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26.05.2015 | Fahrzeugtechnik | Interview | Online-Artikel

"Maximale Spreizung zwischen Performance und Fahrkomfort"

verfasst von: Michael Reichenbach

8:30 Min. Lesedauer

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Das Fahrwerk spielt für Fahrsicherheit und Fahrkomfort auch zukünftig eine große Rolle, sagt Dr. Manfred Harrer von Porsche. Im Interview spricht er über Reifenentwicklung, intelligente Fahrwerkregelsysteme und Performance.

Rollwiderstand reduzieren ist nicht alles, wenn es um die Reifenentwicklung geht. Es kommt auf die Balance vieler Kriterien in der Zielspinne der Reifen an. Adaptive Systeme wie Wankstabilisierung, intelligenter Allradantrieb und Torque Vectoring kommen hinzu. Dr. Manfred Harrer, Leiter Entwicklung Fahrdynamik und Performance bei Porsche, erläutert, wie wichtig der Faktor Mensch ist und warum die Fahrwerktechniker von den Motorenentwicklern bei der Datenverwaltung lernen können. Lesen Sie exklusiv auf Springer für Professionals die Langversion des ATZ-Interviews mit Manfred Harrer.

ATZ _ Herr Dr. Harrer, gerade Porsche muss als Sportwagenbauer große Anstrengungen unternehmen, um die künftigen CO2-Grenzwerte zu erfüllen. Wie lösen Sie den Zielkonflikt bei der Reifenentwicklung auf zwischen geringem Rollwiderstand und möglichst hohem Grip?

Harrer _ Wir begreifen das Bauteil Reifen als mechanisches und wichtigstes Element. Porsche steckt seit Jahrzehnten extrem viel Energie in seine Weiterentwicklung. In der ganzen Branche geben wir, so kann man es sagen, die ambitioniertesten Ziele und Spezifikationen heraus, was auch in unserer Sportwagentradition begründet ist. Wir arbeiten mit allen etablierten Reifenherstellern eng zusammen - mit Michelin haben wir eine besondere Beziehung in einer strategischen Partnerschaft. Die Herausforderung ist nicht nur der Rollwiderstand. Durch die Zielspinne sind andere Merkmale wie Trocken- und Nasshandling sowie Geräusch und Bremsweg-Performance genauso wichtig. Wir können nicht nur UHP-Hochleistungsreifen einsetzen - vielmehr liegt uns an der Balance der Zielspinne für eine hohe Alltagstauglichkeit sehr viel. Im Fahrwerk ist der Reifen der größte Stellhebel, um beim CO2-Thema zu punkten. Zum Beispiel konnten über die zwei Generationen des Cayenne große Fortschritte beim Rollwiderstandsbeiwert für Sommerreifen und All-Season-Reifen innerhalb der letzten 15 Jahre erzielt werden. Im Vergleich dazu werden die Reifen für den Porsche 911, Boxster und Cayman mit einem höheren Grip-Niveau entwickelt und haben daher einen höheren Rollwiderstand.

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Wieso nutzt Porsche überhaupt All-Season-Reifen? Motorsport und optimale Performance verlangen doch sicher nach getrennt optimierten Sommer- und Winterreifen.

Für Frontmotorfahrzeuge wie Cayenne, Macan und Panamera sind wir Komplettanbieter. Das bedeutet, wird haben Sommer- und Winterreifen in verschiedenen Dimensionen vor allem für den europäischen Markt. Zudem bieten wir All-Season-Reifen speziell für die Märkte in den USA und China an. Wir statten die Basis-SUV in dem asiatischen Land zu 100 % mit der Alljahresvariante aus; andere Reifen sind natürlich optional erhältlich. Man kann sagen, dass unsere Kunden global ihre SUV rund zur Hälfte mit All-Season-Reifen ordern, die von der Balance aller Eigenschaften her in der Zielspinne einen guten Kompromiss darstellen.

Könnten Sie dies bitte am Beispiel Macan verdeutlichen?

Dessen All-Season-Gruppe ist im Rollwiderstand per se verglichen mit einem Sommerreifen deutlich besser: Je größer die Reifen mit 20 oder 21 Zoll Durchmesser werden und je performanter die Reifen sind, desto mehr muss sich das Thema Rollwiderstand ein Stück weit dem Grip unterordnen.

Die Fahrwerkentwickler haben immer komplexere Systeme vor sich. Wie vernetzen Sie effizient, wie wichtig ist der Faktor Mensch?

Wir sehen ja schon länger eine Ablösung der hydraulischen durch die elektromechanischen Systeme, zum Beispiel die elektromechanische Lenkung vorne; bei Hybridfahrzeugen ersetzen wir die Vakuumpumpen durch elektromechanische Bremskraftverstärker. Auch im Fahrwerk, nicht nur im Antriebsstrang, ist das Thema bedarfsorientierte Energie ganz groß. Dieses Vorgehen hat aber auch mehr Komplexität in sich, die beherrscht werden muss. Im Markenkern hat Porsche vorgegeben, dass wir beste Fahrdynamik und Lenkpräzision durch hochperformante Fahrwerk-, Lenk- und Allradsysteme realisieren möchten. Unsere Haupttriebfeder ist, die Spreizung zwischen Performance und Fahrkomfort zu maximieren. Wir wollen dabei die Regelsysteme auf ein perfekt arbeitendes mechanisches Fahrwerk aufsetzen, und nicht dessen Schwächen mit diesen Systemen kaschieren. Mit den Regelsystemen steigern wir sowohl den Fahrkomfort als auch die Performance. Wir haben den Anspruch, die Funktionsalgorithmen und Softwaremodule selber zu spezifizieren, zu simulieren und den Code selbst zu generieren - und das Baureihen-übergreifend und selbstverständlich angepasst für einen Cayenne wie auch für einen 911. Bei der Integration der Systeme hilft es, sich an Standards wie Autosar, einheitliche Modellierungsrichtlinien und Testroutinen sowie eine gute Kommunikation und Organisationsstruktur der Abteilungen zu halten, die wir schon vor zwei Jahren interdisziplinär angepasst haben. Der Faktor Mensch ist auch in der Fahrwerkentwicklung nicht zu unterschätzen.

Entwickler von Verbrennungsmotoren haben ein zentrales Steuergerät, Fahrwerker konzipieren traditionell mit einer Vielzahl an Steuergeräten. Was kann für die Chassisentwicklung adaptiert werden?

Grundsätzlich und historisch gibt es eine Vielzahl von Fahrwerkregelsystemen. Bei Porsche haben wir eine friedliche Koexistenz dieser Systeme, sie sind singulär, stand-alone, beeinflussen sich nicht, aber sie sind vernetzt. Es arbeiten unterschiedliche kleinere Teams an ihnen, die Prüfstände verwenden und meist mit dem Fahrzeug auf dem Testgelände sind. Blicken wir zu einem Motorprojekt, so finden wir dort ein hochkomplexes Motorsteuergerät und eine Heerschar von Ingenieuren, die am selben Motor arbeiten, auf ein Steuergerät zugreifen und zahlreiche Prüfstände intensiv nutzen. Lernen können wir Fahrwerkstechniker von der Verwaltung der Applikationsdaten. Porsche hat hierzu ein Vorzeige-Projekt laufen. AVL hat mit dem Calibration Data Management, kurz Creta genannt, ein gutes Software-Werkzeug samt Struktur entwickelt, um Daten aus- und einzuchecken – samt Bearbeitung, Archivierung und Historie dahinter. Dies nutzen wir auch im Fahrwerkbereich, aber haben das Tool für unsere Belange angepasst. Dieses Arbeiten ist einmalig in der Szene, denke ich. Synergien konnten realisiert werden. Es ist aber noch mehr Potenzial in dem Thema, wenn es darum geht, Default-Daten zu erzeugen, um zu testen. Da können wir von den Motorleuten noch viel lernen, gerade in der frühen Projektphase, wo wir noch kein reales Fahrzeug für die Teststrecke haben.

Welche Vorteile haben Ihre Mehrlenkerachsen zur üblichen Verbundlenkerachse? Welches sind die Kriterien?

In der Kompaktklasse mit Frontantrieb ist die Verbundlenkerachse an der Hinterachse der Standard, weil sie von Funktion, Gewicht, Bauraum und Kosten gut da steht. Aber bei Porsche ist dieses System kein Thema: Wir setzen gezielt zur Erreichung unserer ambitionierten Ziele Mehrlenkerachsen für die meisten unsere Fahrzeuge ein. Bei vielen Modellen kann die Mehrlenkerhinterachse mit einer Vielzahl von aufwendigen Regelsystemen wie Hinterradlenkung, Wankstabilisierung, Torque Vectoring kombiniert werden. An der Vorderachse des 911 setzen wir eine über Jahrzehnte optimierte McPherson-ähnliche Achse ein, welche eine unglaubliche Reife hat und schwer zu toppen ist. Einzigartig ist sicher beim Boxster die McPherson-Bauart an der Hinterachse. Aber denken Sie nicht, dass per se Mehrlenker immer besser sind als der Verbundlenker oder McPherson-Achsen. Die Verwendung hängt ganz vom Einsatzfall ab und muss für jedes neue Fahrzeugprojekt immer wieder neu geprüft werden. Die heute verfügbaren modernen CAE-Tools helfen, die Reife der einzelnen Bauarten noch weiter zu steigern.

Ein Beiratsmitglied der ATZlive-Tagung chassis.tech plus fragte, ob der Kunde heute noch bereit sei, den Aufwand beim Chassis zu zahlen, oder ob das Geld nicht besser in eine Smartphone-Anbindung, Assistenten und Elektroantrieb investiert sei. Zurecht, oder was denken Sie?

Für den gesamten Pkw-Markt sehe ich das nicht so. Sicher, man redet vom Internet der Dinge und steht in den Großstädten oft im Stau, möchte dann sein Handy nutzen. Aber ein Fahrwerk spielt für Fahrsicherheit und Fahrkomfort auch zukünftig eine große Rolle - egal, ob ein Verbrenner oder eine E-Maschine das Auto antreibt und wie autonom ein Fahrzeug geführt wird. Das Autofahren muss per se sicher sein, sodass wir weiterhin an unseren Hauptthemen arbeiten: Sie brauchen die jeweils optimale Radaufstandsfläche. Sie möchten ein grundsolides neutrales bis untersteuerndes Fahrverhalten, aus einer ordentlich konstruierten Mechanik resultierend. Das wird sich auch in zehn oder 20 Jahren nicht aufgelöst haben.

Und speziell für Porsche?

Wir möchten Begeisterung beim Fahrer wecken. Das Thema Fahrwerk und Fahrdynamik ist Teil des Markenkerns, hat einen sehr hohen Stellenwert. Natürlich will auch unser Kunde sein Smartphone nutzen, telefonieren, ins Internet gehen und bequem durch den Stau chauffiert werden, gerade in Modellen wie Panamera und Cayenne. Diese Systeme bieten wir auch an. Aber mit unserer Motorsport-Tradition und DNA ist es sinnvoll und richtig, dass wir unser Geld auch weiterhin in die Entwicklung bester Fahrwerke investieren.

Wie geht es mit dem Fahrwerk weiter, welche Strömungen sind auf dem Zeitstrahl erkennbar?

Wagen wir einen Ausblick. Auch das automatisierte Auto eines Internet-Unternehmens hat vier Räder und ein Feder-Dämpfer-System, das sicher sein soll und muss. Um das Fahrwerk kommt man also nicht herum. Hinzu zur Fahrwerkmechanik und den Fahrdynamikregelsystemen kommt aktuell das Thema der Vernetzung, wie es sich als Adaptivität, Back-end- und Cloud-Daten sowie Schwarmintelligenz darstellt. Das ist das, was uns und die Branche gerade umtreibt. Die Themen Mechanik und Regelung laufen in eine Sättigung auf hohem Niveau hinein, während große Innovationschübe noch bei der Vernetzung in den nächsten zehn Jahren zu erwarten sind. Wenn ich durch Cloud und vorausfahrende Fahrzeuge weiß, dass vor mir die Straße rutschiger wird, kann ich die Fahrwerkregelsysteme intelligent und besser auf diese Situation vorbereiten. Regelschwellen für das ESP können ganz anders gesetzt werden, wenn diese Kenntnis des Streckenzustands lokal und auf diesen Zeitpunkt bezogen vorliegt.

Herr Dr. Harrer, vielen Dank für das interessante Gespräch.

Zur Person

Dr. Manfred Harrer (Jahrgang 1972) ist seit Juni 2012 Leiter Fahrdynamik und Performance bei Porsche in Weissach, was die Verantwortung für die Serienentwicklung aller Porsche-Modelle umfasst. Harrer ist daneben
Herausgeber und Co-Autor des Lenkungshandbuchs im Verlag Springer Vieweg.
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