diskursivität geprägt ist (vgl. Brosda 2008a). Die deliberative Demokratietheorie rückt die öffentlichen Aufgaben der Verständigung, Orientierung und Teilhabe sowie deren Bezug zur spontan-assoziativen Formierung zivilgesellschaftlicher Netzwerke in den Blick. Als Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates thematisiert sie insbesondere die Spannung zwischen der Faktizität vermachteter Kommunikationsräume und den Geltungsansprüchen kommunikativen Handelns. Sie nimmt die Empirie einer weitgehend massenmedial-systemisch geprägten Öffentlichkeit systematisch zur Kenntnis und kontrastiert sie mit kommunikativen Grundlagen, welche sie wiederum in Form von Handlungsoptionen gleichsam aus dem Innersten der öffentlichen Sphäre heraus als normative Spannung kritisch zur Geltung bringt (vgl. Habermas 1992; Peters 2007). Öffentlichkeit und Diskurs sind im Rahmen eines solchen Demokratiemodells zwei eng auf einander bezogene Konzepte: Öffentlichkeit gewährleistet durch den von ihr bereitgestellten Kommunikationsraum die Rationalität moderner Lebenswelten und schließt diese kommunikativ an die ausdifferenzierten Subsysteme an. Sie erfüllt einerseits eine Transmissionsfunktion zwischen Lebenswelt und System, ist aber andererseits an Lebenswelt, Kommunikativität und Diskursivität rückgekoppelt. Im öffentlichen Austausch generieren kommunikativ Handelnde – anders als strategische Akteure, die einander als Objekte betrachten – mit ihren gemeinsam ausgehandelten Deutungs- und Bedeutungsangeboten einen gemeinsamen sozialen Raum. Die Entwicklung von Solidarität und Vertrauen als Grundlagen der Öffentlichkeit ist damit der kommunikativen Interaktion immanent (vgl. Loretan 1996: 43).

Carsten Brosda
Theologische Perspektiven

Den Nobelpreis hat John Updike zu Lebzeiten nicht bekommen, aber er hat mit dem Roman

Gott und die Wilmots

zum Ende des 2. Jahrtausends buchstäblich ein Jahrhundertwerk geschaffen, das sich unterhalb der Ebene der erzählten Figuren mit dem Entstehen und den Ambivalenzen populärer Kultur befasst (Updike 1999). Im sezierenden Auge des Moralisten Updike sind die Medien die Ersatzreligion, die vorspiegelt, die verloren gegangene Geborgenheit der Existenz für einen Augenblick zu ersetzen.

Johanna Haberer, Roland Rosenstock
Cultural Studies

Die medienethische Dimension der Cultural Studies speist sich vor allem aus zwei Quellen. Zum einen entstand das Konzept kritischer Kulturstudien im Kontext der englischen Arbeiterbewegung, genauer: im Kontext von Bemühungen, über die Dimension der Erwachsenenbildung den Prozess der Emanzipation voranzutreiben und so konkrete politische Arbeit zu leisten. Damit stehen die Anfänge der Cultural Studies in der klassischen Tradition der Aufklärung, die in der Bildung und in der Befähigung, sich des „eigenen Verstandes zu bedienen“ (Immanuel Kant), eine wichtige Möglichkeit des selbstbestimmten Lebens jenseits irrationaler gesellschaftlicher Zwänge erblickte.

Andreas Dörner
Empirische Perspektiven

Es ist Konsens in den meisten gängigen Darstellungen der Ethik (vgl. z. B. Quante 2003: 121-123), dass spätestens seit David Hume die Moralphilosophie vor einem Problem und zugleich einer Entlastung steht: Sie steht vor dem Problem, dass aus

Seins

sätzen, also dem, was wir empirische Aussagen nennen, logisch keine

Sollens

sätze, also normativen Aussagen, wie sie eine Moralphilosophie formulieren sollte, folgen. Dieses Problem ist aber zugleich eine Entlastung: Denn wenn empirische Aussagen logisch keinen argumentativen Beitrag zur Formulierung normativer Sätze leisten können, dann muss sich die Ethik auch nicht der Empirie als „Verfahren“ (vgl. Krotz 2005) der Erkenntnisgewinnung bedienen. Obwohl „Humes Gesetz“, aus Seinsaussagen können logisch stringent keine Sollensaussagen gefolgert werden, grundsätzlich richtig ist, gibt es dennoch eine empirische Perspektive der Ethik, vor allem der angewandten Ethik, wie sie die Medienethik eine darstellt. Es ist die Zielrichtung dieses Beitrags, diese empirische Perspektive für eine medienethische Argumentation zu umreißen.

Matthias Rath

Institutionen der Medienethik

Frontmatter
Redaktion

Wer wissenschaftliche Analysen und praktische Anleitungen zur journalistischen Ethik im deutschsprachigen Raum nach der Relevanz der Redaktion als Institution der Medienethik durchsucht, der wird nur punktuell oder mit einigem Interpretationswillen fündig. Reflexionen von Verantwortung im Journalismus thematisieren in der Regel vier Bereiche: das Individuum Journalist, die Profession aller Journalisten, das Publikum und das sozialen System Journalismus bzw. Massenkommunikation mit all seinen komplexen Zusammenhängen und strukturellen Möglichkeiten und Grenzen – inklusive einer Organisations- oder Unternehmensethik.

Klaus Meier
Selbstkontrolle

Die Medien-Selbstkontrolle existiert in der Bundesrepublik aufgrund des Prinzips der Staatsferne und der verfassungsrechtlich garantierten Medienfreiheiten (nach § 5 GG). Diese gewähren den Medien wegen ihrer besonderen Funktionen für die Demokratie und Öffentlichkeit die autonome Regelung ihrer Kontrolle.

Selbstkontrolle

impliziert, anders als die

Fremdkontrolle

(durch Gesetzesgrundlagen oder staatliche Behörden), die Aspekte

Freiheit, Anerkennung

durch die Kontrollierten sowie eine primär „

symbolische“ Kontrolle

. Aufgrund der besonderen Macht der Medien ist es das Ziel der Selbstkontrolle, die Medienfreiheiten

verantwortlich im gesellschaftlichen Interesse

zu nutzen.

Ingrid Stapf
Deutscher Presserat

Schon von Beginn an war der Deutsche Presserat ein eher schwerfälliges Gremium. So lässt sich bereits seine Gründung vor allem als eine verspätete Reaktion auf den autoritären Stil interpretieren, mit dem die Regierung Adenauer – im Rahmen einer insgesamt restaurativen Kulturpolitik (vgl. Lattmann 1983) – auch ihre Medienpolitik betrieb. Die Zielstrebigkeit der Adenauer-Administration zeigte sich zunächst in dem Versuch, in den Jahren 1951/52 ein repressives Bundespressegesetz zu schaffen, das die Pressefreiheit geradezu mit einer „Flut von Beschränkungen“ (Frei 1988: 82) überziehen wollte und so genannte ‚Presseausschüsse‘ als staatliche Kontrollinstanzen für die junge demokratische Presse vorsah. Zutreffend verurteilt Norbert Frei (1988: 90) diesen – am Ende gescheiterten – Vorstoß als das Ansinnen, eine „Rechtsgrundlage für Zeitungsverbote“ zu schaffen.

Achim Baum
Medienunternehmung

In einer idealen Welt wäre Unternehmensethik so gut wie überflüssig: Eine ethisch fundierte Rahmenordnung würde (global gültige) Regeln festlegen, an die sich alle Unternehmen hielten; ein effizientes Anreizsystem (Strafen, Steuern, Gesetze etc.) würde Konsum, Investment und Arbeit regeln, der Markt wäre vollständig transparent und durch nahezu perfekte Konkurrenz charakterisiert, die Egoismen der Marktteilnehmer in Gemeinwohl transformiert und Handlungsspielräume würden durch verantwortungsvolle und vernünftige Aktanten im Sinne des ‚bonum commune‘ genutzt. „The business of business is business“, schlussfolgert vor diesem Hintergrund dann stilbildend auch der Ökonom Milton Friedman (1970 [1997]: 287) und schreibt weiter: „[…] there is one and only one social responsibility of business – to use its resources and engage in activities designed to increase its profits so long as it stays within the rules of the game, which is to say, engages in open and free competition without deception or fraud“. Das klingt plausibel. Nur: In dieser Welt leben wir nicht.

Matthias Karmasin
Publikum

Die ‚Abnehmer‘ von Medienprodukten – obwohl sie deren Adressaten und ‚Zielgruppen‘ sind – kommen bei der Aufzählung medienethischer Fragestellungen üblicherweise kaum in den Blick. Man bezieht sich schnell auf die journalistische Berufsethik. Sie ist (in Verhaltenskodizes) vergleichsweise klarer ausformuliert. Die Berufspraxis der Journalisten und anderer Kommunikationsberufe ist zudem durch Mediengesetze normiert. Für das Publikum dagegen gibt es kaum ethische Handlungsorientierungen, und rechtliche Regelungen ebenso wenig – wenn man vom Jugendschutz absieht.

Rüdiger Funiok
Zivilgesellschaft und Stiftung Medientest

In den demokratischen Gesellschaften von heute sind die Medien entweder privatwirtschaftlich organisiert wie in Deutschland die Zeitungen, oder sie werden vom Staat unterhalten und garantiert, dann aber zum Teil staatsfern wie hierzulande der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Damit stehen Staat und Wirtschaft aber immer in einer doppelten Beziehung zu den Medien: Sie sind auf vielfältige Weise an der Arbeit und den Organisationsformen der Medien beteiligt und kontrollieren, beeinflussen und benutzen sie. Andererseits bedrohen sie die Medien in ihrer Funktionserfüllung für die Demokratie aber auch, weil sie sie für ihre Interessen und Zielsetzungen zu instrumentalisieren versuchen.

Friedrich Krotz

Anwendungsfelder der Medienethik

Frontmatter
Journalismus

Über die Ethik journalistischen Handelns gibt es nicht erst in unseren Tagen unterschiedliche Ansichten. Vielmehr sind beispielsweise Fragen der vermeintlichen ‚Objektivität‘ journalistischer Berichterstattung und der Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen seit je her Gegenstand kontroverser Erörterungen. Exemplarisch lässt sich das in einem Disput zwischen Egon Erwin Kisch und Kurt Tucholsky nachlesen.

Carsten Brosda
Public Relations

Im Kontext der Medienethik zählt das Feld der öffentlichen Kommunikation zu den wesentlichen Betrachtungsfeldern. Hier sind der Journalismus und die Public Relations (PR) die beiden wesentlichen Handlungsbereiche. Sie gehören daher auch zum Kern der wissenschaftlichen Beobachtung in den Medien- und Kommunikationswissenschaften. Folgt man der Einteilung Funioks (2007: 14-17), so geht es hier um das Berufsethos der Medienschaffenden – aber auch um die Unternehmensethik der Medienunternehmen. Die Ethik der PR verlässt sogar das Feld der medienethischen Beobachtung im engeren Sinn, da praktisch jedes Unternehmen auch im öffentlichen Raum agiert und PR-Maßnahmen durchführt. Damit gehen PR auch zum Feld der übergreifenden Wirtschafts- und Unternehmensethik.

Lars Rademacher
Werbung

Güter, die im Überfluss vorhanden sind, gehören nicht zum Gegenstandsbereich der Wirtschaft. Erst dort, wo Güter knapp oder von Knappheit bedroht sind, entstehen wirtschaftliche Prozesse. Für die Wirtschaft spielt die Werbung, die über solche knappen Produkte informieren will, eine zentrale Rolle. Ziel der Werbung ist es, mit Hilfe von Massenmedien Produktinformationen zu verbreiten, um möglichst viele Güter zu verkaufen und hohe Gewinne zu erzielen. Damit Unternehmen Märkte beeinflussen und den Absatz fördern können, sind sie auf grundlegende Marketinginstrumente angewiesen (vgl. Göbel 1999: 648f.). Vier absatzpolitische Instrumente werden innerhalb der Marketingtheorie unterschieden, die im so genannten Marketing-Mix zusammengefasst werden: Produktpolitik, Distributionspolitik, Entgeltpolitik und schließlich Kommunikationspolitik (vgl. Schweiger/Schrattenecker 1992: 23f.). Mit Hilfe der

Kommunikationspolitik

wird der Markt mit allen erforderlichen Informationen über das Produkt versorgt, wobei persönlicher Verkauf, Verkaufsförderung (Sales Promotion), Öffentlichkeitsarbeit (Public Relations) und

Werbung

zu den klassischen Kommunikationsinstrumenten der Werbewirtschaft gehören. Alternative Werbeformen, die insbesondere in den letzten Jahren zugenommen haben, sind etwa Product Placement und Sponsoring.

Thomas Bohrmann
Bildethik

„Das riesige Bildmaterial, das tagtäglich von den Druckerpressen ausgespien wird und das doch den Charakter der Wahrheit zu haben scheint, dient in Wirklichkeit nur der Verdunkelung der Tatbestände. Der Photographenapparat kann ebenso lügen wie die Schreibmaschine“, schrieb der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht 1931. Auch noch über 70 Jahre später scheint dieses bildreflexive Zitat die Herausforderungen der visuellen Kommunikation trefflich zu beschreiben. Bilder, insbesondere medial verbreitete, haben – das ist unstrittig – seit den 1930er Jahren nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ ihre Vormachtstellung im Rahmen der Massenkommunikation deutlich ausgebaut. Dieser Entwicklung trägt nicht zuletzt der von Mitchell geprägte Begriff des „pictorial turn“ Rechnung, mit dem er die Ablösung der Schrift als bestimmendes Medium durch das Bild bezeichnet. (Mitchell 1994: 11-34) Sowohl die beschriebene Bilderflut als auch ihr steigender Einfluss in der täglichen Massenkommunikation begründen mehr denn je die Notwendigkeit einer Ethik der visuellen Kommunikation. Und zwar vor allem, weil sich trotz der gesteigerten Bedeutung von Bildern keine Zunahme einer allgemeinen Bildkompetenz in der Gesellschaft attestieren lässt. (vgl. Knieper 2006: 29-39; Knieper 2005a: 56-70; Knieper, 2005b: 83-92) Grundsätzlich fügt sich eine derartige Bildethik in die allgemeine Medienethik ein, muss sich aber auch ganz eigenen Herausforderungen stellen.

Holger Isermann, Thomas Knieper
New Media Ethics

The meaning of the term “new media” is historically variable because the novelty of a medium obviously decreases with time and its diffusion. The process of societal diffusion and routinization of technology has been widely observed and analyzed (see, for instance, Rogers 1962; Braun 1988; Rammert/Bechmann 1997). Communication media are no exception to this; rather they represent the self-referential core of this process since the diffusion and adoption of technical innovations rely on communication processes. Indeed, every new medium is usually its own best ambassador, be it book, radio, TV, or Internet.

Bernhard Debatin

Spannungsfelder der Medienethik

Frontmatter
Ethik und Profit

Der entfesselte Marktkapitalismus kannte eigentlich nur eine Moral: Möglichst viel Profit erwirtschaften und das egal wie: Löhne senken, Jobs auslagern, Umweltprobleme ignorieren und hohe Risiken bei Geldgeschäften eingehen – all dies schien durch das Versprechen gerechtfertigt, dass auf diese Weise der Wohlstand einer Gesellschaft am besten vermehrt werden könnte. Der Zusammenbruch des Weltfinanzsystems im Herbst 2008 zeigte jedoch, dass es gefährlich ist, wenn sich Teile der Wirtschaft weitgehend verselbstständigen und nicht mehr an die anderen Bereiche der Gesellschaft angekoppelt sind. Letztendlich schadet sich das Wirtschaftssystem dann selbst und kann nur unter enormen Kosten vor Stillstand und totalem Zusammenbruch bewahrt werden.

Klaus-Dieter Altmeppen, Klaus Arnold
Ethik und Qualität

Die als „Qualitätsdiskurs“ (Arnold 2009: 80) geführte Debatte über Ansprüche, Leistungsvermögen und Produktionsbedingungen journalistischer Medien ist von vergleichsweise kurzer Dauer. In Gang kam sie in der Folge der 1983 mit der Deregulierung im Markt etablierten werbefinanzierten Fernsehprogramme privater Rundfunkproduzenten, die mit Gewaltdarstellungen, softpornografischen Darbietungen und neuen Reality-Formaten um Marktanteile buhlten; munitioniert wurde die Debatte durch mehrere als skandalös empfundene Fehlleistungen verschiedener Printmedien, deren bekannteste die so genannten Hitler-Tagebücher waren, eine plumpe Fälschung, die das Magazin Stern 1983 als vermeintlichen Jahrhundert-Scoop veröffentlichte; dann die so genannte Barschel-Affäre, ausgelöst von einem Stern-Reporter, der 1987 den toten Barschel in der Badewanne eines Hotelzimmers in Genf fotografierte; im Folgejahr voyeuristische Bilder vom Grubenunglück in Borken sowie das ‚Geiseldrama von Gladbeck’, als sich ein Journalisten-Tross den kriminellen Entführern andiente, um exklusive Bildberichte zu ergattern (vgl. Ruß-Mohl/Seewald 1992: 23ff.).

Michael Haller
Ethik und Recht

Recht lässt sich – wie Ethik – als Steuerungsinstrument für individuelles Handeln und die Entwicklung gesellschaftlicher Systeme begreifen. Mit der Rechtsordnung schafft und erhält der Staat ein System von Regeln, deren Einhaltung er grundsätzlich überwacht und notfalls gewaltsam durchsetzt. Für die Medien und die in ihnen tätigen Personen ist das Recht in diesem Sinne von doppelter Relevanz: Zum einen setzt es der Handlungsfreiheit im Allgemeinen und der Kommunikations- und Medienfreiheit im Besonderen Grenzen, die dem Schutz der Allgemeinheit oder individueller Rechtsgüter dienen. Gesetzliche Schranken begrenzen die Medienfreiheit z.B. zum Schutz der äuÜeren Sicherheit oder des inneren Friedens sowie zum Schutz der Ehre oder des geistigen Eigentums.

Udo Branahl

Beispiele medienethischer Grenzbereiche

Frontmatter
Medienskandale

Medien haben im Rahmen ihrer Kontroll- und Kritikfunktion die Aufgabe, gesellschaftlich relevante Skandale aufzudecken und öffentlich zu machen. Der investigative Journalismus hat hier wichtige Arbeit geleistet. So wurde u.a. die Watergate-Affäre 1973-1974 in den USA durch die Recherche der

Washington Post

-Journalisten Bob Woodward und Carl Bernstein ans Licht gebracht, die dazu geführt hat, dass der damalige amerikanische Präsident Richard Nixon zurücktreten musste. Neben Umwelt-, Wirtschafts- und Sportskandalen standen auch in Deutschland in den letzten Jahren zahlreiche politische Skandale im Mittelpunkt des Interesses, die von renommierten Journalisten wie Hans Leyendecker von der

Süddeutschen Zeitung

ans Licht der Öffentlichkeit gebracht werden konnten (vgl. Kamps 2007, Ramge 2003, Hafner/Jacoby 1994a und b). Das Aufspüren von derartigen Missständen ist für freie Gemeinschaften von zentraler Bedeutung. Denn faktisch gilt: „Wo Skandale fehlen, ist etwas faul.“ (Schütze 1985) Nur in den Gesellschaften, in denen Pressefreiheit herrscht und in denen Journalisten die Möglichkeit besitzen, frei und ohne politischen Druck zu recherchieren, um Missstände und Skandale transparent zu machen, kann eine Demokratie funktionieren. Gleichwohl sind Skandale „[…] keine vorgegebenen Sachverhalte, die man aufdecken und berichten kann, sondern die Folge der öffentlichen Kommunikation über Missstände“ (Kepplinger 2005: 63). Der Maßstab zur Beurteilung von Skandalen wandelt sich also im Laufe der Zeit und ist stets von den gängigen Norm- und Wertmaßstäben der entsprechenden Gemeinschaft abhängig.

Christian Schicha
Tod und Sterben

Der Tod gilt in der heutigen Gesellschaft als persönlich. Gleichzeitig erhält das Tabuthema Tod in der Mediengesellschaft ein (neues), öffentliches Gesicht: Allgegenwärtig waren Bilder des aufgebahrten Papstes Johannes Paul II.; von Millionen verfolgt wurde das Sterben der amerikanischen Komapatientin Terri Schiavo; durch alle Medien gingen Bilder von Opfern der Tsunami-Katastrophe und des Irak-Krieges. Gelten Sterben und Tod einerseits als Teil der Privatsphäre und würdiges Sterben als Menschenrecht, so stellt sich andererseits die Frage, wann Bilder von Sterben und Tod überhaupt öffentlich sind, es sein sollten und in welcher Form.

Ingrid Stapf
Zensur und Nicht-Öffentlichkeit

Massenmedien ermöglichen nicht nur die grundgesetzlich zugesicherte Informationsfreiheit, sondern können auch Inhalte transportieren, die gegen Gesetze, Moralvorstellungen und Jugendschutzbestimmungen verstoßen. Jedes neue Medium gilt bei seiner Einführung als potenziell gefährlich für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, stellt es doch die erprobten Kontrollmechanismen in Frage. Rechtsfreie Räume sollen verhindert werden, möglichst ohne die alten Mittel der Zensur (Kürzen, Entfernen, Zerstören, Verbieten, Wegschließen, Unterbinden etc.) einzusetzen.

Roland Seim
Mediale Gewaltdarstellungen

Die Präsentation von Gewalt durch Medien ist ein gesellschaftliches Phänomen, das in unterschiedlichen Kulturepochen der Menschheit nachgewiesen werden kann (vgl. Kunczik 1993: 108-113). Aber erst in der Mediengesellschaft, die sich gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Hilfe technischer Innovationen allmählich ausbreitet, nimmt die Präsentation gewalthaltiger Inhalte zu. In der gegenwärtigen, durch die Medien geprägten Gesellschaft gibt es eine Fülle von Einzelmedien (Zeitung, Buch, Comic, Film, Computerspiel etc.), die mitunter auch Gewalt auf der Wort-und Bildebene darstellen und damit bewusst die Rezipienten anzusprechen versuchen: Erfolgreiche Kinofilme thematisieren Gewalt auf unterschiedlichen Ebenen und sind zumeist einem gewalthaltigen Genre zuzuordnen (etwa Action-, Science-Fiction-, Horror- und Fantasyfilm). In jedem Fernsehkrimi am Abend wird ein Gewaltverbrechen aufgeklärt. Politische Gewalt in Form von Kriegen, Bürgerkriegen und Attentaten ist Gegenstand von Nachrichtensendungen, politischen Magazinen, Dokumentationen und Sondersendungen. Beliebte Computerspiele, bei denen sich die Spieler mit den Figuren identifizieren und somit die Perspektive des gewalttätigen Charakters einnehmen können (Ego-Shooter), enthalten ganze Sequenzen von Tötungsakten. Und selbst in scheinbar harmlosen Kinder- und Jugendbüchern spielt Gewalt keine untergeordnete Rolle, wenn man nicht nur an die klassischen Märchen denkt, sondern vor allem auch an zeitgenössische, populäre Romane für eine junge Leserschaft (z.B. Harry Potter).

Thomas Bohrmann
Horrorfilm

Ein junger Mann erwacht aus seiner Ohnmacht. An seinem Hals befestigt ist eine aufgeklappte Maske mit nach innen gerichteten Nägeln, vergleichbar einer ‚Eisernen Jungfrau‘ oder, wie es im Film heißt, einer geöffneten Venus-Fliegenfalle. Die Maske ist mit einem Zeitmechanismus versehen. Um ihn abzuschalten und zu verhindern, dass die Falle nach dem Ablauf einer Minute zuschnappt, muss der junge Mann eine schwierige Entscheidung treffen: Der Schlüssel zur Apparatur wurde ihm operativ hinter das rechte Auge eingepflanzt. Wird er mit dem beiliegenden Skalpell sein Auge herausschneiden, um zu dem Schlüssel zu gelangen und sein Leben zu retten? „How much blood will you shed to stay alive, Michael? Live or die – make your choice.“ So formuliert es sein Peiniger. Er wird es nicht tun: Mehrfach setzt er an und kann sich doch nicht zu dem schmerzhaften Schritt durchringen. Von unserem Kinosessel aus verfolgen wir seine Verzweiflung und sehen zu, wie sich die Maske schlagartig schließt und sein Leben beendet. Es handelt sich um eine Szene aus dem Film

Saw II

(USA 2005, Regie: Darren Lynn Bousman).

Peter Riedel
Real Life Formate

Fernsehsendungen geraten immer wieder in den Fokus moralischer Debatten und bilden Objekte, an denen Wertediskussionen geführt werden. Seit der Einführung des dualen Rundfunksystems Mitte der 1980er Jahre in Deutschland und der durch die Zulassung von privat-kommerziellen Fernsehveranstaltern eingetretenen Vervielfachung und Ausdifferenzierung von Fernsehsendern haben diese Debatten zugenommen. In der Vielfalt der Sender und Programme muss um die Aufmerksamkeit des Publikums gebuhlt werden – und Aufmerksamkeit lässt sich immer noch durch einen kalkulierten Tabubruch erzielen. Skandale, ob kalkuliert oder nicht, hat es in der Geschichte des Fernsehens – auch des öffentlich-rechtlichen – reichlich gegeben (vgl. die Beiträge in Gerhards/Borg/Lambert 2005 und in Tenscher/Schicha 2002). Der kalkulierte Tabubruch ist umso erfolgreicher, je mehr er auf die mit Ängsten verbundenen moralischen Fallen baut, in die das Publikum, zu dem auch Journalisten, Politiker und Vertreter der Medienaufsicht gehören, tappen kann.

Lothar Mikos
Kriegsberichterstattung

Die Berichterstattung in den Massenmedien prägt das Bild vom Krieg in der Öffentlichkeit. Der Irak-Krieg 1991 erschien auf TV-Bildschirmen rund um die Welt als ein buntes Leuchtfeuer über Bagdad. Der Irak-Krieg 2003 präsentierte sich als Mosaik von Reporter-Bildern: Journalisten auf Panzern und in Schützengräben, Seite an Seite mit Soldaten. Kriege sind zu globalen Medienereignissen geworden. Für den Journalismus hat das gravierende Konsequenzen: Wie kann er seinem gesellschaftlichen Informationsauftrag gerecht werden, wenn Information im Krieg immer auch ein militärischer Faktor ist? Der folgende Aufsatz skizziert, wie Medienethik helfen kann, diese Frage zu beantworten.

Nadine Bilke
Sportjournalismus

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Entwicklung des (Leistungs-)Sports eng mit den Medien verbunden, zunächst mit der Presse und seit den 1950er-Jahren mit dem Fernsehen. Zugleich sind Sport und Medien in die gesellschaftliche Entwicklung eingebunden. Das Leistungsprinzip und die Normierung menschlicher Tätigkeiten, die kennzeichnend für die moderne Industriegesellschaft sind, stehen auch im Mittelpunkt sportlicher Aktivitäten. Allerdings ist hier nicht von einer einfachen Entsprechung zwischen Leistung im Sport und Leistung im Arbeitsprozess auszugehen, sondern mit der Entwicklung der Gesellschaft und den dadurch bedingten Veränderungen der Lebenszusammenhänge der Menschen haben auch Veränderungen in der Struktur des Sports stattgefunden (vgl. Rowe 1999: 13ff.). Die Industriegesellschaft fand ihren sportlichen Ausdruck am deutlichsten in den Olympischen Spielen, die das Leistungsprinzip zum olympischen Prinzip erhoben und mit dem olympischen Gedanken die Integration der Gemeinschaft von Leistenden propagierten. Die Entwicklung im 20. Jahrhundert hat diese „simple Idee“ (Real 1998) im Zuge der Professionalisierung des Sports an Bedeutung verlieren lassen. In der post-oder spätmodernen Gesellschaft, auch als reflexive Moderne bezeichnet (vgl. Beck/Giddens/Lash 1996), mit der Pluralisierung von Lebensformen und der Durchdringung von Alltag und Medien ist eine Entwicklung von der Professionalisierung zur Kommerzialisierung des Sports zu verzeichnen, die globale Züge trägt (vgl. Maguire 1999; Miller 2007; Miller u.a. 2001). Dabei spielen gerade die Medien eine bedeutsame Rolle, sind sie es doch, die den profitorientierten Institutionen (Sportartikelindustrie, Mannschaften, Verbänden, Werbeindustrie usw.) eine möglichst große Zahl von Konsumenten sichern. In diesem Sinn ist es angemessen, vom Sport/Medien-Komplex (vgl. Jhally 1989) zu sprechen, denn es ist „nahezu unmöglich […], Sport und Medien voneinander zu trennen“ (Schwier 2000: 96).

Lothar Mikos

Länderperspektiven der Medienethik

Frontmatter
Vereinigte Staaten von Amerika

Die journalistische Ethik hat sich ursprünglich in den USA entwickelt. Dort wurde 1859 das erste medienkritische Buch veröffentlicht (vgl. Rivers/Schramm/Christians. 1980: 2). Die erste systematische Medienkritik begann 1911 in einer Artikelserie

Will Irvins

über Nachrichtenmanipulationen im

Collier’s Weekly

. Mittlerweile ist die Medienethik zum relevanten Zweig der Medienwissenschaften mit eigenen Verbänden und eigener Zeitschrift (

Journal of Mass Media Ethics

) avanciert (vgl. Thomaß 1998: 41).

Ingrid Stapf
Frankreich

Théophraste Renaudot gilt als der Nestor der französischen Publizistik. In zahlreichen Publikationen werden Talente und Verdienste des Arztes, Politikers und Publizisten, des Herausgebers der ersten kontinuierlich erscheinenden Wochenschrift auf französischem Boden (

La Gazette

-1631) gewürdigt (vgl. Albert 2004; Saada 2008). Mit zahlreichen Veränderungen in Herausgeberschaft und publizistischer Orientierung überlebte die Zeitung bis 1915. Mit dem

Journal de Paris

erscheint die erste Tageszeitung in Frankreich 1777, ein Jahr nach der Unabhängigkeitserklärung der britischen Kolonien in Nordamerika und 12 Jahre vor dem Ende des Ancien Régime. 1789 wird mit der

Déclaration des droits de l’homme et du citoyen

(Artikel 11) ein neues Prinzip der Pressefreiheit definiert (vgl. Albert 2004: 184). Die Pressefreiheit kommt expressis verbis nicht vor, sondern wird später als Spezialfall der Meinungsfreiheit interpretiert oder gar als verfassungsrechtliches Freiheitsdefizit (vgl. Bourgeois 1999: 423) klassifiziert. Als wichtigste Gesetzesgrundlage für die Presse wird das Gesetz vom 29. Juli 1881 angesehen. Dieses „als unzerstörbares ‚Monument‘ geltende Gesetz“ (Miége 2004/2005: 304), das inzwischen durch zahlreiche Novellierungen (Modifikationen, Ergänzungen) zu einem kaum mehr lesbaren Dokument aufgebläht wurde, konnte in der gesellschaftlichen Entwicklung Frankreichs, wie Miége schreibt, „nicht immer ohne weiteres auf die zahlreichen politischen und wirtschaftlichen Interessenkonflikte reagieren“ (ebd.).

Stefanie Averbeck-Lietz, Gerhard Piskol
Österreich

In der ersten Dekade des neuen Jahrtausends scheint es Jahr für Jahr notwendiger zu werden, sich mit Medienethik in Österreich auseinanderzusetzen; und dies ist durchaus zweideutig gemeint. Einerseits verlangen die journalistischen Praktiken um das ‚neue Leben‘ der Natascha Kampusch oder den Inzestfall von Amstetten nach ethischer Reflexion. Auf der anderen Seite steht die Renaissance des 2002 abgeschafften Presserates als Organ der Selbstkontrolle an. „Österreich ist anders“ schreibt in diesem Sinne das kritische Magazin

Falter

. Der österreichische Medienmarkt wird bestimmt von der überschaubaren Landesgröße, der Radio- und Fernsehmarkt war bis vor wenigen Jahren in den Händen eines Monopolisten, länger als in den europäischen Nachbarländern, die ehemaligen Ostblock-Staaten mit eingerechnet, und ist noch heute eine primär staatliche Angelegenheit. Der Printmedienmarkt ist im Vergleich zu kontinuierlichen Leser- und damit Auflagenverlusten in anderen Ländern stabil und hochkonzentriert, „verschärft“ durch den Befund, „dass die vergleichsweise wenigen Titel von noch deutlich weniger Eigentümergruppen ‚beherrscht‘ werden, so dass die strukturellen Voraussetzungen schon für die demokratiepolitisch wesentliche Meinungsvielfalt denkbar schlecht sind“ (Pirker 2007: 13). Die medienethischen Besonderheiten, speziell das Fehlen eines eigenen Selbstkontrollorgans der Medien seit 2002, unterstreichen dieses Bild: Österreich ist anders, was im Folgenden anhand eines Überblicks länderspezifischer Besonderheiten und einer Charakterisierung der Fremd-und Selbstregulierung in Österreich verdeutlicht wird.

Franzisca Weder
Schweiz

Medienethik war in der Schweiz lange kein Thema. Dies hatte seinen Grund darin, dass die überwiegende Mehrzahl der Zeitungen mit politischen Parteien verbunden war und die Redakteure sich daher einem Milieu und einer Wertordnung zugehörig fühlten, die ihnen (auch) ethische Orientierung und Halt gaben. Journalismus richtete sich beispielsweise nach den Maßstäben des Liberalismus, der katholischen Soziallehre oder des Sozialismus aus (Marr u.a. 2001: 280ff.). Außerdem war der öffentliche Diskurs unzimperlicher als heute, die ethischen Grenzen waren weiter gezogen: Man teilte kräftig aus, und im Extremfall endeten Pressefehden vor Gericht oder auf dem Duellplatz (vgl. Blum 1992: 91).

Roger Blum, Marlis Prinzing
Niederlande

Das niederländische Mediensystem lässt sich mit folgenden drei Kernbegriffen charakterisieren: Freiheit der Meinungsäußerung, Vielfalt und Selbstkontrolle. Es ist vor allem die Freiheit der Meinungsäußerung, die in den letzten Jahren zur Diskussion steht. Darf man alles sagen, was man will? Darf man absichtlich und vorsätzlich Menschen beleidigen? Darf man Gruppen von Menschen – Muslime zum Beispiel, aber auch Juden und Christen – in ihren innigsten religiösen Gefühlen verletzen? Wo liegen die Grenzen von Satire und Spott? Daneben werden Debatten über Selbstregulierung, z.B. über die Einführung eines nationalen Medien-Ombudsmanns und über die Notwendigkeit von Selbstreflexion und öffentlicher Verantwortung geführt. Diese Diskussionen finden vor allem innerhalb der Berufsgruppe der Journalisten selber statt. Die medienethische Debatte wird in starkem Maße von neuen Gewohnheiten und Praktiken auf Webseiten und Weblogs geprägt. Die klassischen moralischen Standards von Zurückhaltung und Zuverlässigkeit stehen unter Druck.

Huub Evers
Mittel-, Ost- und Südosteuropa

Wenn Mittel-, Ost- und Südosteuropa als Region in diesem Handbuch Medienethik aufgeführt wird, dann weil davon auszugehen ist, dass die dazugehörigen Länder eine oder mehrere Gemeinsamkeiten aufweisen, die es rechtfertigen, sie gemeinsam in einem Abschnitt zu betrachten. Die bedeutendste Gemeinsamkeit ist mit Gewissheit, dass alle Länder in dieser Region eine sozialistische Vergangenheit haben, dass sie den Wandel ihrer Mediensysteme mehr oder weniger erfolgreich bewältigt haben, mit dem Medien aus ihrer Eingebundenheit in das politische System gelöst wurden und sich als eigenständiges System etabliert haben (vgl. Thomaß/Tzankoff 2001).

Barbara Thomaß
Russland

In der Sowjetunion gab es einen einheitlichen Informationsraum. Der Staat hatte ein Monopol auf Informationen, Meinungen und Ideologie. Dieses Monopol ist mit den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die Gorbatschow mit seiner Politik der ‚Perestroika‘ einleitete, gefallen. In der Russischen Föderation, dem größten der Nachfolgestaaten der Sowjetunion, wurde die Presse in relative Freiheit und Marktwirtschaft entlassen. Doch diese Phase – Sparks (2000: 42) spricht hier von „anarchischer Freiheit“ – währte nicht lange. Die Finanzkrise der 1990er Jahre führte schon sehr bald zu neuen Abhängigkeiten durch Subventionen vom Staat oder Beteiligungen von neuen Finanz- oder Industriegruppen, so genannten Oligarchen (vgl. Kharina-Welke 2004: 567). Konzentrationsprozesse und Monopolisierungen folgten (vgl. ebd.: 567).

Annika Sehl
Backmatter
Metadaten
Titel
Handbuch Medienethik
herausgegeben von
Christian Schicha
Carsten Brosda
Copyright-Jahr
2010
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-92248-5
Print ISBN
978-3-531-15822-8
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-92248-5