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Open Access 2023 | OriginalPaper | Buchkapitel

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Zusammenfassung

Eine ganze Bandbreite von Online- und Offline-Protestpraktiken erlaubt es Bürger*innen, sich in politische Prozesse einzumischen, Öffentlichkeit für bestimmte Themen zu erzeugen und Politiker*innen und Unternehmen unter Druck zu setzen. Dabei reicht die Auswahl der Praktiken von niedrigschwelligen Angeboten wie dem Unterschreiben einer Online-Petition bis zu zeitintensiven Praktiken wie der aktiven Mitarbeit in einer lokalen Ortsgruppe eines Umweltverbandes. Warum entschließen sich Bürger*innen, ganz spezifischen Protestpraktiken – online wie offline – nachzugehen und anderen Praktiken nicht? Welche Vor- und Nachteile benennen die Subjekte für die einzelnen ihnen zur Verfügung stehenden Kanälen und Kommunikationsformaten? Ziel der vorliegenden Arbeit ist, mit Fokus auf einzelne Subjekte, fallspezifisch und empirisch den Handlungs- und Wirkungszusammenhang von Straßenprotest und Online-Aktivismus im Bereich der Umweltschutz-Bewegung zu untersuchen.
Verden, 10. März 2021. Innerhalb von 14 Tagen sammelte die Petition “Energiecharta-Vertrag stoppen!” eine Million Unterschriften. Die von zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen in ganz Europa getragene Petition setzt somit ein starkes Zeichen für die Energiewende und das Ende der fossilen Energien.“1 – Pressemitteilung von Campact zur Online-Petition „Energiecharta-Vertrag stoppen!
„Berlin: In den sieben Landeshauptstädten Düsseldorf, Hannover, Kiel, Potsdam, München, Mainz und Wiesbaden sowie in Freiburg gingen heute insgesamt 30.000 Menschen gegen ein Ausbremsen der Energiewende und für den schnellen Abschied von atomaren und fossilen Energieträgern auf die Straße.“2 – Pressemitteilung vom BUND zur Straßendemo „Energiewende retten – Wind und Sonne statt Kohle, Fracking und Atom“
Ich finde schon, dass sich das verändert über diese Online-Geschichten, einfach weil mehr Leute davon erfahren. Du erreichst viel mehr Leute. Ich glaube es ist wirklich, das breiter zu streuen, ja. […] Ich denke schon, dass du […] da mehr Leute aktivieren kannst.“ – Helena (Z. 623 ff.) über die Vorteile von Online-Aktivismus
Weil zum Protest auch ein Gesicht oder irgendwas ... dass es überhaupt irgendwie gehört oder wahrgenommen wird. Ich glaube, wenn nur die Unterschriften-Aktionen unter der Hand irgendwo übergeben werden, ohne dass das einer mitkriegt, dann verschwinden die in der Schublade. Ja, das ist halt der Druck der Straße.“ – Franz (Z. 560 ff.) zur Wichtigkeit von Straßenprotest
Eine Million Unterschriften für eine europäische Online-Petition gegen den Energiecharta-Vertrag innerhalb von zwei Wochen und ‚nur‘ 30.000 Menschen auf der Straße für eine Energiewende in der deutschen Klimapolitik – spricht Netzprotest etwa mehr Menschen an als Straßenprotest? Wenn es nach Helena und Franz geht, dient das Internet insb. der Verbreitung von Informationen und der Mobilisierung, während Straßenproteste den Anliegen ein Gesicht verleihen und mehr Druck aufbauen als es bspw. Online-Petitionen können. Bürger*innen sehen in einzelnen Protestpraktiken jeweils persönliche Vor- und Nachteile und stellen sich basierend auf diesen Einschätzungen und den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen ihr individuelles Praktiken-Repertoire zusammen.
Während in den letzten Jahrzehnten Anti-AKW-Demos und -Mahnwachen, sowie Veranstaltungen für eine Energiewende und in den letzten Jahren auch zahlreiche Protestaktionen von Fridays for Future (FFF) überwiegend auf der Straße stattfanden, erfahren seit einigen Jahren auch Formen von Netzprotest eine gesteigerte Beliebtheit.
Eine ganze Bandbreite von Online- und Offline-Protestpraktiken erlaubt es Bürger*innen3, sich in politische Prozesse einzumischen, Öffentlichkeit für bestimmte Themen zu erzeugen und Politiker*innen und Unternehmen unter Druck zu setzen. Dabei reicht die Auswahl der Praktiken von niedrigschwelligen Angeboten wie dem Unterschreiben einer Online-Petition bis zu zeitintensiven Praktiken wie der aktiven Mitarbeit in einer lokalen Ortsgruppe eines Umweltverbandes. Online ist hierbei jedoch nicht zwangsläufig Ersatz für Offline. In vielen Situationen von Protestpartizipation ergänzen sich Elemente beider Sphären. Häufig kommen Online-Praktiken dabei insb. Informations- und Mobilisierungsfunktionen zu, während auf der Straße bspw. Protest in Form von Demos stattfindet. Online-Petitionen, Hacktivism oder politische Social-Media-Posts sind hingegen Beispiele für (größtenteils) netzbasierte Protestpartizipation.
Warum entschließen sich Bürger*innen, ganz spezifischen Protestpraktiken – online wie offline – nachzugehen und anderen Praktiken nicht? Welche Vor- und Nachteile benennen die Subjekte für die einzelnen ihnen zur Verfügung stehenden Kanälen und Kommunikationsformaten? Ziel der vorliegenden Arbeit ist, mit Fokus auf einzelne Subjekte, fallspezifisch und empirisch den Handlungs- und Wirkungszusammenhang von Straßenprotest und Online-Aktivismus im Bereich der Umweltschutz-Bewegung zu untersuchen. Dabei soll Netzaktivismus weder pauschal als Clicktivism abgewertet werden, noch schließt sich diese Arbeit uneingeschränkt optimistischen Einschätzungen zur Wirksamkeit von Internet für Protestpartizipation an. Vielmehr wird dafür plädiert, Protestengagement und dessen Konsequenzen für Gesellschaft in subjektzentrierten Fallanalysen zu untersuchen, den Fokus auf den jeweiligen Handlungs- und Wirkungszusammenhang verschiedener (Online- und Offline-)Praktiken der Individuen zu legen und dieses Zusammenwirken in seiner Gesamtheit zu betrachten.
Die Arbeit steht damit im Schnittfeld unterschiedlicher politikwissenschaftlicher Forschungsfelder wie der Protestforschung, der politischen Partizipationsforschung und der Forschung rund um das Thema Digitalisierung: Was bedeutet Protest Offline und Online?
Um diese Frage und weiter unten genauer ausgeführte Forschungsfragen zu beantworten, müssen die individuellen Motive für Partizipation und für die Teilnahme an einzelnen Protestpraktiken untersucht werden. Diese Motive werden u. a. von der Einschätzung zur jeweiligen Wirksamkeit der entsprechenden Protestpraktik beeinflusst. In der Partizipationsforschung äußern kritische Stimmen (vgl. Morozov 2011; White 2010; Gladwell 2010; Shulman 2009) diesbezüglich die Sorge, dass verschiedene Formen von Online-Aktivismus eine zu einfache und zu unverbindliche Art der Partizipation darstellen und dass sich Protestpartizipation eben wegen dieser Einfachheit und der Bequemlichkeit von Bürger*innen auf solche niedrigschwelligen Partizipationsformen reduzieren könnte. Diese Formen hätten jedoch keinen wirklichen Einfluss auf politische Prozesse und würden nur dazu führen, dass ‚echter‘ Aktivismus aussterbe. In „The Net Delusion“ (2011) weist Morozov z. B. darauf hin, dass bei den Protesten im Iran 2008 der Einfluss des Internets vielmehr von westlichen Beobachter*innen gewünscht war, als dass er tatsächlich stattgefunden habe. White (2010) wiederum beschreibt, dass Kampagnen-Organisationen Ideologien des Marketings und Taktiken von Werbung und Marktforschung übernehmen würden und die Überwachungen von quantitativem Erfolg dazu führten, dass aus Aktivismus Clicktivism wird: „The obsession with tracking clicks turns digital activism into clicktivism.“ Shulman (2009) argumentiert, dass Online-Aktionen keinen wirklichen Einfluss auf die Gesetzgebung hätten. E-Mail-Kampagnen könnten zwar dazu führen, dass Menschen für Aktionen mobilisiert werden, dieser Erfolg sei aber nur oberflächig und würde außerdem die tägliche Arbeit der Mitarbeiter*innen der Regierung erschweren, die dadurch Probleme hätten, die wirklich guten und gehaltvollen E-Mails zu erkennen (ebd.: 46 f.). Gladwell (2010) vertritt im Rahmen der Debatte um Online-Aktivismus die These, dass Teilnehmer*innen von risikoreichen Protestaktionen durch ebendiese ihren Zusammenhalt untereinander stärkten, dadurch oft enge Freundschaften innerhalb der Gemeinschaft hätten und sich deswegen dort engagierten, während Facebook, Twitter & Co. nur auf schwachen Bindungen (weak ties) basierten und folglich keine risikoreichen Aktivitäten ermöglichten.4
Clicktivism, Slacktivism, Faulenzer-Aktivismus oder Armchair-Activism – eine Vielzahl von Begriffen wertet Online-Aktivismus diesen Argumenten folgend pauschal ab, und das häufig ohne ihn im Kontext oder Detail betrachtet zu haben. Die These von Morozov (2011, 2013), Online-Aktivismus würde dazu führen, dass Bürger*innen sich nicht mehr außerhalb des Internets, bspw. bei Straßendemonstrationen oder in Organisationen und Verbänden, einbringen und stattdessen der Meinung seien, sie hätten sich mit einem Klick vom Sofa aus bereits ausreichend eingebracht, basiert mehr auf theoretischen Annahmen und Pauschalisierungen, als dass sie in der Empirie fundiert untersucht worden sei.
Optimistischere Einschätzungen zu Online-Aktivismus betonen hingegen u. a. die durch neue ICTs (Information and Communication Technologies) entstandenen kostengünstigen Partizipationsmöglichkeiten (Bennett 2003; Bennett/Segerberg 2012; Bimber 2017; Bimber/Flanagin/Stohl 2005, 2012; Dolata/Schrape 2016). Verschiedene Akteure könnten sich schnell, ortsunabhängig und kostengünstig austauschen, interaktiv kommunizieren und Protestaktionen organisieren. Nach dem Motto „high impact on little resources“ (Scott/Street 2001) gehen diese Autor*innen davon aus, dass ICTs insb. ressourcenarmen Organisationen und Einzelpersonen mehr Einfluss und Handlungsmöglichkeiten verleihen (vgl. della Porta/Mosca 2004). So könnten kollektive Aktionen auch von kleineren Gruppen oder Individuen organisiert werden. Laut Karpf (2012) könne man eben wegen dieser neuen kostengünstigen Partizipationsmöglichkeiten von einer Social Movement Theory 2.0 sprechen. Nach dieser verändere sich die traditionelle „Logic of Collective Action“ (Bennett/Segerberg 2012) maßgeblich durch geringere Kosten im Social–Media-Bereich: „Formal organizations are no longer necessary since individual tactics like e-petitions can now be organized online and information can spread virally through social media channels like blogs, You-Tube, Facebook, and Twitter. In other words, we are all our own publishers and political organizers now.“ (Karpf 2012: 7) Das Internet erlaubt mehr Interaktivität und Einmischen bzw. Eigenrecherche als es zuvor möglich war. Aufgrund dieses veränderten Rollenverständnisses von Produzent*innen und Nutzer*innen spricht Bruns (2008) von „Produsage“ – einer Wortkombination aus Production und Usage.
In Konsequenz dieser Entwicklungen hat sich mit „Hybrid-Organisationen“ (Chadwick 2007; Voss 2013; Speth 2013) wie Campact ein neuer Akteur in der Protestlandschaft entwickelt. Diese Organisationen zeichnen sich u. a. durch ein niedrigschwelliges Partizipationsangebot aus. Schon mit der Unterzeichnung einer einzigen Online-Petition kann man sich dort ohne großen Kostenaufwand und ohne langfristige Bindung an die Organisation einbringen. Dies hat den Vorteil, dass Bürger*innen eine bestimmte Kampagne unterstützen können, ohne sich mit der gesamten Organisation identifizieren können zu müssen. Das wiederum führt laut Karpf (2012: 25) zu einem neuen Mitgliedschaftsverständnis „from memberships-as-participation to membership-by-mail“ oder auch „armchair activists“. Solche Aktivist*innen erklären sich mit einzelnen Aspekten in der Arbeit einer Organisation einverstanden und unterstützen diese per Mausklick, ohne zusätzlich aktiver zu werden. Die hohe Anzahl von Unterstützer*innen für Hybrid-Organisationen wie Campact und deren Online-Petitionen zeigt, dass es großen Bedarf an Möglichkeiten dieser sporadischen Partizipation ohne starke Bindung an eine Organisation gibt (vgl. Voss 2013: 220).
Netz-Optimisten wie Karpf (2016, 2018) fordern, dass bei der Einschätzung zur Wirksamkeit von Online-Aktivismus zwischen dem Unterzeichnen und Erstellen von Online-Petitionen unterschieden wird. Der Vorwurf des Clicktivism missachte, dass es um weit mehr als nur das Unterzeichnen per Mausklick gehe. Unter dem Begriff „Analytic Activism“ untersucht Karpf (ebd.) bspw. wie Plattformen Petitionen listen, Wachstum erzielen, intern mit Logiken arbeiten, die berechnen, welche Online-Petition viral gehen und eine Bewegung hervorrufen könnte und nicht zuletzt durch Online-Petitionen auch Möglichkeiten erschaffen werden, wie Kommunikation zwischen Petent*innen, den Unterzeichner*innen und der Plattform selbst entstehen könnte (vgl. Karpf 2016: 62). Das Unterzeichnen und das damit verbundene Hinterlassen einer E-Mail-Adresse sei nur ein erster Schritt, der auf einer „ladder of engagement“ (ebd.: 63) später zu mehr Engagement führen könne.5 Andere Autor*innen argumentieren ebenfalls, dass niedrigschwellige politische Partizipation im Netz einen sogenannten „Spill-over“-Effekt auf höherschwellige Offline-Partizipation habe (vgl. Boulianne 2015; Lane/Dal Cin 2017). Eine Studie von Kwak et al. (2018: 200) untersucht bspw. den Zusammenhang zwischen dem wahrgenommenen Einfluss von Social Media und politischer Partizipation online und offline. Eines der Ergebnisse dieser Studie ist, dass Menschen, die sich auf Social Media politisch äußern, mit höherer Wahrscheinlichkeit auch offline partizipieren.
Chadwick (2007, 2017) untersuchte den Wirkungszusammenhang von Online und Offline bereits für den englischen Sprachraum und geht davon aus, dass die Interaktion zwischen Social Media und Entwicklungen hin zu einer Personalisierung, politischem Konsum und postmaterialistischer „Lifestyle Politics“ (Bennett 1998) eine neue politische Form kreiert habe: Hybrid Mobilization Movements. Diese vermarkten den Rückgang von collective identity frames, indem sie personalisierte Möglichkeiten für Engagement anbieten (vgl. Karpf 2012; Kavada 2012: 44; Vromen 2008, 2015). Auch Treré (2018, 2019) untersucht Hybridität im Kontext von Mediennutzung in Protestpraktiken. Er betont dabei insb. die Bedeutung digitaler Medien für Mobilisierung – sowohl online als auch offline. Treré (2018: 147) beschreibt eine „continuous interconnection between activists on the streets and activists at home: Both actively use media and communication technologies, but with the different affordances that their diverse situations allow.“ Für Soziale Bewegungen stellen digitale Medien laut Treré Möglichkeiten dar, Menschen auf die Straße zu bewegen, Demos zu koordinieren und Offline-Aktionen zu bewerben. Gleichzeitig gäbe es jedoch auch Online-Praktiken, die ausschließlich für weiteren Online-Aktivismus mobilisieren sollten, nicht zwangsläufig für Offline-Praktiken.
Während Treré (2019) bereits fallspezifische und kontextabhängige Analysen des Handlungs- und Wirkungszusammenhangs von Online- und Offline-Praktiken im Rahmen von Protestpartizipation untersucht hat, mangelt es in der Forschung weiterhin an subjektzentrierten Untersuchungen dieses Zusammenwirkens – auch für den deutschsprachigen Raum. Viele Wissenschaftler*innen haben gesellschaftliche Konsequenzen der Digitalisierung von Protestpartizipation untersucht und Vor- und Nachteile aus Sicht der Organisationen und Sozialer Bewegungen beschrieben. Wie oben skizziert, decken die Ergebnisse dieser Untersuchungen dabei das komplette Spektrum von Netz-Pessimisten und -Optimisten ab.6 Forschungen wie die von Chadwick (2007, 2017) oder Treré (2018, 2019), die mit Konzepten von Hybridität arbeiten, verfolgen einen Ansatz, der in der vorliegenden Arbeit in Teilen ebenfalls verwendet wird. Der in dieser Arbeit verfolgte Ansatz geht wie Chadwick und Treré von hybriden Partizipationspraktiken aus und versucht durch eine komplexe Untersuchungsperspektive, in der neben individuellen Motiven auch Faktoren wie Ressourcen, Emotionen sowie persönliche Einschätzungen der Wirksamkeit einzelner Protestpraktiken berücksichtigt werden, der Komplexität des Forschungsgegenstands gerecht zu werden. Eine solche empirische Analyse des Handlungs- und Wirkungszusammenhangs von Netz- und Straßenaktivismus aus Sicht individueller Bürger*innen steht in der Protestforschung noch aus. Dabei werden, wie weiter unten näher erläutert wird, insb. Praktiken im Kontext von Umweltprotesten in Deutschland im Fokus der Untersuchung stehen.
Forschungsfragen
Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Frage nach den Motiven für Engagement im Umweltschutz, für und gegen einzelne Protestformen und Partizipationskanäle. Warum engagieren sich einige Bürger*innen in Verbänden und Organisationen wie dem BUND, bei Straßenaktionen und lokalen, kleineren Projekten? Warum engagieren sich andere zusätzlich oder stattdessen bei Online-Formaten von politischer Partizipation wie bspw. Online-Petitionen? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit Bürger*innen partizipieren? Um dies zu verstehen, müssen die Ressourcen dieser Personen berücksichtigt werden. Zeit, Geld, Bildung, Netzwerke und auch Fähigkeiten zu kommunizieren und organisieren, zählen zu eben diesen Ressourcen. Darüber hinaus spielt das Bürgerschaftsverständnis eine wichtige Rolle: Ist es die Pflicht eines jeden, sich über Wahlen hinaus zivilgesellschaftlich zu engagieren? Welche Initial- und Schlüsselmomente lösen zivilgesellschaftliches Engagement ursprünglich aus und welche Faktoren begünstigen langfristig gegenwärtige Partizipation? Wie Bürger*innen aufgewachsen sind und von ihrem Umfeld geprägt wurden, ist ein ebenso wichtiger Faktor wie konkrete Erfahrungen, die in der Vergangenheit gemacht wurden und das Engagement bis heute motivieren.7 Welche Rolle spielen verschiedene Emotionen – Spaß gleichermaßen wie Frust – für Engagement? Für wie effektiv werden unterschiedliche Protestformen gehalten? Wie beeinflusst die individuelle Einschätzung zur Wirksamkeit die tatsächlichen Praktiken der Bürger*innen? Welche Typen von Protest-Aktivist*innen können im Feld des Wirkungszusammenhangs von Straßen- und Netzprotest beobachtet werden? Diesen Fragen geht die vorliegende Arbeit nach.
Vorgehensweise und Abgrenzung von anderen Forschungsbereichen
Unter Online-Aktivismus werden im Folgenden alle Praktiken verstanden, die ‚größtenteils online‘ stattfinden, unter Straßenprotest und Engagement in Organisationen entsprechend alle Praktiken, die ‚größtenteils offline‘ stattfinden.8 Eine solche Unterscheidung in Online- und Offline-Protestpraktiken ist hilfreich, um in der Analyse der Motive, Einstellungen und Praktiken von Bürger*innen zwischen verschiedenen Protestformen differenzieren zu können.
In der vorliegenden Arbeit liegt der Fokus auf einzelnen Bürger*innen, ihren Ressourcen und Motiven für zivilgesellschaftliches Engagement, ihren individuellen Praktiken, ihren Einstellungen zur Wirksamkeit verschiedener Protestpraktiken – und damit auf der Mikroebene. Organisationen und ihre Plattformen strukturieren jedoch die Partizipationsmöglichkeiten vor, in deren Rahmen potenzielle Unterstützer*innen dann zwischen unterschiedlichen Aktionsformen wählen oder ggf. alternative Aktionsformen vorschlagen können. In dieser Untersuchung stehen Organisationen, Verbände und Parteien folglich nicht im Zentrum der Untersuchung, sie sind jedoch als Handlungen und Einstellungen beeinflussende Faktoren zu berücksichtigen, u. a. dann, wenn es um das Mitgliedschaftsverständnis der Bürger*innen oder ihre Einschätzungen zur Wichtigkeit von Empfindungen kollektiver Identität geht. Um verschiedene Organisationsgrade untersuchen zu können, in denen politisch aktive Bürger*innen organisiert sind, wurde ein vergleichender Fokus auf die beiden Organisationen Campact und BUND gelegt. Dieser Entscheidung liegt die Vermutung zugrunde, dass dabei unterschiedliche Mitgliedschaftsverständnisse der Unterstützer*innen dieser beiden Organisationen untersucht werden können. Denn der BUND verfolgt ein eher klassisches Mitgliedschaftsmodell mit beitragszahlenden Unterstützer*innen, wohingegen Campact von einem fluiden Mitgliedschaftsverständnis ausgeht. Während die Organisationen BUND und Campact als Ausgangspunkt für den Feldzugang gewählt wurden, um aktive Bürger*innen aus der Umweltschutz-Bewegung für Interviews zu gewinnen und entsprechend insb. diese beiden Organisationen in der Analyse des Interview-Materials relevant sind, stehen durchweg die einzelnen Praktiken (innerhalb und außerhalb von Organisationen) und Aussagen der Individuen im Mittelpunkt dieser Arbeit.
In dieser Arbeit wurde qualitativ explorativ vorgegangen und entsprechend wird kein Anspruch auf Repräsentativität gestellt. Die Entscheidung für diesen qualitativen Ansatz fiel aufgrund der bisher geringen Erforschung des Handlungs- und Wirkungszusammenhangs von Straßen- und Netzprotest auf der Mikroebene. Im Rahmen der Feldforschung und insb. bei der Zusammensetzung des Interview-Samples wurden zwar die unterschiedlichsten im Feld beobachteten Engagementformen und -intensitäten berücksichtigt, ebenso weitere Faktoren, die der Sample-Zusammensetzung zugrunde liegen, es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass es weitere Protestformen und -typen gibt, die in der vorliegenden Arbeit unberücksichtigt bleiben.
Die Entscheidung für die Umweltschutz-Bewegung als Untersuchungsgegenstand dieser Doktorarbeit basiert auf der Annahme, dass eine bereits länger existierende Soziale Bewegung einen ergiebigen Vergleich verschiedener Protestformen und der jeweiligen Motive der Aktivist*innen ermöglicht. Die Umweltschutz-Bewegung ist eine klassische Offline-Bewegung, die insb. in den 1980er Jahren zahlreiche Menschen auf die Straße trieb (vgl. Brand 2008; Rucht 2008). Sie umfasst gegenwärtig Bürger*innen, die schon in den 1980er Jahren und früher auf die Straße gegangen sind und die eine Protestkultur ohne das Internet kennen. Hier stellt sich die Frage, wie diese Menschen auf ein um Online-Protestformen erweitertes Repertoire reagieren, nachdem sie in den vergangenen Jahrzehnten ausschließlich Offline-Partizipationsformen zur Verfügung hatten. Darüber hinaus sind in der gegenwärtigen Umweltschutz-Bewegung sogenannte ‚Digital Natives‘ engagiert, sodass Vergleiche in den verschiedenen Untersuchungsdimensionen (Alter des Subjekts, Ort des Protests, Grad der Organisiertheit, Intensität des Engagements) interessante Ergebnisse versprechen.
Während im Bereich Netzprotest die Form des Hashtag-Aktivismus in den letzten Jahren zwar erheblich an Bedeutung gewonnen hat (vgl. Rambukkana 2015), ist dieser im Vergleich zu identitätspolitischen Bewegungen im Bereich von „Race and Gender Justice“ (Jackson/Bailey/Foucault Welles 2020; Drüeke/Zobl 2016; Crossley 2018) – siehe z. B. #metoo und #blacklifesmatter – für die Umweltschutz-Bewegungen jedoch weniger bedeutsam. Auch die alleine im Netz stattfindende Protestform des Hacktivism (vgl. Jordan 2008, 2002; Jordan/Taylor 2004) spielt für Umweltschutz eine untergeordnete Rolle und wird deshalb im Folgenden nicht weiter thematisiert.
Aufbau der Arbeit
Um oben genannten Forschungsfragen nachzugehen, werden im nun folgenden Kapitel 2 „Wandel von Protestpartizipation im Zuge der Digitalisierung“ zuerst für die Arbeit relevante Begrifflichkeiten und Konzepte erläutert und der Forschungsstand aufgearbeitet. Dabei wird zwischen den Protesträumen Straße, Massenmedien und Internet unterschieden und das Konzept hybrider Protesträume (Hamm 2006) eingeführt. Anschließend werden Hybrid-Organisationen (Speth 2013) als wichtige Akteure der gegenwärtigen Protestlandschaft und Hybrid Media Activism (Treré 2018, 2019) als wichtiges Konzept im Wirkungszusammenhang von Straßen- und Netzprotest vorgestellt. Danach erfolgt die Aufarbeitung des Forschungsstandes zu neuen Formen von Protest und eine Darstellung von Protestpartizipation als niedrigschwelliges (Morozov 2011; White 2010; Shulman 2009), konnektives (Bennett/Segerberg 2012), individualisiertes (Bimber/Flanagin/Stohl 2005, 2012; Papacharissi 2010, 2009) und Lifestyle-orientiertes Handeln (Van Deth 2014; de Moor 2014; Haenfler/Johnson/Jones 2012).
Das dritte Kapitel beschreibt das methodische Vorgehen der vorliegenden Arbeit. Diese orientiert sich an der Grounded Theory Methode (Strauss/Corbin 1996; Glaser/Strauss 1967) und der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz 2018) und arbeitet mit einem Mixed-Method-Ansatz. Mit dem Ziel einer Typenbildung wurde im Rahmen der Feldforschung nach dem Theoretical Sampling ein Sample von 18 Interview-Partner*innen zusammengestellt, welche mit Hilfe eines leitfadengestützten Interviews zu ihrem Engagement befragt wurden. Nach Kodierung sämtlichen Materials wurde ein umfangreiches Kategoriensystem mit 272 Ausprägungen der Kategorien erstellt, das die Grundlage der Analyse in den Kapiteln 5 bis 8 bildet.
Das vierte Kapitel besteht aus der Geschichte der Umweltschutz-Bewegung in Deutschland und einer Beschreibung der für die Arbeit relevanten Kollektivakteure MoveOn, Campact, Change.org und BUND. Wie hier ausführlicher zu zeigen sein wird, sind weder Campact, noch MoveOn oder Change.org reine Umweltschutz-Organisationen, sondern befassen sich neben dem Umweltschutz auch mit zahlreichen anderen Themen. An dieser Stelle werden die drei Organisationen und Petitionsplattformen trotzdem als Kollektivakteure vorgestellt, da insb. Campact und Change.org die individuellen Protestpraktiken der Bürger*innen des Interview-Samples mitunter sehr deutlich rahmen.
Die Kapitel 5 bis 8 bilden das Herzstück dieser Doktorarbeit. Sie stellen die Ergebnisse einer umfangreichen Analyse der aus dem Interviewmaterial heraus gebildeten Kategorien dar. Das fünfte Kapitel befasst sich mit Voraussetzungen und Motiven für und Einstellungen zu Protestpartizipation in der Umweltschutz-Bewegung. Dies schließt die Kategorien Ressourcen, Bürgerschaftsverständnis, Ursprung, Motive, Kollektive Identität und Mitgliedschaft ein. Diese Aspekte werden in drei Unterkapiteln untersucht. Dabei besteht jeder Abschnitt aus einer Einführung in relevante, bereits bestehende Theorien aus der Forschung zu politischer Partizipation und einer daran anschließenden Diskussion der Ergebnisse aus der Empirie. Hierbei bilden die aus dem Interviewmaterial gewonnenen Kategorien die Grundlage. Insbesondere das Civic Voluntarism Model (CVM) von Verba/Scholzman/Brady (1995) ist im fünften Kapitel von großer Relevanz. Weitere theoretische Konzepte aus der Forschung über die Ursprünge von Engagementbereitschaft (McAdam 1989), Motive für Engagement (Teske 2009; Han 2009; Klandermans 2004), die Rolle von Emotionen für Protest (Goodwin/Jasper/Polletta 2004) und kollektive Identität (Melucci 1996; Bimber/Flanagin/Stohl 2012; Bennett/Segerberg 2012) bilden in diesem Abschnitt eine theoretische Grundlage für die Diskussion der Empirie und für Vorschläge zur Überarbeitung bestehender Konzepte, angepasst an gegenwärtige Entwicklungen im Rahmen der Digitalisierung von Protestpartizipation. Kapitel 6 „Praktiken: Die Protest-Aktivist*innen der Umweltschutz-Bewegung auf der Straße, im Web 1.0 und im Web 2.0“ systematisiert die von den Interview-Partner*innen beschriebenen Protestpraktiken online und offline, bevor in Kapitel 7 „Einstellungen zu Straßenprotest und Netzaktivismus“ die individuellen Einschätzungen zu den Vor- und Nachteilen von Straßen- und Netzprotest diskutiert werden. Das achte Kapitel führt alle untersuchten Faktoren zusammen und entwickelt basierend auf den Untersuchungsergebnissen eine Typisierung von Protest-Aktivist*innen. Im letzten Kapitel wird ein Fazit formuliert und ein Ausblick auf Forschungsdesiderate und Anregungen für die zukünftige Forschung gegeben.
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Fußnoten
3
In dieser Arbeit stehen alle Personenbezeichnungen mit dem Asteriks – wie hier bspw. bei ‚Bürger*innen‘ – sowie Formulierungen im Plural für alle denkbaren biologischen und sozialen Geschlechter, Geschlechterkombinationen sowie für Menschen, die sich keinem biologischen und/oder sozialen Geschlecht zuordnen können oder wollen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei zusammengesetzten Wörtern wie z. B. Bürgerschaftsverständnis jedoch auf das Gendern verzichtet.
 
4
Zu schwachen Bindungen siehe auch Van Laer/Van Aelst (2010), Kavanaugh et al. (2005) und Walgrave et al. (2011).
 
5
Der Begriff „ladder of engagement“ oder auch „ladder of citizen participation“ geht ursprünglich auf Arnstein (1969) zurück.
 
6
Entscheidend für diese sehr unterschiedlichen Einschätzungen ist dabei u. a., ob empirische Untersuchungen zu Netzprotest durchgeführt wurden oder entsprechende Thesen eher auf theoretischen Annahmen beruhen.
 
7
In der vorliegenden Arbeit wird dabei zwischen dem Ursprung von Engagementbereitschaft als ein in der Vergangenheit liegendes Ereignis einerseits und der gegenwärtigen Motivation für das Engagement andererseits unterschieden.
 
8
Der Autorin ist bewusst, dass zahlreiche Praktiken gleichzeitig in verschiedenen Protesträumen stattfinden. Teilnehmer*innen von Straßendemos verschicken über ihr Smartphone während der Protestteilnahme Tweets oder posten Fotos und Stories auf Instagram und Bürger*innen, die Online-Petitionen unterzeichnen, haben sich evtl. zuvor mit Freund*innen über das entsprechende Thema ausgetauscht.
 
Metadaten
Titel
Einleitung
verfasst von
Lisa Villioth
Copyright-Jahr
2023
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40532-8_1