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15.04.2015 | Medien | Schwerpunkt | Online-Artikel

Slow Journalism oder die Entdeckung der Langsamkeit

verfasst von: Michaela Paefgen-Laß

4 Min. Lesedauer

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Mit dem Tablet neben der Kaffeetasse liest es sich am Frühstückstisch recht angenehm. Und wenn der Inhalt fesselt, wird gerne gescrollt. Gute Zeiten also für lange Reportagen? Eine Kolumne für zeilenreichen Journalismus.

In Neustadt am Rübenberge schließt Herr Hibbe sein Kaufhaus alten Schlages ab. Für immer. Nachrichtenfaktor für den Leser im Rhein-Main-Gebiet: Gleich Null. Dennoch zieht die im vergangenen Jahr mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnete Arbeit "Herr Hibbe macht zu" von Henning Sußebach für die "Zeit" Online- wie Zeitungsleser über viele Zeilen hinweg mitten hinein in die niedersächsische Provinz. An einen Ort, an dem wie überall auf dem Land gerade ein Stück Wirtschaftswunderherrlichkeit stirbt, weil die Zeiten sich ändern und mit ihnen das Shoppingverhalten des digital orientierten Menschen. Wer das liest, nimmt sich Zeit.

Information to go Online konsumieren

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Auch den traditionellen Medien geht das Internet an den Kragen, heißt es immer wieder. Weil Online jeder ganz einfach veröffentlichen kann und dieser sogenannte User-Generated-Content als ehrlicher und authentischer wahrgenommen wird, als die Erzeugnisse einer sich ständig in der Vertrauenskrise windenden Presse. Weil Suchmaschinengiganten wie Google ungehindert Meinung machen dürfen und sich so zu einer ernsthaften Konkurrenz des klassischen Journalismus entwickeln. Weil Internet schön schnell ist und die Menschen keine Zeit mehr haben. Weil es den Zeitungshäusern an wirklich zündenden digitalen Konzepten mangelt. Vor allem aber, weil Information im Internet zur billigen Ramschware für den schnellen Konsum, zum redaktionellen Fast Food, verkommen ist.

Journalismus Stirbt an Geiz und Selbstbeschränkung

Das Kaufhaus Hibbe "Stirbt am Internet. Stirbt am Geiz", schreibt Henning Sußebach. Die Analogie zum Journalismus liegt auf der Hand. Und auch wieder nicht. Denn gerade das Internet mit seinem unbegrenzten Raum, bietet dem Journalismus die große Chance "seine Stärken glanzvoll zu entfalten", wie die Springer-Autoren Michael Hallermayer, Manuel Menke und Susanne Kinnebrock in ihrem Buchkapitel "Ist Content King - Zur Bedeutung neuer Content-Formate" behaupten. "Erreichen kann der Journalismus dies durch solides journalistisches Handwerk, das profunde Recherche mit innovativen Erzählformen und medienspezifisch optimierten Darstellungsformen verbindet" (Seite 59). Die Autoren nennen diesen Journalismus "Slow Journalism", also einen Journalismus, der sich Zeit nimmt für "ausführliche Recherchen und Wert auf Erzählkunst legt" (Seite 59).

Im Print ist der Raum knapp und teuer. Ohnehin ständig an redaktionelle Zeitvorgaben gebundene Journalisten, müssen sich unentwegt beschränken: 80 Zeilen für die Stadtratssitzung, 80 Zeilen für das Sinfoniekonzert, 80 Zeilen für den Steuerskandal. Für Hintergrundberichterstattung, ausgiebige Recherche und ja, auch Atmosphäre, fehlen Zeit und Raum. Also übt der Journalist sich in Pragmatismus: Wozu noch mehr Infos sammeln, wenn sie doch nicht untergebracht werden können? Die Frage könnte aber auch lauten: Was haben diese Selbstbeschränkungen im Digitalen zu suchen?

Mehr Aufmerksamkeit mit langen journalistischen Formaten?

"Mit den alten Erzählweisen werden die meisten Medienmarken im Wettrennen um die Nutzer-Aufmerksamkeit kaum mehr eine Perspektive haben", schreibt Springer Autor-Simon Sturm in "Und jetzt? Ein Fazit" (Seite 146). Verlage, so meint er, hätten längst nicht das Potential ausgereizt, dass ihnen etwa digitales Storytelling bietet. "Multimediale Elemente aus Videos, Fotos oder Grafiken sollten nicht nur als Ergänzung zu einem Text verstanden werden, sondern von Anfang an in die Recherche und in die Umsetzung integriert werden" (Seite 144). So aufbereiteter Content, meinen Hallermayer, Menke und Kinnebrock, stehe der Umsonst-Mentalität im Internet entgegen und "scheint dem Rezipienten also doch etwas wert zu sein – trotz der vielen kostenfreien Konkurrenz im Netz" (Seite 55).

Auch im Internet gilt: Qualität darf kosten

Das Zauberwort heißt also "Longform Journalism". Videos, Audios, Bildergalerien, Verlinkungen, interaktive Timelines und Grafiken sind die crossmedialen Zutaten mit denen sich Longform-Formate verständlich, spannend und informativ an den Leser bringen lassen. Reportagen wie die über das Kaufhaus Hippe, in der ein Journalist irgendwie auch über seine eigene Zunft reflektiert, stehen für das, was im Print wie im Internet gleichermaßen möglich ist. Deutlich längere crossmediale Formate wie "Das neue Leben der Stalinallee" von der "Zeit" oder "Snow Fall" und "Invisible Child" aus der "New York Times" zeigen, wie multimedial durchkomponierte und gründlich recherchierte Geschichten begeistern können. Was es dazu braucht? Zeit, technisches wie journalistisches Know-how, kreative Ideen, den Mut diese umzusetzen – und auch zu finanzieren. Dass dieser Journalismus nicht umsonst zu haben ist, sollte auch dem Leser verständlich sein.

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