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Open Access 2023 | OriginalPaper | Buchkapitel

2. Wandel von Protestpartizipation im Zuge der Digitalisierung

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Zusammenfassung

Protest ist vielfältig, spielt sich in unterschiedlichen Räumen ab und deckt eine ganze Bandbreite an Formen, Aufwand und Motivationen ab. Im folgenden Kapitel sollen zentrale Begriffe dieser Arbeit geklärt werden und eine Zusammenfassung des Forschungsstandes zu Protestpartizipation erfolgen. Nach der Definition der Begriffe Protest, Soziale Bewegung, Internet, Social Media und Information and Communication Technologies (ICTs), werden verschiedene Protesträume mit ihren Eigenschaften und Bedeutungen beschrieben: Straße, Massenmedien, Internet und hybride Protesträume. Darauf aufbauend folgt eine Vorstellung von Hybrid-Organisationen und der Strategie des Grassroots-Campaigning, bevor sich der letzte Teil dieses Kapitels dann explizit mit gegenwärtigen Trends in der Protestpartizipation befasst. Hier werden Eigenschaften und gesellschaftliche Konsequenzen von netzbasierter Kommunikation, Social Media und neuen ICTs erläutert und die Kritik des Clicktivism vorgestellt. In Konsequenz ergeben sich im Bereich des zivilgesellschaftlichen Engagements Tendenzen der Niedrigschwelligkeit, Individualisierung, Personalisierung und Kreativität.
„Vernetzt Euch!“, „Empört Euch!“, „Mut Bürger – Die Kunst des neuen Demonstrierens“, „Jetzt reicht’s! – 50 Anleitungen zum Bürgerprotest“, „Protest! – Wie ich die Welt verändern und dabei auch noch Spaß haben kann“1 … die Liste solcher und ähnlicher Titel ließe sich noch länger fortführen. Ob Literatur wie diese vermehrt aufkommt, weil mehr Menschen begreifen, dass es bzgl. des Umweltschutzes ‚5 vor 12‘ ist oder weil Protest im Trend liegt, da er heutzutage relativ unkompliziert und ressourcenschonend sein kann, dass er sich einfacher mit dem Alltag verbinden lässt, mag dahingestellt sein. Fakt ist jedoch: Protest ist und wird vielfältiger, spielt sich in unterschiedlichen Räumen ab und deckt eine ganze Bandbreite an Formen, Aufwand und Motivationen ab. Im folgenden Kapitel sollen zentrale Begriffe dieser Arbeit geklärt werden und eine Zusammenfassung des Forschungsstandes zu Protestpartizipation erfolgen. Nach der Definition der Begriffe Protest, Soziale Bewegung, Internet, Social Media und Information and Communication Technologies (ICTs), werden verschiedene Protesträume mit ihren Eigenschaften und Bedeutungen beschrieben: Straße, Massenmedien, Internet und hybride Protesträume. Darauf aufbauend folgt eine Vorstellung von Hybrid-Organisationen und der Strategie des Grassroots-Campaigning, bevor sich der letzte Teil dieses Kapitels dann explizit mit gegenwärtigen Trends in der Protestpartizipation befasst. Hier werden Eigenschaften und gesellschaftliche Konsequenzen von netzbasierter Kommunikation, Social Media und neuen ICTs erläutert und die Kritik des Clicktivism vorgestellt. In Konsequenz ergeben sich im Bereich des zivilgesellschaftlichen Engagements Tendenzen der Niedrigschwelligkeit, Individualisierung, Personalisierung und Kreativität, von denen einige Eigenschaften kritisch unter Begriffen wie „Simulative Demokratie“ (Blühdorn 2013) oder „Post-Demokratie“ (Crouch 2008) zusammengefasst oder wiederum optimistisch als „Connective Action“ (Bennett/Segerberg 2012), „Lifestyle Politics“ (de Moor 2014) oder „Lifestyle Movements“ (Haenfler/Johnson/Jones 2012) bezeichnet werden.

2.1 Definition zentraler Begriffe und Konzepte

2.1.1 Protest

Ob Sitzblockade, Boykott, Straßendemonstration, Online-Petition, Streik, Kundgebung, E-Mail-Aktion oder Straßenstand – Formen politischen Protests sind vielfältig. Basierend auf Rucht (2001: 28) werden in dieser Arbeit Proteste verstanden als „kollektive, öffentliche Aktionen nicht-staatlicher Träger, die Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringen und mit der Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anliegens verbunden sind.“ Wer etwas nicht hinnehmen und gegen Entscheidungen von politischen Machtinhaber*innen vorgehen will, muss nicht nur Mut aufbringen, sondern auch einige Ressourcen: Zeit, Wissen und vielleicht sogar Geld. Es müssen strategische Entscheidungen getroffen und Mitmenschen mobilisiert werden. Ist diese Basismobilisierung „mit der Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anliegens verbunden und von nicht-staatlichen Trägern organisiert, dann handelt es sich bei Protesten um Versuche, Politik von unten zu machen.“ (ebd.) Doch wer protestiert und sich ‚gegen‘ etwas stellt, sollte gleichzeitig auch ‚für‘ etwas sein. Denn Protest bringt Handelnde immer auch in Zugzwang, es werden Alternativen und Lösungen erwartet: „Das Problem muss als dringlich, die Kritik als gerechtfertigt, der Angeklagte als schuldig, die Lösung als realistisch erscheinen, wollen die Protestierenden bei anderen nicht nur Gehör, sondern auch Zustimmung finden.“ (ebd.: 9) Der lateinische Ursprung des Wortes Protest – testari – bedeutet nämlich, für etwas einstehen oder etwas bezeugen.2 Dass Protest durchaus erfolgreich sein kann, zeigen in der Geschichte Beispiele wie die Abschaffung des Sklavenhandels oder die Einführung des allgemeinen Wahlrechts.
Neben Wahlen auf Bundes-, Landes- und Kommunalebenen und eventuellen Bürgerentscheiden, sind Proteste ein weiteres Mittel, um Einfluss auf den demokratischen Entscheidungsprozess zu nehmen. Meist engagieren sich insb. Gruppen, die sich mit ihren Anliegen im politischen Geschäft nicht ausreichend vertreten oder gehört fühlen. Della Porta (1996: 67) formuliert es folgendermaßen: „Protest is a political resource used by those who do not have direct access to policy making in order to mobilize influential public opinion […]. Very often, in order to attract the attention of public opinion, protesters use illegal forms of action (e.g., blockades and occupations). Even when they do not, protest actions disrupt the public order.“ Protestgruppen versuchen, „den demokratischen Betrieb von außen zu irritieren und zu beeinflussen.“ (Rucht 2001: 29) Strategien können hier das „Imponieren durch möglichst massenhafte Mobilisierung, ein Demonstrieren der Ernsthaftigkeit eigener Überzeugungen, immer wieder auch eine Inszenierung von Störungen, die Aufmerksamkeit erzeugen und die eigene Entschiedenheit belegen“ (ebd.) sein. Ähnlich wie Della Porta (1996) formuliert es auch Baringhorst (2013: 16 f.): „Letztendlich zielt Protest auf die Erzeugung von Resonanz unter politischen, ökonomischen oder gesellschaftlichen Machteliten. Da Protestakteure nicht selbst am politischen Entscheidungsprozess beteiligt sind, müssen sie noch mehr als die Repräsentanten der etablierten Politik andere auf ihre Anliegen aufmerksam machen und für ihre Ziele und Forderungen gewinnen. Protestieren ist somit in der Regel kommunikatives, auf politische Öffentlichkeit gerichtetes Handeln.“
Politischer Protest ist jedoch keine Einwegkommunikation, sondern Interaktion. Er ist ein Austausch- und Entwicklungsprozess innerhalb der Gruppe der Protestierenden und nach außen mit seiner Umwelt. Involvierte Akteure sind häufig: Die Protestierenden, eventuelle Gegendemonstrant*innen, die Polizei, Zuschauer*innen oder auch die direkten Adressat*innen des Protests bzw. der Forderungen. Aus diesen vielfältigen Interaktionen ergibt sich häufig eine Anschlusskommunikation, die erneut Gegenstand vielfältiger Austauschprozesse sein kann. Ein Protest kann so bspw. auch dann erfolgreich sein, wenn die Aktion zwar scheitert, die Anschlusskommunikation aber dazu führt, dass das Anliegen dennoch auf die politische Agenda und in den Fokus der Öffentlichkeit rückt. Rucht (2001: 30) spricht hier von sogenannten „Issuekarrieren“.
Laut Fahlenbrach (2004: 130 f.) sind Soziale Bewegungen die wichtigsten Akteure in der öffentlichen Protestkommunikation und richten ihre Selbstorganisation und Mobilisierung nicht nur auf Protest aus, sondern zusätzlich auch auf institutionalisierte Einflussnahme und politische Macht. Da in dieser Arbeit Protest im Rahmen der Umweltschutz-Bewegung untersucht wird, spielen folglich Protestformen und -eigenschaften dieser Bewegung eine besonders wichtige Rolle. Formen wie Flashmobs oder Hacktivism, relativ untypisch für die Umweltschutz-Bewegung, werden im Folgenden deshalb vernachlässigt.3 Rucht (2007: 18) schreibt zum Verhältnis von Protest und Sozialen Bewegungen: „Protest ist das wichtigste Instrument für Soziale Bewegungen, da sie im Unterschied zu Interessenverbänden und politischen Parteien kaum über direkten Zugang zum politischen Entscheidungssystem, über politische Macht oder über größere finanzielle Ressourcen verfügen. Soziale Bewegungen mobilisieren vor allem Menschen, die sich – aus Überzeugung und zumeist unbezahlt – in den Dienst der Bewegungsziele stellen. Protest ist ein Mittel, um Kritik und Widerspruch zum Ausdruck zu bringen, um Beachtung und Gehör zu finden, um anzuklagen und politischen Druck zu erzeugen.“
Generell steht Protest „immer im Zeichen von Abgrenzung und Identitätssicherung: Im Protest formiert sich die expliziteste Form der Abgrenzung gegenüber einer Umwelt.“ (Fahlenbrach 2004: 130) Von dieser wird eine Veränderung erwartet, Protest richtet sich folglich immer an die anderen und enthält – manchmal klarer, manchmal diffuser formulierte – Forderungen. Laut Fahlenbrach (ebd.) repräsentiert Protest als Kommunikation intern und extern die kollektive Identität einer Protestbewegung: „Extern die öffentliche Repräsentation der eigenen Werte und Ziele durch Aktionen und Kampagnen mit dem Ziel, Erwartungsdruck auf Entscheidungsträger auszuüben. […] Intern leisten Protestaktionen die kollektive Selbstvergewisserung. Protestkommunikation fördert die symbolische Vergemeinschaftung einer Bewegung und ermöglicht somit ein hohes Identifikationspotenzial […].“ Der Aspekt kollektiver Identität wird später in der Analyse ausführlich diskutiert. An dieser Stelle spielt er aber auch in der Theorie schon eine tragende Rolle, denn die Herausbildung einer kollektiven Identität ist eines der prägenden Merkmale von Straßenprotest.

2.1.2 Soziale Bewegungen

Ob 1968er-Bewegung, Frauen-Bewegung und Faschistische Bewegungen in der Vergangenheit oder Datenschutz-Bewegung, Anti-Globalisierungs-Bewegung und Umweltschutz-Bewegung in der Gegenwart – Soziale Bewegungen haben viele Gemeinsamkeiten, doch immer auch deutliche Unterschiede. Sie haben verschiedene Ziele, nutzen verschiedene Medien und Kanäle, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen und gestalten Straßen- und Netzprotest auf verschiedene Art und Weise. Jedoch haben sie gemeinsam, dass sich in den Bewegungen Menschen zusammengefunden haben, die für ihre Ideale und Vorstellungen einstehen wollen und Ressourcen mobilisieren, um ihre Forderungen zu erreichen. Sie sehen ihre Interessen in der jeweils gegenwärtigen Politik nicht (ausreichend) vertreten, wollen sich darüber hinaus selbst organisieren und aktiv werden. Im vorangegangenen Abschnitt wurde der Begriff des Protests definiert und dessen Bedeutung für Soziale Bewegungen schon angedeutet. Da sich die vorliegende Arbeit mit der Umweltschutz-Bewegung beschäftigt, soll der Fokus nun explizit auf Sozialen Bewegungen liegen. Dazu werden Soziale Bewegungen definiert und ihre Eigenschaften dargelegt.
In den Sozialwissenschaften versteht man Soziale Bewegungen als „auf gewisse Dauer angelegte und durch kollektive Identität abgestützte Handlungssysteme mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mit Mitteln des Protests herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen.“ (Rucht 1994: 76 f.) Laut Rucht (2007: 15) sind Soziale Bewegungen „eine besondere Form der Vertretung gesellschaftlicher bzw. politischer Interessen. Diese Funktion teilen sie mit Parlamenten, Regierungen, Parteien und Verbänden.“ Gegensätzlich zu Regierung und Parlament sind sie jedoch keine staatlichen Akteure. Außerdem werden Soziale Bewegungen nicht durch gesetzlich geregelte Verfahren bestellt und sind nicht mit formellen Entscheidungskompetenzen ausgestattet. Im Vergleich zu Parteien sind Soziale Bewegungen keine Organisationen, für die der Machterwerb durch die Besetzung von Ämtern basierend auf Wählerstimmen von Relevanz ist. Herkömmliche Verbände, bspw. der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC), wiederum vertreten im Gegensatz zu Sozialen Bewegungen die Interessen einer klar definierten Mitgliedsgruppe durch ihre politischen Verhandlungen oder Lobbying.4
Rucht (ebd.: 16 ff.) beschreibt Soziale Bewegungen detaillierter anhand von vier Eigenschaften: Erstens zielen sie auf die Grundlagen von Gesellschaft, zweitens weisen sie strukturell einen mittleren Organisationsgrad auf, drittens stützen sie sich auf kollektive Identitäten und viertens zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie als Ausdrucksmittel oft den kollektiven und öffentlichen Protest wählen. Soziale Bewegungen wollen mehr bewirken, als nur politische Repräsentant*innen auszutauschen, ein einzelnes Kampagnenziel zu erreichen oder ein bestimmtes Gesetz zu verändern: Sie werfen Fragen der gesellschaftlichen Machtverteilung auf, stellen vorherrschende soziale Normen infrage und hinterfragen das politische Ordnungssystem. Der mittlere Organisationsgrad von Sozialen Bewegungen lässt sich daran ablesen, dass sie sich einerseits von kurzlebigen oder spontanen sozialen Phänomenen wie einer Panik, aber andererseits auch von solchen auf Dauer angelegten wie der Kirche oder einer Partei unterscheiden. Sie beziehen in ihre Arbeit zwar häufig Organisationen mit ein, sind jedoch selbst keine. „Sie verfügen über keine Statuten und verbindlichen Programme, wählen keine mit formeller Entscheidungskompetenz ausgestatteten Führungsorgane, stellen keine Mitgliederausweise aus. Bewegungen existieren vielmehr als ein netzwerkförmiger Verbund von Personen, Gruppen und Organisationen.“ (Rucht 2007: 16 f.) Einzelne Teile einer Sozialen Bewegung können zwar hierarchisch oder formell aufgebaut sein (bspw. mit offiziellen Sprecher*innen einer Bewegung), sie sind jedoch nur lose und nicht-hierarchisch mit anderen Bereichen verknüpft. Die dritte Eigenschaft von Sozialen Bewegungen ist die kollektive Identität, auf die ihre Arbeit gestützt wird. Ein starkes Wir-Gefühl auf der Basis von gleichen Werten, Zielen und Problemwahrnehmungen, eine klare Abgrenzung zum Gegner (und eventuell zu anderen Organisationen) und ein gemeinsames Auftreten z. B. mit einheitlichen Plakaten, Symbolen oder Kleidungsstücken prägen diese kollektive Identität.5 Die letzte Eigenschaft Sozialer Bewegungen ist ihr bevorzugtes Mittel des kollektiven und öffentlichen Protests: „Der öffentliche Protest ist zwar nicht ausschließlich sozialen Bewegungen vorbehalten, bildet für sie aber die zentrale Form der öffentlichen Selbstdarstellung und politischen Einflussnahme.“ (ebd.: 18) Ein Großteil der Menschen, die durch Soziale Bewegungen mobilisiert werden, engagieren sich ehrenamtlich und aus Überzeugung.
Demokratie ermöglicht das Entstehen Sozialer Bewegungen, aber nicht jede Soziale Bewegung unterstützt automatisch auch Demokratie. Nicht-demokratische und anti-demokratische Aktivist*innen nutzen ebenso bewegungstypische Formen wie Märsche, Massenveranstaltungen, Demonstrationen und andere, um ihre Ideen zu verbreiten. Wann (und wann nicht) Soziale Bewegungen Demokratie bzw. Demokratisierung unterstützen haben u. a. Tilly (2003) und Rucht (2007) untersucht.6

2.1.3 Internet und Social Media

Bevor Online-Aktivismus, seine verschiedenen Formen und die dazu benötigte Infrastruktur beschrieben werden können, erfolgt eine Definition der Begriffe Internet und Social Media.
Laut Chadwick (2006: 2) kann eine Politisierung des Internets beobachtet werden, welche er als „a struggle for control, coupled with new uses of its technologies for political ends“ bezeichnet. Doch was genau ist das Internet? Chadwick unterscheidet bei der Beantwortung dieser Frage zwischen einer technischen und einer vergleichenden Antwort. Die technische Antwort konzentriert sich auf Netzwerke, technische Standards und Protokolle: „The internet is not a single entity but a collection of entities, a relatively decentralized network of networks. This network of networks joins together hundreds of millions of computing and communication devices of varying types, running various software programs. […] What allows these different computers and networks to communicate are common standards and software protocols.“ (ebd.: 4) Der vergleichende Ansatz konzentriert sich auf die Frage, wie sich das Internet von anderen Typen massenmedialer Kommunikation unterscheidet. Dies lässt sich am besten anhand der Struktur der verschiedenen Formen aufzeigen (vgl. ebd.: 4 f.): Zeitung, Radio und Fernsehen sind sogenannte „One-to-many“-Kommunikationsformen, während Telefon und Telegramm eine „One-to-one“-Form verfolgen. Technologien wie E-Mail, Chat oder Instant Messaging erlauben ebenso eine „One-to-one“-Kommunikation und Webseiten, digitale Dokumente und Daten-Aufbewahrungsorte basieren auf „One-to-many“-Strukturen. Das Internet bietet nun neue Strukturen: „Many-to-many“ und „Many-to-one“. Bei der Kommunikation in E-Mail-Verteilern, auf Weblogs und Online-Foren empfangen und produzieren viele Menschen gleichzeitig Informationen (Many-to-many). Feedback-Foren, E-Mails und Online-Umfragen wiederum sind Wege, wie viele Nutzer einer Person direkt Information zukommen lassen können (Many-to-one) – bspw. einem Webseiten-Hersteller, dem Autor einer Nachricht in einem Diskussions-Forum oder einer Politikerin.
Insbesondere „less-powerful groups, whose voices may be absent from mainstream channels like the press and television“ (ebd.: 6) können sich im Internet mehr Gehör verschaffen und lösen sich aus der Abhängigkeit der klassischen Massenmedien. Außerdem erlaubt das Internet mehr Interaktivität und Einmischen bzw. selbst zu recherchieren als es zuvor möglich war. „Compared with the relatively passive consumption of broadcasting, cyberspace is a more interactive and participatory communication ecosystem in which it becomes more difficult for the powerful to intervene to draw discussion to a close.“ (ebd.) Neben dem Wandel der Rolle von Nutzer*innen zu gleichzeitigen Produzent*innen (siehe Stichwort Produser7 im Folgenden), ändert sich auch die Rolle von Regierungen und Kontrollinstanzen. Zusammenfassend lässt sich Chadwicks (2006: 7) Definition von Internet heranziehen: „The internet is a network of networks of one-to-one, one-to-many, many-to-many, and many-to-one local, national, and global information and communication technologies with relatively open standards and protocols and comparatively low barriers to entry.“
Wenn es um digitale Protesträume und Online-Aktivismus geht, ist insb. der Bereich von Social Media von großer Bedeutung. Denn neben bspw. Online-Petitionen spielen Facebook, Twitter und Co. häufig eine große Rolle bei der Mobilisierung von Protest, sowie bei der Verbreitung von politischen Meinungen und Themen. Die ursprüngliche Definition von Social Media – oder auch Web 2.0 genannt – stammt von O’Reilly (2005). Demnach basiert das Konzept des Web 2.0 auf sieben Prinzipien: Dienste, keine Paketsoftware, mit kosteneffizienter Skalierbarkeit; Kontrolle über einzigartige, schwer nachzubildende Datenquellen, deren Wert proportional zur Nutzungshäufigkeit steigt; Vertrauen in Anwender als Mitentwickler; Nutzung kollektiver Intelligenz; Erreichen des „Long Tail“ mittels Bildung von Communities etc.; Erstellung von Software über die Grenzen einzelner Geräte hinaus und leichtgewichtige User Interfaces, Entwicklungs- und Geschäftsmodelle.8 Social Media kann beschrieben werden als eine Gruppe von Internet-basierten Anwendungen, welche die ideologische und technische Grundlage des Web 2.0 bilden und die Entwicklung und den Austausch von nutzergeneriertem Inhalt (User-generated Content) erlauben (vgl. Kaplan/Haenlein 2010: 61). Web 2.0 ist die Software Plattform, auf welcher die Technik entwickelt wurde, die wir heute Social Media nennen. Laut Breindl und Francq (2008: 19) ist es nicht leicht, eine einheitliche Definition des Konzepts Web 2.0 zu finden, doch über einen Aspekt herrscht weitestgehend Einigkeit: „the idea that everybody can contribute to the production of content on the internet. The role of internet surfers dramatically changes: from a ‘passive consumer of information’, users become active organisers of online content. […] As a consequence, the internet content becomes more decentralised than ever before.“
Aufgrund des veränderten Rollenverständnisses von Produzent*innen und Nutzer*innen spricht Bruns (2008) von „Produsage“ – einer Wortkombination aus Production und Usage. Der Begriff beschreibt die Koppelung von Praktiken der Medienrezeption und -produktion. Bruns veranschaulicht dies u. a. an Weblogs, Wikipedia, YouTube und Flickr. Aufbauend auf die Arbeiten von Toffler (1990), Shirky (1999) und Benkler (2006) entwickelt Bruns ein Konzept, das die Grenzen zwischen Konsum und Produktion verschwimmen lässt: „In collaborative communities the creation of shared content takes place in a networked, participatory environment which breaks down the boundaries between producers and consumers and instead enables all participants to be users as well as producers of information and knowledge – frequently in a hybrid role of produser where usage is necessarily also productive.“9
Laut Baringhorst (2014: 104 f.) ist ein Anstieg von politischer Beteiligung in Form von kreativen Machern und gesellschaftskritischen Produsern jedoch nicht zu erwarten. Die 1:10:100 Regel des User-generated-Content – eine Person produziert den Inhalt, zehn User*innen leiten den Inhalt weiter und 100 Personen lesen den Inhalt – gilt auch für die Erzeugung von protestkulturellen Inhalten im Internet. Folglich ist nicht zu erwarten, dass sich die Partizipationspyramide bzgl. des Gesamtaktivitätsaufkommens wesentlich verändert oder gar umkehrt (vgl. ebd.: 105) (Abbildung 2.1).

2.1.4 Information and Communication Technologies (ICTs)

Van de Donk et al. (2004) untersuchen ICTs auch mit Blick auf die Umweltschutz-Bewegung. Die Autor*innen stellen fest, dass sich in Bezug auf Ideologie, Thema, Struktur und Strategien einige Charakteristika der Umweltschutz-Bewegung und ihrer Nutzung von ICTs beschreiben lassen (vgl. ebd.: 14 ff.). Von den oft unterschiedenen ideologischen Ausrichtungen „an apolitical conservationism, a political but mainly pragmatic environmentalism, and a more radical and fundamentalist political ecology“ (ebd.: 14) halten sie die pragmatischen Umweltschutz-Bewegungen für am geneigtesten, um mit ICTs zu arbeiten. Dies könne darauf zurückzuführen sein, dass diese Aktivist*innen rationelles Denken gewöhnt seien und gegenüber organisationalen und technischen Innovationen offener wären. Bezüglich der Themen sind nach Meinung der Autor*innen ICTs insb. bei transnationalen Themen und globalen Kampagnen im Einsatz: „we would hypothesize that the use of ICTs is particularly widespread and sophisticated in areas where transnational, let alone global, problems are tackled. A telling example is the concern about global warming and climate change.“ (ebd.: 15) Bei der Struktur von Organisationen gibt es eine große Bandbreite: Von kleinen, informellen und lokalen Organisationen zu großen, nationalen Mitgliedschaftsorganisationen, dezentralisierte oder zentralisierte Organisationen oder lose verknüpfte, aber transnational agierende Organisationen. Zwei scheinen ICTs im Besonderen zu nutzen: Erstens große und mächtige Organisationen, wie der Sierra Club in den USA, die früh die Vorteile der neuen Techniken für die interne und externe Kommunikation entdeckt und sich zu Nutze gemacht haben und zweitens Organisationen, die ein großes geografisches Territorium abdecken und so – selbst mit wenigen Ressourcen – effektiv und günstig mit Unterstützer*innen auf der ganzen Welt in Kontakt bleiben und diese mobilisieren können. Van de Donk (ebd.: 16) nennt dazu „groups such as Greenpeace International, Friends of the Earth International and the World Wide Fund for Nature […] who were early adopters of ICTs and continue to use them extensively.“
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass insb. themenzentrierte und transnationale Kampagnen häufig durch starken ICTs-Einsatz geprägt sind. Die Infrastrukturen des Internets erleichtern die Kommunikation bzw. traditionelle Protestformen, werden sie aber nicht ersetzen. Laut Van de Donk et al. (2004) fehlen der Fun-Faktor und die Gruppenerfahrung. Was das Internet jedoch kann, ist die unverzügliche und zeitsparende Mobilisierung über – wenn nötig – den ganzen Globus. ICTs ermöglichen die Zurverfügungstellung einer enormen Masse an Informationen, verändern die interne Struktur und Kommunikation in den Organisationen und erleichtern die Kommunikation zwischen allen Teilen der Organisation, sowie nach außen.

2.2 Protesträume

Im folgenden Abschnitt werden verschiedene Protesträume und ihre Eigenschaften thematisiert. Nach den Protesträumen Straße und Massenmedien liegt der Fokus verstärkt auf Protesträumen im Internet, bevor abschließend hybride Protesträume als Konsequenz der gegenwärtigen Entwicklungen beschrieben werden.

2.2.1 Protestraum Straße

Traditionelle Demonstrationen, Sit-Ins, Straßen-Blockaden und andere Formen des Straßenprotests – hier eignen sich Bürger*innen den Straßenraum an, funktionieren ihn um und vergewissern sich der eigenen kollektiven Identität. Besonders seit den 1960er Jahren wird die „Straße als kultureller Aktionsraum“ (Geschke 2009) genutzt, „als Ort der performativen Vergewisserung geteilter Werte, Ziele und Weltansichten sowie als Ort der politischen und kulturellen Einflussnahme.“ (Fahlenbrach 2009: 98) Mit einer um 1950 einsetzenden Orientierung an Inszenierungs- und Selektionsaspekten der Massenmedien stellt die Straße „als öffentlicher Raum heute für soziale Bewegungen eine Schnittstelle dar zwischen lokaler und globaler Öffentlichkeit.“ (ebd.) Bis heute ist die Straße die älteste und wichtigste Form öffentlichen Protests, nicht nur für Soziale Bewegungen, sondern auch für politische Parteien und andere Organisationen.10
In Anlehnung an Turner (1989) und Grimes (2006) beschreibt Fahlenbrach (2009: 99) Rituale als „performative Handlungsmuster, in denen die symbolische Ordnung einer sozialen Gruppe, nämlich ihre Leitwerte, ihre kollektive Identität sowie ihre emotionalen Orientierungen symbolisch reproduziert und von ihren Teilnehmern in gemeinschaftlichen Handlungen verkörpert und angeeignet werden.“ Insbesondere in Konflikt- und Krisensituationen sei es für Soziale Bewegungen wichtig, sich den gemeinsamen Identitäten und Werten zu vergewissern. Sie erleichtern es einer Bewegung bzw. den einzelnen Mitgliedern, sich als ein Ganzes zu sehen. Da dies für die Bewegungen von besonders großer Bedeutung sei, erzeugen sie entweder selbst Konfliktsituationen und setzen sich als kollektive Akteure bspw. dem politischen Staatsapparat gegenüber in Szene oder sie reagieren auf eine problematische Situation und benennen sie als Konflikt oder Krise (Beispiel Klimakrise). Solch eine Konfliktsituation kann für eine Soziale Bewegung ein „kollektives Schlüsselerlebnis“ (Fahlenbrach 2009: 99) sein und Protest sichtbar auf die Straße bringen. Denn die Straße „ist bis heute prominenter Ort für soziale Bewegungen, um in diesen Situationen geschlossen öffentlich aufzutreten. Indem sie durch Demonstrationen und andere expressive Protestaktionen die alltägliche Ordnung des öffentlichen Raumes blockieren, schaffen sie eine Ausnahmesituation, in der sie nicht nur nach außen hin Handlungsmacht symbolisieren, sondern in der sich zudem die einzelnen Teilnehmer mit den übergeordneten Leitwerten der Bewegung ideell, körperlich und emotional identifizieren.“ (ebd.: 100)11
Fahlenbrach (ebd.: 101) untersucht die mit den Ritualen der Interaktion verbundenen „performativen Kodes.“ Interaktion findet laut ihr „grundsätzlich unter den Vorgaben des jeweiligen öffentlichen Raumes und seiner kollektiven ‚Besetzung‘ statt und unterscheidet sich damit wesentlich von interpersonaler Interaktion.“ (ebd.) Die Interaktion zeichne sich aus durch expressive und symbolische Selbstdarstellung der Protest-Teilnehmer*innen mithilfe von Plakaten, Fahnen, eventuell einheitlicher Kleidung und der Körpersprache, durch Formen symbolischer Generalisierung wie Sprecher*innen oder Wortführer*innen und auch durch die ritualisierte Form der öffentlichen Protestaktion selbst. Bei dieser Performance verschmelze die personale Identität der einzelnen Teilnehmenden „mit dem intensiven körperlichen und emotionalen Erleben einer kollektiven Protest-Identität.“ (ebd.)
Der Körper und das physische Anwesend-Sein auf der Straße spielen folglich eine wichtige Rolle im Straßenprotest. Vom gemeinsamen Laufrhythmus über das Singen oder Rufen von Parolen und an der Hand fassen, bis hin zum Einhaken und Blockieren wird auf der Straße Protest körperlich erfahrbar und der/die Einzelne „Teil eines symbolischen Kollektivkörpers.“ (ebd.) Mit den körperlichen Ritualen sind häufig auch performative Protestcodes der visuellen, sprachlichen und körperlichen Kommunikation verbunden: Visuelle Symbole auf Plakaten, Liedtexte, Protestgesten wie die geballte Faust als Symbol der Arbeiterbewegung und andere (meist an den Habitus eines sozialen Milieus gebunden). Als historisch herausragendes Beispiel nennt Fahlenbrach die Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre, die mit ihrem anti-autoritären Grundverständnis die Sprache, den Lebensstil, die Kleidung und Umgangsformen einer ganzen Generation geprägt habe.

2.2.2 Protestraum Massenmedien

Während in Deutschland bis Mitte des 20. Jahrhunderts politische Parteien und Organisationen wie Gewerkschaften die öffentliche Protestkommunikation beherrschten, die Mobilisierung sich vor allem an Teilöffentlichkeiten im näheren Umfeld richtete und Demonstrationen meist als geschlossene Straßenmärsche mit Symbolen, Fahnen und Parolen stattfanden, wandelte sich die Protestkommunikation ab Ende der 1950er Jahre (vgl. Fahlenbrach 2004: 131). Grund dafür war insb. die neue Ausrichtung des Protests an den Massenmedien.12 Mit der Durchsetzung des Fernsehens zum kulturellen Leitmedium in den 1960ern trat eine Tendenz der Visualisierung und stärkeren Ereignisorientierung ein: „Indem massenmediale Öffentlichkeit zur zentralen Protest- und Mobilisierungsressource von Protestakteuren wird, muss Protestkommunikation in medienwirksame visualisierbare Formen gebracht werden.“ (ebd.: 132) Die Studentenbewegung der 1960er Jahre nimmt dabei eine wegweisende Rolle in der Geschichte der deutschen Protestkommunikation ein (vgl. Baringhorst 1998: 328). Denn erstmals ist Protest hier von einer medienwirksamen Verbindung von politischem und habituellem Protest gekennzeichnet: „Die Rückkopplung an neue Formen des Lebensstils macht die Proteste auf besondere Weise attraktiv für die mediale Berichterstattung.“ (Fahlenbrach 2004: 132) In der Studentenbewegung wird der Habitus zu einer wichtigen Mobilisierungs- und Konfliktressource und damit zu einem zentralen Antrieb der Bewegung. Die Massenmedien erweisen sich dabei als „Ort zur instrumentellen Durchsetzung der Bewegungsziele im öffentlichen Bewusstsein sowie gleichzeitig als Ort, an dem sich Protestbewegung expressiv ihrer neuen habituellen Leitwerte vergewissert.“ (ebd.) Die Studentenbewegung war damit in Deutschland die erste Bewegung, die sich mit ihren Protestformen an den Spielregeln der Massenmedien ausrichtete.13
Ereignisse der 1960er Jahre wie das Attentat auf Rudi Dutschke, der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag oder die Ermordung des US-amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King haben zu dieser Zeit massenhaft Leute auf die Straßen getrieben, doch die Straße entwickelte sich zu dieser Zeit nicht mehr nur zum Ort lokaler Öffentlichkeiten, sondern immer stärker auch als Ort massenmedialer Öffentlichkeit. Denn mit der Durchsetzung des Fernsehers als neues Leitmedium spitzte sich auch der Kampf um die Aufmerksamkeit des Publikums zu. Dies führte zu einer immer stärker an visueller Ereignisdramaturgie orientierten Berichterstattung über (Straßen-)Protestereignisse. „Straßenproteste, Happeningaktionen oder andere symbolische Protestaktionen auf der Straße fallen seitdem als Spektakel und visuelle Ereignisse in den ‚natürlichen‘ Fokus der Medien. Daher werden sie auch von den Aktionisten nicht mehr nur auf die lokale, sondern auch auf die überregionale und auch globale Öffentlichkeit ausgerichtet.“ (Fahlenbrach 2009: 104) Für die Aktivist*innen ist es von großer Bedeutung, eine erfolgreiche Anschlusskommunikation im politischen Zentrum der Gesellschaft zu erzeugen (vgl. Baringhorst 1998: 328). Gegner*innen bzw. Adressat*innen müssen überzeugt und „zur Übernahme der eigenen Situations- und Problemdefinition“ (ebd.) angeregt werden. Die Straße kann dabei als Ort globaler Protest-Öffentlichkeit wirken, weil es im Zeitalter der Massenmedien eine den Bildern zu verdankende transnational verständliche Mediensprache gibt. „Die Protestakteure setzen sich vor den Kameras in Szene, indem sie sich als symbolischer Kollektivkörper formieren, indem sie symbolische Aktionen inszenieren und Bilder, Plakate und Symbole verwenden, die als visuelle Protest-Kodes kultur- und sprachübergreifend verstanden werden.“ (Fahlenbrach 2009: 105) Die Regenbogenflagge14 der globalisierungskritischen Bewegung, eine Menschenkette oder auch die geballte Faust lassen sich kultur- und länderübergreifend verstehen. Der Straßenraum wird folglich bei Protestaktionen immer stärker dem medialen Raum angepasst und Aktionen an der medialen Ereignisdramaturgie der Massenmedien ausgerichtet. Professionelle PR-Maßnahmen werden verstärkt eingesetzt und sind mittlerweile kaum noch aus großen NGOs wegzudenken. Für solche massenmedial ausgerichteten Protestaktionen steht Greenpeace bis heute als Paradebeispiel: Waghalsige Aktionen mit beeindruckenden Bildern à la ‚David gegen Goliath‘ gehören zum Markenzeichen der Organisation. Greenpeace arbeitet erfolgreich mit einprägsamen Begriffen, Logos und Bildsymbolen, genießt vielerorts eine hohe Glaubwürdigkeit, vermittelt eine emotionale Eindringlichkeit ihrer Anliegen und bettet diese in übergeordnete, geteilte Wertezusammenhänge ein (vgl. Baringhorst 1998: 334 ff.).
Mit dieser Professionalisierung von Medienstrategien15 einher geht auch eine Institutionalisierung von Gegenmacht. Das Beispiel der Umweltschutz-Bewegung hat gezeigt, wie weit eine solche Institutionalisierung führen kann: Bis zur Gründung der Partei Die Grünen. Dieser Aspekt wird ausführlich in Abschnitt 4.​1 „Die Geschichte der Umweltschutz-Bewegung in Deutschland“ beschrieben.

2.2.3 Protestraum Internet

Die Möglichkeiten, das Netz für zivilgesellschaftliches Engagement zu nutzen, sind vielfältig. Ausgehend von der scheinbar grenzenlosen Verfügbarkeit von Informationen bieten neue ICTs zahlreiche Pendants zu Offline-Aktionen des Engagements: Online Geld spenden anstatt per Überweisungsschein, online Unterschriftenlisten unterzeichnen anstatt mit Stift auf Papier, online bestimmte Produkte oder Webseiten boykottieren anstatt bestimmte Geschäfte oder einzelne Produkte im Supermarkt nicht mehr aufzusuchen, E-Mails schreiben und weiterleiten anstatt Briefe schreiben und Flyer verteilen. Auch die Aufrufe und Mobilisierungsversuche für große Straßenprotestaktionen wie Demonstrationen oder Menschenketten verlagern sich von Plakaten und Flyern oder gar Telefonketten zu Online-Mobilisierungsmöglichkeiten, insb. über Kanäle der Sozialen Medien und E-Mails. Der folgende Abschnitt befasst sich mit dem Protestraum Internet. Es werden Möglichkeiten (und Grenzen) von Online-Protest, -Petitionen, -Mobilisierung und –Fundraising dargestellt und diskutiert. Anschließend wird ein Zwischenfazit zu den verschiedenen Protesträumen gezogen, der Begriff der Hybriden Protesträume eingeführt und damit zum nächsten Kapitel zu Hybrid-Organisationen, Grassroots-Campaigning und Hybrid Media Activism übergeleitet.
Occupy und Arabischer Frühling
Als erste global aktive Bewegung des Internetzeitalters lässt sich mit der Occupy-Bewegung veranschaulichen, was wir heutzutage unter Online-Aktivismus verstehen. Hier wurde direkt und teils in rasanter Geschwindigkeit in politische Ereignisse eingegriffen bzw. darüber berichtet. Parallel zu den Geschehnissen an der Wallstreet, also im Straßenraum, fand Protest immer auch in virtuellen Räumen statt, bzw. hatte dort ein virtuelles Pendant – dem Aktivismus im Netz folgte ein Aktivismus auf der Straße und vice versa: „Das Platzgreifen der Bewegung im Stadtraum ging Hand in Hand mit diesen viralen, prozessanstoßenden Kommunikationen. Infolge der gesendeten Blog-Einträge und Twitter-Feeds versammelten sich Tausende Menschen auf den Straßen, protestierten, besetzten Plätze, Parks und andere Freiräume in der Stadt und richteten sich im öffentlichen Raum auf Dauer ein.“ (Mörtenböck/Mooshammer 2012: 92) Laut Mörtenböck/Mooshammer (ebd.: 89) sei im Zuge der Occupy-Bewegung ein neues politisches Handlungsfeld entstanden, „mit dem wie nie zuvor politische Schauplätze rund um die Welt miteinander in Verbindung gesetzt wurden.“ Aus den Protesten sei eine „führungslose, dezentrale und netzwerkartig agierende Bewegung hervorgegangen, deren Markenzeichen nicht nur die Verweigerung klar formulierter Ziele, sondern auch eine radikale Weigerung, die eigenen Forderungen und Bedingungen in der Sprache traditioneller Proteste zu formulieren“ (ebd.: 89 f.) ist.
Die Nutzung neuer Protestformen im Netz lässt sich auch am Beispiel der sogenannten ‚Twitter-Revolution‘ veranschaulichen. Der Sammelbegriff beschreibt die Proteste und Aufstände der Jahre ab 2008, die u. a. mit Hilfe von Twitter koordiniert wurden. Die Revolutionen in Tunesien und Ägypten 2010/11, die den sogenannten ‚Arabischen Frühling‘ ausgelöst haben und die Proteste im Iran, die auf die manipulierten Präsidentschaftswahlen 2009 folgten, sind zwei bekannte Beispiele dieser Twitter-Revolution. „Blogs, YouTube, Twitter, Facebook und WikiLeaks boten sich bei all diesen Ereignissen als offene Plattformen an, um Informationen zu erlangen, Meinungen auszutauschen, Zusammenhänge herzustellen, Aufrufe zu versenden und Menschenmassen zu mobilisieren. Als unmittelbarer Feedback-Mechanismus ermöglichten Social Media Sites Teilnehmern der Proteste aber auch selbst und in Echtzeit zu beurteilen, wie Geschichte geschrieben wird.“ (ebd.: 91)
So äußern sich optimistische Stimmen zur sogenannten ‚Twitter-Revolution‘ und zum ‚Arabischen Frühling‘. Kritik kommt hingegen von Autoren wie Morozov (2013) und Gladwell (2010), die anmerken, dass entsprechende Tweets nicht aus dem Iran selbst gekommen seien, sondern von außerhalb und dass technologische Entwicklungen nicht zu einer Demokratisierung, sondern eher zum Gegenteil führen würden. Nämlich dahingehend, dass autoritäre Systeme, wie bspw. China, Internetnutzung stark einschränken würden und nicht nur Webseiten blockierten, sondern soziale Netzwerke sogar dazu nutzten, Protestgruppen zu infiltrieren und Protestierende zurückzuverfolgen (vgl. Morozov 2013). Gladwell (2010) stellt folglich fest: „the revolution will not be tweeted“.16
Online-Protest und Online-Mobilisierung
Nachdem die Begriffe Internet, Social Media und ICTs bereits definiert wurden, sollen im folgenden Abschnitt nun detaillierter die Besonderheiten von Online-Protest und Online-Mobilisierung dargestellt werden.
Soziale Bewegungen nutzen neue Formen der (Massen-)Mobilisierung über Newsletter, Tweets, Facebook-Posts und -Veranstaltungen und andere Kanäle und auch kleinere Bewegungen oder Organisationen sowie Privatpersonen haben neue Möglichkeiten, für ihre Kampagnen und Ziele zeit- und kostensparend zu mobilisieren. Laut März (2010: 222) „erleichtert das Internet als Kommunikations- und Protestmedium einerseits die Organisation klassischer Protestformen und ermöglicht andererseits die Erweiterung des Protestrepertoires hin zu Online-Protestformen.“ Zu den klassischen Protest- und Mobilisierungsformen wie Demonstrationen und Unterschriftenaktionen kommen nun „virtuelle Formen, die vom heimischen PC aus eine aktive Teilnahme an weltweiten Protestereignissen ermöglichen: Petitionen können online unterzeichnet werden, Protestbriefe oder Boykottaufrufe massenhaft per E-Mail verschickt werden, es finden sogar virtuelle Massendemonstrationen statt, deren Teilnehmer weltweit verstreut vor ihren Bildschirmen sitzen.“ (ebd.: 223) Doch virtuelle Protestformen ersetzen nicht die traditionellen Formen, sondern ergänzen sie, indem sie sie zusätzlich in einen virtuellen Protestraum übertragen. Für ihre Forschung, die Untersuchung unternehmenskritischer Kampagnen, stellt März (ebd.: 229) fest: „Die Systematisierung des Repertoires der Protestangebote in den untersuchten Kampagnen zeigt für jede Offline-Aktion ein Online-Pendant. In einigen Fällen ändert sich nur das Medium: Petitionen werden auf einer Website statt an einem Aktionsstand unterzeichnet, es werden E-Mails statt Protestbriefe versandt, Informationen werden per PDF-Dateien statt als Flugblatt verbreitet.“ Schaut man sich jedoch das Phänomen des sogenannten ‚Hacktivism‘ an, findet man auch Online-Protestformen, für die es kein Pendant in der Offline-Protestwelt gibt.
Kuhn (2006: 82) definiert Protest im Internet als „Missfallensbekundung bzw. den Einspruch gegen bestimmte soziale, wirtschaftliche und politische Inhalte, Prozesse oder Institutionen, der von Einzelpersonen oder Gruppen entweder im Internet selbst vorgetragen wird oder durch Aktivisten in der realen Welt, die via Internet mobilisiert wurden.“ Dank der im vorherigen Abschnitt beschriebenen ICTs ändern sich sowohl intern als auch extern die Kommunikations- und Mobilisierungsstrategien Sozialer Bewegungen. Akteure können sich schnell, kostengünstig und ortsunabhängig austauschen, interaktiv kommunizieren und Protestaktionen organisieren. Ganz nach der These „high impact on little resources“ (Scott/Street 2001) gehen viele Autor*innen davon aus, dass ICTs folglich insb. ressourcenarmen Organisationen mehr Handlungsmöglichkeiten und Einfluss verleihen (vgl. della Porta/Mosca 2004).
Schon in der Vergangenheit waren Kommunikationstechnologien einflussreiche Faktoren in der politischen Mobilisierung. In den demokratischen Aufständen der ehemaligen Ostblockländer der späten 1980er Jahre informierte das ausländische Satellitenfernsehen die Dissidenten über die Ereignisse im eigenen Land und chinesische Student*innen nutzten in ihren pro-demokratischen Demonstrationen 1989 insb. Faxgeräte. Doch das Internet mit seiner „Many-to-many“-Kommunikationsstruktur markiert einen noch stärkeren Umbruch in der Kommunikation, Mobilisierung und Partizipation als jede der vorherigen Technologien (vgl. Chadwick 2006: 114 f.).
Online-Mobilisierung definiert Chadwick (ebd.: 114) als „uses of the Internet by interest groups and social movements for political recruitment, organization, and campaigning“. Laut Chadwick haben sich einige Eigenschaften von Online-Mobilisierung bis Anfang der 2000er Jahre etabliert: Die Geschwindigkeit, mit der sich Veranstaltungen in einer digitalen Umwelt platzieren können, die bis dato verhüllte Unterstützung für Internet-spezifische Themen, die teilweise der Kontrolle der Regierung unterliegen, ein ziemlich einheitliches Ethos innerhalb der Online Communities und das Umgehen hierarchischer Strukturen von großen Interessengruppen, Regierungen oder großen Unternehmen durch E-Mails und andere Formen. In den letzten Jahren seien netzgestützte Kampagnen vermehrt auf die Bildfläche getreten und breiteten sich über das gesamte politische Spektrum aus (vgl. ebd.: 118). Heutzutage wäre wohl keine bzw. kaum eine Organisation in der Lage, ohne eine Online-Präsenz auszukommen und intern mit den Mitgliedern sowie nach außen hin zu kommunizieren.
Online-Protestformen
Mit der Verbreitung des Internets und dem vermehrten Einsatz von ICTs hat sich folglich das Repertoire an Protestformen erweitert, bestehende Protestformen haben sich weiterentwickelt, ein digitales Pendant dazu gewonnen und es sind ganz neue Formen entstanden. Im nun folgenden Abschnitt sollen einige Online-Protestformen, mitunter die meist genutzten und hier im Kontext wichtigsten, vorgestellt werden.
Campact, Avaaz, Change.org, WeAct, openPetition, usw. – täglich wird eine Vielzahl neuer Online-Petitionen auf einer der Plattformen erstellt. Mehrfach in der Woche kommt per E-Mail-Newsletter der Hinweis, sich diese oder jene Online-Petition anzuschauen, zu unterzeichnen, dafür zu spenden und sie weiterzuleiten. Heute gibt es so viele Online-Petitionen, dass es schwer fällt, den Überblick darüber zu behalten, welche Petition (aus persönlicher Sicht) nun wirklich wichtig ist und welche vielleicht weniger, welche Forderung auf welcher Website schon unterzeichnet wurde und welche noch nicht.
Die Verbreitung von Internet und ICTs und deren Anwendung auf die Protestform der Petition „has led to the implementation of appropriate technical components, like websites displaying the texts of initiatives to Internet audiences, tools to support campaigns, verify signatures and submit petitions to the officials who certify them.“ (Mosca/Santucci 2009: 122) Mosca und Santucci schreiben Online-Petitionen einen zweiseitigen Charakter zu, da sie einerseits als Bottom-up-Praktik ein Eingreifen in den politischen Prozess darstellen können, aber andererseits auch von politischen Institutionen betrieben werden, um die bürgerliche Partizipation zu steigern. Die Definition einer Online-Petition nach Mosca und Santucci (ebd.) umfasst „any petition consisting of the delivery of a claim or a recommendation to an institutional addressee, who is legally identified as responsible for petitions or not, using: a) informal e-petitioning channels selected from the bottom-up, and b) formal e-petitioning channels provided top-down.“ Online-Petitions-Plattformen, die top-down betrieben werden, gibt es auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene, bspw. die Petitionsplattform des Deutschen Bundestages https://​epetitionen.​bundestag.​de oder auf EU-Ebene die Plattform www.​petiport.​europarl.​europa.​eu des Europäischen Parlaments. Beide Plattformen involvieren – zumindest theoretisch – Bürger*innen in den politischen Entscheidungs- und Gestaltungsprozess und ermöglichen Interessierten, in Kontakt mit Institutionen und Entscheidungsträger*innen zu kommen. Im deutschen Fall des Petitionsausschusses des Bundestages müssen bspw. innerhalb von vier Wochen die digitalen Unterschriften von 50.000 Unterstützer*innen vorliegen, damit die entsprechende Petition das sogenannte Quorum erreicht hat und der Petent/die Petentin die Möglichkeit erhält, das Anliegen in einer öffentlichen Sitzung des Petitionsausschusses mit Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu diskutieren.17
Laut Mosca und Santucci (2009: 124) gibt es vier Idealtypen von Protestkampagnen basierend auf Online-Petitionen. Die Typologie ergibt sich durch die beiden Eigenschaften Adressat der Petition (Individuum oder Organisation) und Reichweite der Petition (hauptsächlich internationales Level und vom nationalen zum internationalen Level). Kreuzt man diese Eigenschaften, entstehen vier Idealtypen von Online-Kampagnen. Diese Typologie ist mittlerweile veraltet, da mit dem Aufkommen von Petitionsplattformen wie Change.org und WeAct nun nicht nur zwischen verschiedenen Adressat*innen von Petitionen (Individuum oder Organisation), sondern auch zwischen verschiedenen Petitions-Ersteller*innen unterschieden werden muss. Neben Kampagnen-Organisationen wie Avaaz und Campact, die Petitionen top-down mit einer zentralen Kampagnenführung betreiben, können heutzutage bottom-up auch einzelne Bürger*innen ihre eigenen Online-Petitionen erstellen. Drittens kann eine Online-Petition auch gemeinschaftlich von einem Individuum und einer kooperierenden NGO oder viertens nur von einer NGO ins Leben gerufen werden. Im gegenwärtigen Feld von Online-Petitionen müssen folglich mehrere Faktoren berücksichtigt und unterschieden werden: Wer hat die Petition erstellt (Individuum, Kampagnen-Organisation, NGO oder Individuum und NGO gemeinsam)? Wo steht die Petition online (Seite von Kampagnen-Organisation oder Seite von Regierung)? An wen richtet sich die Petition (Individuum oder Organisation)? Wie ist die Reichweite der Petition (lokal, national oder international)?
Die Kampagnen-Organisationen und Petitions-Plattformen, die in dieser Arbeit von besonderer Relevanz sind (MoveOn, Campact, WeAct und Change.org), werden in Abschnitt 4.​2 ausführlich als Forschungsgegenstand beschrieben. An dieser Stelle ist jedoch vorab wichtig anzumerken, dass in Deutschland das Feld der Online-Petitionen divers ist und es sowohl die Möglichkeit gibt, bei international agierenden Organisationen top-down gesteuerte Kampagnen zu unterstützen (Avaaz), als auch meist national angelegte Online-Petitionen von Kampagnen-Organisationen zu unterschreiben (Campact) oder auf Webseiten als Individuum eigene Online-Petitionen anzulegen (Change.org und WeAct) und dabei verschieden ausgeprägte Unterstützung eben dieser Organisationen zu erhalten. Genauso können auch auf Webseiten des Bundestages und EU Parlaments Petitionen eingereicht werden. Folglich kann bei Online-Petitionen immer zwischen „invented spaces“ und „invited spaces“ (Baringhorst 2019) unterschieden werden. Bis auf wenige Ausnahmen sind Online-Petitionen als Protestpraktiken (u. a. Baringhorst et al. 2017; Villioth 2019) und insb. auch die Ersteller*innen von solchen Petitionen (Voss 2021) noch wenig erforscht.
Die folgende Tabelle gibt aufbauend auf Mosca/Santucci (2009), aber ergänzend um die genannten neueren Entwicklungen, eine erste Übersicht über das Feld von Online-Petitionen und Beispiele des jeweiligen Typs. Während Voss (2015) nur die drei Dimensionen Adressaten, Ziele und Initiatoren berücksichtigt, basiert die folgende Tabelle auf den vier oben genannten Dimensionen Initiatoren, Ort, Adressaten und Reichweite (Abbildung 2.2).
Da an dieser Stelle und im späteren Verlauf die Begriffe (Online-)Kampagne bzw. Kampagnen-Organisation und Online-Petition bzw. Online-Petitions-Plattform eine häufige Verwendung finden, folgen dazu ein paar Erläuterungen: Als Online-Petition wird die digitale Erstellung einer Petition verstanden, also das Formulieren eines Anliegens und Richten dieses Anliegens an einen klar definierten Adressaten. Das alleine macht jedoch noch keine Kampagne aus. Da aber Online-Petitionen (in der Regel bzw. wenn sie denn zu Erfolg führen und eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollen) meist in weitere Aktivitäten wie das Bewerben dieser Petition auf Social-Media-Kanälen, über E-Mail oder per Mundpropaganda eingebunden sind, kann hier von Kampagnen gesprochen werden. Viele Online-Petitionen, besonders solche, die von einer Organisation wie Campact initiiert wurden, werden mit medienwirksamen Straßenaktionen beworben, beinhalten offline Unterschriftenübergabe-Aktionen und teilweise sogar Straßendemonstrationen oder Bündnisse mit anderen Organisationen und umfassen damit weitere Aktivitäten als nur die Petition selbst, welche zusammengenommen alle einer Kampagne zugerechnet werden können.
In ihrer Forschung über Protest im Internet konzentriert sich Earl (2006) hauptsächlich auf folgende vier Protestformen: Online-Petitionen unterzeichnen, E-Mail-Aktionen unterstützen, Briefschreibe-Kampagnen und Boykott-Aktionen. Genau wie die schon beschriebene Online-Petition sind auch E-Mail-Kampagnen und Online-Boykotte digitale Abwandlungen von einem – früheren, aber immer noch bestehenden – Offline-Pendant dieser Protestform. Bei E-Mail-Kampagnen muss teilweise die private E-Mail-Adresse verwendet werden, manchmal läuft eine E-Mail-Aktion jedoch auch über eine Webseite und Teilnehmer*innen schicken die E-Mail von der Webseite an Adressat*innen der Kampagne. Online-Boykotte unterscheiden sich von den anderen Formen dahingehend, dass es ein für einen gewissen Zeitraum andauerndes Verhalten eines Individuums ist, eine bestimmte Marke (z. B. Nestlé), ein Produkt (z. B. Palmöl) oder eine Vertriebsseite (z. B. Amazon.de) nicht zu unterstützen. Webseiten, die einen solchen Boykott hosten, enthalten demnach Informationen darüber, was genau boykottiert werden soll und warum. Einige Seiten „allow site visitors to record their participation, thereby producing a count of boycott participants, whereas other web sites do not track participation.“ (ebd.: 363) Briefschreibe-Kampagnen – ein durch E-Mails und Online-Petitionen leicht verdrängtes Phänomen – bedeuten, dass Interessierte auf einer bestimmten Webseite den entsprechenden Brief herunterladen und ausdrucken können, um ihn dann anschließend in Papierform zu verschicken.
Earl/Kimport (2011) untersuchen Konsequenzen des Internets für die Mobilisierung von Sozialen Bewegungen und kommen zu dem Schluss, dass die fundamentale Logik von Protest transformiert werden könne, wenn die Vorteile des Internets ganz ausgeschöpft würden. Das bedeute die Fähigkeit, Kosten für Mobilisierung zu reduzieren und Partizipation ohne notwendige physische Präsenz zu ermöglichen. So könnten kollektive Aktionen auch von Individuen und kleinen Gruppen organisiert werden. Als Set von möglichen Online-Praktiken benennen Earl/Kimport (ebd.: 43 ff.) die fünf „e-tactics“ Petitionen, Boykotte, E-Mail-Kampagnen, Brief- und Fax-Kampagnen, welche sich als Zwischenprodukt zwischen „e-mobilization“ und „e-movements“ (ebd.: 12) befinden. Die Autor*innen beschreiben auch das Aufkommen sogenannter „warehouse sites“: Webseiten, die verschiedene Formen von „e-tactics“ beherbergen, oft unabhängig von bestimmten Themen oder Bewegungen, und die mit zahlreichen Petitionen, Boykotten und E-Mail-Kampagnen Online-Protest verändern.18 Insbesondere auch, weil sie eine schier unendliche Zielgruppe hätten, die innerhalb von Momenten mobilisiert werden könne. Dieser „flash activism“ (Earl/Kimport 2011: 65 ff.) sei in der Lage, unvermittelte Antworten auf tagesaktuelle (politische) Geschehnisse zu geben und sei damit gegenüber den traditionellen Strategien von Sozialen Bewegungen im Vorteil.
Mit dem Thema Rekrutierung und Spendensammeln im Rahmen von Social Media haben sich u. a. Lewis/Gray/Meierhenrich (2014) auseinandergesetzt. Sie untersuchten am Beispiel der Aktion Save Darfur Recruitment- und Fundraising-Strategien auf Facebook. Ihrer Meinung nach bietet Facebook „an unprecedented opportunity to examine both these facets of online activism. Although researchers have increasingly turned to Facebook to learn about friendship networks […], less attention has been paid to the website’s role in social mobilization.“ (ebd.: 2) Für ihren Fall fanden sie heraus, dass verglichen mit der Anzahl an Unterstützer*innen dieser Bewegung (1,2 Millionen), die Unterstützung auf der Social-Media-Plattform Facebook in Form von Spenden und der Rekrutierung weiterer Unterstützer*innen, sehr gering ausfiel. Weiterhin hätten häufig diejenigen, die niemanden zum Netzwerk hinzuziehen können, auch nichts gespendet, aber solche, die spendeten, konnten auch erfolgreich rekrutieren. Die Autor*innen schlussfolgern: „Facebook is less useful a mobilization tool than a marketing tool. […] [A]lthough it enabled more than 1 million individuals to register their discontent with the situation in Darfur, it largely failed to transform these initial acts of movement participation into ‘a deep and sustained commitment to the work’ (Land 2009: 220).“ (Lewis/Gray/Meierhenrich 2014: 7) Damit ist Facebook in diesem Fall ein Beispiel für sogenanntes ‚weak-ties commitment‘.
Betrachtet man Social-Media-Aktivitäten im Einzelnen und ihre Beziehung zu Protest, so stellt sich die Frage, wo Protest in diesem Kontext anfängt. Zählt schon das Liken von politischen Beiträgen oder Fotos zu Protest? Oder zumindest das Teilen solcher Beiträge? Sind öffentlich geäußerte politische Kommentare und Meinungen Protest oder ist es erst das Verändern eines Profilfotos mit politischer Aussage, bspw. die Einfärbung einer Regenbogenflagge als Solidarisierungszeichen mit der LGBTQI* Community (vgl. Halupka 2014)? Oder beginnt Protest erst beim Unterzeichnen und Weiterleiten von Online-Petitionen über Social Media und einer Veröffentlichung des Unterzeichnens mit der Hoffnung, dass Freund*innen und Bekannte aus dem Social-Media-Netzwerk ebenso unterschreiben? Im Folgenden wird als Protest auf Social Media verstanden, was einen Prozess der Informationsbeschaffung, Wissensaneignung oder sonstigen zeitlichen Aufwand voraussetzt und damit als explizite Investition der Ressource Zeit verstanden werden kann. Das Teilen eines Zeitungsartikels mit politischem Inhalt auf Social Media wird also dann als Protest verstanden, wenn der/die Nutzer*in den Artikel zuvor aufmerksam gelesen und eventuell beim Teilen dazu noch einen begleitenden Text formuliert hat. Die öffentliche Äußerung einer politischen Meinung, der Aufruf an etwas teilzunehmen (sei es eine Straßendemonstration oder eine Online-Petition) und damit für Protest zu mobilisieren – solche Aktivitäten können als schwache Formen von Protest auf Social Media verstanden werden. Das Lesen und Teilen von Informationen in den Freundes- und Bekanntenkreisen über Facebook & Co. stellt für einige Nutzer*innen den ersten Schritt hin zu Protest dar. Aufwendiger wird es dann beim Verfassen von Newslettern, Blogeinträgen oder Wikis. Die Beteiligung an diesen Formaten erfordert deutlich mehr Zeitaufwand und oft auch mehr Wissen, als das Teilen von politisch motivierten Tweets oder Facebook-Einträgen (siehe Stichwort Produser zuvor).
Häufig nochmal aufwendiger und wiederum oft auch verwoben mit offline Sphären sind Praktiken des Boykotts und Buycotts. Genau wie in einem Supermarkt können auch online bestimmte Produkte und Händler gemieden oder ebenso explizit unterstützt werden (vgl. u. a. Forno 2015).
Ein häufiger Kritikpunkt beim Unterzeichnen von Online-Petitionen ist, dass es so wenig Zeit kostet und Unterstützer*innen ohne jegliche Kenntnisse zum Thema Petitionen mit nur einem Mausklick unterzeichnen könnten – vielleicht basierend auf der Empfehlung eines vertrauensvollen Freundes oder nur durch das Zusenden der Online-Petition durch eine Kampagnen-Organisation wie Campact. Kritische Literatur lässt dabei häufig außer Acht, dass es nicht nur um das Unterzeichnen der Petitionen geht, sondern dass auch eine Vielzahl von Aktiven selbst Online-Petitionen erstellt und dass dies – egal ob alleine als Privatperson oder in Kooperation mit einer NGO – einen großen Zeitaufwand bedeutet. Inhaltliche Vorrecherche, das Schreiben des Petitionstexts, die Verbreitung der Online-Petition über Social-Media-Kanäle, das Mobilisieren der Unterstützer*innen für weitere Aktionen, eventuelle Kommunikation mit Presse oder der Kampagnen-Plattform selbst und andere Aktivitäten erfordern einen erheblichen Zeitaufwand und können nicht als einfacher Clicktivism abgetan werden, sondern stellen ein komplexes Zusammenwirken von Online- und Offline-Praktiken dar (vgl. Baringhorst et al. 2017; Villioth 2019).
Neben diesen Möglichkeiten des Online-Aktivismus gibt es, wie schon erwähnt, noch die allein im Netz stattfindende Protestform des Hacktivism (vgl. Jordan 2008, 2002; Jordan/Taylor 2004). Auf diese Form des Aktivismus wird im Folgenden nicht weiter eingegangen, da sie für die vorliegenden Untersuchungsfälle keine Relevanz hat.
Eine aktuelle Übersicht und Typisierung digitaler Aktivismuspraktiken haben Fielitz/Staemmler (2020) ausgearbeitet. Darin unterscheiden sie zwischen den fünf Varianten Klick-Aktivismus, Hashtag-Aktivismus, Kampagnen-Aktivismus, Hacktivismus und Tech-Aktivismus und kommen für die ersten drei Varianten ähnlich wie Baringhorst et al. (2017) und Villioth (2019) zu dem Schluss, dass die beste Wirksamkeit dieser Protestpraktiken über eine Kombination von Online- und Offline-Kommunikationsräumen erreicht werden kann (vgl. Fielitz/Staemmler 2020: 437). Die letzten beiden Varianten verstehen digitale Medien hingegen nicht als „Mittel zum Zweck“, sondern machen „die Gestaltung digitaler Kommunikationsräume selbst zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung.“ (ebd.)
Insbesondere der Bereich des Hashtag-Aktivismus hat in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen (vgl. Rambukkana 2015). In Deutschland löste im Jahr 2013 der Hashtag #aufschrei eine umfangreiche Debatte zum Thema Alltagssexismus aus. Der Diskurs startete auf Twitter, verbliebt jedoch nicht in einer reinen Online-Sphäre (vgl. Meßmer 2014). Im Radio, in Zeitungen und Fernsehen wurde über Sexismus debattiert und der Hashtag #aufschrei für diese medienübergreifende Diskussion sogar mit dem Online Grimme Award ausgezeichnet.19 Ein ähnlicher Diskurs entspann sich ab Oktober 2017 in den USA unter dem Hashtag #metoo. Im Kontext der Vorwürfe zahlreicher sexueller Belästigungen und Vergewaltigungen u. a. gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein riefen Betroffene dazu auf, unter dem Hashtag #metoo persönlichen Erfahrungen zu teilen und auf das Ausmaß sexueller Belästigungen aufmerksam zu machen. Alleine am ersten Tag wurde der Hashtag #metoo 200.000 Mal verwendet, am Folgetag wurden bereits eine halbe Millionen Tweets dazu veröffentlicht. Auf Facebook wurden innerhalb von 24 Stunden zwölf Millionen Beiträge zu dem Thema verfasst. Doch auch der Hashtag #metoo war bzw. ist kein reines Online-Phänomen und hatte offline nachhaltige, politische Konsequenzen. Die Hashtags #aufschrei und #metoo sind zwei eindrucksvolle Beispiele dafür, wie Netzprotest – oder hier im Besonderen Hashtag-Aktivismus – über Mediengrenzen hinweg Aufmerksamkeit erlangen und gesellschaftliche Debatten anstoßen kann. Während nur selten Protestaktionen im Internet, Online-Petitionen oder gar Hashtags Einzug in die Berichterstattung klassischer Massenmedien finden und sogenannte ‚Spill-over-Effekte‘ beobachtet werden können, ist es bei der Sexismus-Debatte gelungen, online wie offline Öffentlichkeit aktiv mitzugestalten.
Hashtag-Aktivismus wird besonders stark im Bereich von „Race and Gender Justice“ (Jackson/Bailey/Foucault Welles 2020) genutzt. Auch über das Thema sexuelle Belästigung hinaus untersuchen verschiedene Studien und Autor*innen die Rolle von Hashtag-Aktivismus für Feminismus (vgl. Drüeke 2015; Drüeke/Zobl 2016; Crossley 2018, 2015) und sexuelle Identität (vgl. Rambukkana 2010, 2007). Unter Hashtags wie #BlackLivesMatter, #ICantBreath, #GeorgeFloyed oder #JusticeForBreonnaTaylor versammeln sich tausendfach Tweets und politische Wortbeiträge auf unterschiedlichen Social-Media-Kanälen zum Thema Rassismus (vgl. Jackson/Bailey/Foucault Welles 2020). Doch auch im Kontext von Black-Lives-Matter-Protesten beschränken sich die Praktiken nicht auf eine Online-Sphäre. Insbesondere in den USA (vgl. Hirschfelder 2016), aber auch in zahlreichen anderen Ländern auf verschiedenen Kontinenten, organisieren Unterstützer*innen Straßenproteste und andere Protestaktionen um auf Rassismus – häufig in Kombination mit Polizeigewalt – aufmerksam zu machen.20
Das Netz bietet nicht nur viele Möglichkeiten für Protest, es kann auch selbst zum Thema des Protests werden. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Zensursula-Kampagne aus dem Jahr 2009, in der die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen für ihren Vorschlag der Sperrung kinderpornografischer Seiten kritisiert wird (vgl. Baringhorst 2013). Auch das umstrittene ACTA-Abkommen (Anti-Counterfeiting Trade Agreement) hat für ein netzpolitisches Thema Tausende auf die Straße getrieben oder im Netz zu Aktionen mobilisiert. „Konkret geht es bei dem nicht zuletzt wegen der massiven Proteste 2012 vor dem Europaparlament abgelehnten Abkommen aus Sicht der Netzaktivisten vor allem darum, dass geistige Eigentumsrechte nicht zulasten der offenen und kollaborativen Wissenskultur im Netz durchgesetzt werden sollen.“ (ebd.: 23) Neben der Forderung nach Netzfreiheit und Netzneutralität ist ein Anliegen von Netzaktivist*innen auch mehr Transparenz für und Einbeziehung von Bürger*innen in der Politik. Beispiele hierfür sind Abgeordneten-Watch, CorporateWatch oder LobbyControl: Plattformen zur Beobachtung des Verhaltens von Abgeordneten, Unternehmen und Lobbyist*innen.21

2.2.4 Zwischenfazit: Protesträume als hybride Räume

Neben traditionellen Massenmedien wird Protest schon seit vielen Jahren immer stärker mit virtuellen Räumen der Sozialen Medien verbunden. Soziale Bewegungen treffen hier auf (neue) Möglichkeiten der massenhaften Mobilisierung. Kostengünstige, schnelle und einfache Kommunikation zwischen Organisation und Unterstützer*innen lässt neue und vielfältige Protesträume entstehen. Doch „paradoxerweise erleben in dieser globalen Protestkommunikation lokale Straßenaktionen eine Renaissance. Denn die Professionalisierung und Institutionalisierung der großen etablierten Bewegungen hatte bereits dazu geführt, dass große Massendemonstrationen immer mehr in den Hintergrund rücken, zugunsten von einzelnen Symbolaktionen, die von Organisationseliten gezielt für die Massenmedien inszeniert werden […]. Durch das Internet formieren sich nun neue Graswurzelbewegungen und organisieren sich Basisgruppen, die vernetzt an vielen Orten der Welt agieren.“ (Fahlenbrach 2009: 106) Insbesondere aus Gründen der kollektiven Identitätsbildung ist und bleibt die Straße auch für sich überwiegend im Netz formierenden Bewegungen von ganz besonderer Bedeutung. Denn oft ist es auf der Straße, wo sich die global und über das Internet mobilisierten Demonstrierenden zum ersten Mal physisch treffen. „Das performative Erleben von ‚kritischen Ereignissen‘ und von Gemeinsamkeiten ist für diese Bewegung von umso größerer Bedeutung, als sie ihre Protestgemeinschaften ansonsten vorwiegend im virtuellen Raum erleben. Straßenaktionen sind daher gerade für ‚Netzbewegungen‘ hervorgehobene Ereignisse, weil sich die Protestakteure hier kognitiv, emotional und körperlich der gemeinsamen Ziele, Werte und Motive vergewissern können.“ (ebd.) Nur bei diesen physischen Konfrontationen können Protestierende gemeinsame Erfahrungen machen, welche für die kollektive Identitätsbildung von so großer Wichtigkeit sind. Von Beginn an und bis heute haben Straßenaktionen die Aufgabe, die Bindung der Einzelnen an die Organisation oder Bewegung zu stärken und neue Anhänger*innen zu mobilisieren. Dank modernster Technik können Bilder und Nachrichten von Straßenprotest innerhalb von Sekunden Einzug in Kanäle der Sozialen Medien halten und insb. dieses Material, welches von Protestteilnehmenden vor Ort zu Verfügung gestellt wird, trägt dazu bei, dass die Teilnahme an einem Straßenprotest als authentische und reale Teilnahme an einem Kollektivereignis gesehen wird. „Es transportiert den aktionistischen Geist des ‚Hier und Jetzt‘, der gerade für basisdemokratische Bewegungen ein bedeutsames ideelles Moment darstellt. Für sie ist die Straße der Ort, an dem ‚autonome‘ bzw. ‚authentische‘ Öffentlichkeit hergestellt werden kann.“ (Fahlenbrach 2009: 107)
Damit wird die Straße zur Schnittstelle zwischen lokalen, massenmedialen und virtuellen Räumen. Entsprechend spricht Hamm (2006) von „hybriden Protesträumen“. Diese sollen im Folgenden vorgestellt werden.
Laut Hamm (ebd.: 78) verhielten sich viele politische Gruppen bis Mitte der 1990er Jahre noch skeptisch oder sogar ablehnend gegenüber neuen Technologien und Entwicklungen. Ende der 1990er Jahre kam die Prognose auf, neue Medien würden zu einer Abnahme von Straßenprotest führen bzw. zu einer Verlagerung zivilen Ungehorsams ins Internet. Laut Hamm (ebd.) „erwies sich die Vorstellung, Medienpraxis würde Straßenproteste ersetzen, sowohl in ihrer technikpessimistischen wie in ihrer technikeuphorischen Version als unzutreffend. Stattdessen hat sich mittlerweile eine Praxis entwickelt, in der Mediennutzung und mediale Selbst-Repräsentation zu integralen Teilen des lokal gebundenen Straßenprotests werden.“ Der Umgang mit Medien werde häufig nicht mehr als ein Berichten über die Protestaktion verstanden, sondern selbst als Teil der Aktion. Online und offline würden verschwimmen, Nähe und Distanz müsse neu definiert werden, lokale Ereignisse erreichten globale Aufmerksamkeit. Hierbei entstehen „temporäre hybride Protesträume“ (ebd.: 79).
Hamm (ebd.: 82) spricht in diesem Kontext von einer Aneignung auf zwei verschiedenen Ebenen: Einerseits die Aneignung von öffentlichem Raum mit dem traditionellen Mittel des Straßenprotests und andererseits die Aneignung von einer Vielfalt von Medientechnologien. Soziale Bewegungen produzierten selbst Fotos, Videos und anderes Material und drückten sich dadurch aus. Dieses Material habe meist einen sogenannten ‚Do-it-yourself-Charakter‘ und solle nicht nur authentisch wirken, sondern stehe auch für einen bestimmten Lebensstil und sei selbst eine politische Ausdrucksform. Neben der traditionellen Aneignung des öffentlichen Raumes durch Straßenprotest, werde so der virtuelle Raum durch Medientechnologien fortan mit einbezogen: „Wie physikalische öffentliche Räume werden auch virtuelle Räume durch Praktiken angeeignet: Man muss dafür sorgen, dass die Kamerabatterie geladen ist, dass genügend Speicherplatz vorhanden ist, später muss das Material bearbeitet, kommentiert und ins Internet hochgeladen werden.“ (ebd.: 85) Wie schon beschrieben, führte die in den 1960er bis 1990er Jahren erfolgte Ausrichtung von Protest an den Massenmedien zu einer Veränderung des Verhältnisses von Straßenraum und medialem Raum. Doch durch die digitalen Medien setzt eine weitere Neudefinition ein: „Durch Praktiken der medialen Selbstrepräsentation schafft sich der Straßenprotest seine eigenen medialen Räume, und die Aneignung und Nutzung dieser Räume tritt an die Stelle des Blicks in den ‚fremden‘ Spiegel der bürgerlichen Medien. Die Einbindung digitaler Medien in den Straßenprotest ist nicht nur im Hinblick auf die Repräsentation des Protests von Bedeutung, sondern führt auch zu einer Neudefinition des Protestraums selbst.“ (Hamm 2006: 85 f.)
Hamms Einschätzung nach lösen diese Cyberaktionen Straßenprotest jedoch nicht ab, vielmehr wird nur das Handlungsspektrum erweitert. Sie stellt fest, „dass die Aneignung digitaler Medien, insb. in der Kombination mit ‚analogen‘ Medienformaten, neue geographische, affektive und politische Handlungsspielräume eröffnet.“ (ebd.: 86) Durch das Einbeziehen digitaler Kommunikationstechnologien in Protesträume des Straßenprotests und der Massenmedien, entstehen hybride Protesträume. „Wesentlich neu an der Einbeziehung digitaler Kommunikationstechnologien ist es, dass diese drei Räume von Aktivisten angeeignet und in einem hybriden Kommunikationsraum integriert werden.“ (ebd.: 87) Drei Kommunikationsräume gestalten fortan folglich Protest: Der Straßenraum, der Repräsentationsraum der klassischen Massenmedien und durch ICTs vermittelte digitale Kommunikationsräume.

2.3 Hybrid-Organisationen, Grassroots-Campaigning und Hybrid Media Activism

In der Vergangenheit betrieben vor allem traditionelle intermediäre Akteure wie NGOs und Verbände sogenanntes ‚Grassroots-Campaigning‘. Dieser Begriff wird mit Grasswurzel-Kampagnen übersetzt und beinhaltet zwei gegensätzliche Kommunikations- und Aktionsformen: „Auf der einen Seite ist es die Graswurzel-Aktion, wie bei sozialen Bewegungen von unten, auf der anderen Seite die zentralisierte Kampagnenführung von oben. Beim Grassroots-Campaigning werden nun beide Richtungen – von unten und von oben – miteinander verbunden.“ (Speth 2013: 7) Grassroots steht also für bottom-up und Campaigning für top-down (Aktivitäten). Speth (ebd.: 8) definiert Grassroots-Campaigning als „eine Form der Mobilisierung der Basis, der Betroffenen sowie der Bürgerinnen und Bürger mithilfe zentralisierter strategischer Kommunikation.“ Durch das Internet könnten nun auch einzelne Personen oder kleinere Organisationen, also ressourcen-schwache Akteure, Grassroots-Kampagnen initiieren und durch diese Möglichkeit, mit vergleichsweise geringem Aufwand eine Kampagne zu betreiben, sei ein neuer Typ von Organisation entstanden: Die Hybrid-Organisation (vgl. Voss 2013: 213 ff.). Sie versuche mit verschiedenen Mitteln die öffentliche Meinung zu beeinflussen und nutze dabei vor allem Grassroots-Elemente, die meist online angeboten werden. Offline-Aktionen wie Demonstrationen ergänzten Online-Petitionen und E-Mail-Aktionen um eine weitere Ebene. „Aufgrund dieser Mixtur von Mitteln werden diese Organisationen auch als Hybrid-Organisationen bezeichnet, denn sie kombinieren Mobilisierungselemente, die typisch für soziale Bewegungen sind, mit klassischen Instrumentarien von Interessensgruppen und Verbänden.“ (ebd.: 213) Große Flexibilität in Bezug auf die Organisation selbst und auf die Strategien (vgl. Chadwick 2007), eine große Bandbreite an Themen und ein meist kleiner Stab von Mitarbeiter*innen zeichnen solche Organisationen ebenso aus.
Dabei entstehen neue Möglichkeiten der Einflussnahme und Artikulation eigener Interessen. Die Entwicklung solcher Hybrid-Organisationen geht auch auf einen Mitgliederschwund bei traditionellen Großorganisationen zurück: Die Kirche, Gewerkschaften, Verbände und Parteien haben zunehmend Schwierigkeiten, ihre Mitglieder zu halten bzw. neue Mitglieder zu gewinnen.22 Dies hat laut Speth (2013: 7) vielfältige Ursachen: Einerseits die Emanzipation der Bürger*innen, die nicht mehr zwangsläufig Mitglieder einer Organisation sein müssten, wenn sie etwas erreichen oder verändern wollen. Andererseits ganz allgemein die Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft:23 So wie Lebensstile pluralistischer werden, werden dies auch die Möglichkeiten, sich im politischen Prozess einzubringen. Auf Aspekte der Individualisierung von Protestformen wird im Unterkapitel 2.4 ausführlich eingegangen.
Laut Karpf (2012: 3), der hauptsächlich Lobbygruppen in den USA untersucht, haben „changes in information technology […] transformed the organizational layer of American politics. A new generation of political advocacy groups has redefined organizational membership and pioneered novel fundraising practices.“ Er bezieht sich dabei auf die Organisation MoveOn als bekanntes Beispiel für netzgestützte Organisationen und benennt drei Erkenntnisse in Bezug auf das Zusammenspiel von Internet und politischen Lobbygruppen, die er aus seiner Forschung über die Labour Proteste in Madison im Jahr 2011 ableitet: „The first is that Internet-enabled political organizing moves fast. […] The second lesson is that the interest group ecology associated with the Democratic Party network has changed. […] The third lesson is that Internet-mediated political organizing is hardly limited to blog posts and epetitions. Critics who dismiss Internet activism as mere ‘clicktivism’ focus attention on particular digital tactics and argue that historic movements for social change require deeper commitment and stronger ties than those found on Facebook or Twitter.“ (Karpf 2012: 6) Laut Karpf sprechen sich einige Befürworter*innen von Online-Aktivismus (vgl. Earl/Kimport 2011) eben wegen diesen neuen kostengünstigen Partizipationsmöglichkeiten für eine ‚Social Movement Theory 2.0‘ aus. Danach verändere sich die traditionelle „logic of collective action“ (Olson 1965) maßgeblich durch geringere Kosten im Social–Media-Bereich: „Formal organizations are no longer necessary since individual tactics like e-petitions can now be organized online and information can spread virally through social media channels like blogs, You-Tube, Facebook, and Twitter. In other words, we are all our own publishers and political organizers now.“ (Karpf 2012: 7)
Wie zuvor erwähnt, ist ein wichtiges Merkmal von Hybrid-Organisationen ihre große Flexibilität in der Themenauswahl sowie innerhalb der Organisation. Mit dieser großen Bandbreite an Themen werden sie zu Konkurrenten für klassische NGOs. Während die meisten NGOs oft längerfristig an einigen Themenschwerpunkten arbeiten und sich folglich auch das Personal dieser NGOs mit diesen Themen entsprechend gut und lange auseinandergesetzt hat, arbeiten in Hybrid-Organisationen häufig nur wenige Menschen, die sich immer wieder neu mit aktuellen Themen auseinandersetzen (vgl. Voss 2013: 213). In Deutschland kann Campact als eine der bekanntesten Hybrid-Organisationen genannt werden, die 2004 nach dem Vorbild von MoveOn als dessen Schwesterorganisation gegründet wurde.24 Hybrid-Organisationen bauen in ihrer Arbeit besonders stark auf Timing. Es herrscht das Prinzip, „dass jede Idee ihre Zeit hat, dass es ein Fenster für politische Veränderungen gibt, das genutzt werden muss. Demnach führen kontinuierliche Lobbyaktivitäten alleine ebenso wenig zum Erfolg wie massive Mobilisierung oder andere Aktivitäten von intermediären Akteuren wie NGOs.“ (ebd.: 218) Dies könne zwar dazu beitragen, ein Thema als Problem zu definieren, eine erfolgreiche Einflussnahme auf den politischen Entscheidungsprozess erfolge jedoch nur, wenn das sogenannte ‚policy window‘ geöffnet sei. Von Hybrid-Organisationen (und auch von klassischen NGOs) erfordere dies eine hohe Flexibilität, ein ständiges Beobachten des politischen Prozesses und der öffentlichen Meinungs- und Stimmungslage, um dann im möglichst besten Moment eine Kampagne zu starten. Des Weiteren sei es für die Hybrid-Organisationen wichtig, dass das Thema ein hohes Mobilisierungspotenzial (unter den eigenen Anhänger*innen) mit sich bringe. Dafür befragt Campact bspw. die eigenen Unterstützer*innen regelmäßig in Online-Umfragen über den Newsletter zu einzelnen Kampagnenthemen. Zusätzlich werden vor Kampagnenstart noch einmal einige zufällig ausgewählte Newsletter-Empfänger*innen kontaktiert, um das Potenzial einer ganz konkreten Kampagne abschätzen zu können. Bei MoveOn oder GetUp! – der Schwesterorganisation in Australien – können Mitglieder auf der Webseite eigene Kampagnen-Themen vorschlagen und über die Agenda der Organisation mitbestimmen (vgl. Karpf 2009: 13 f.). Bei MoveOn und Campact kann eine eigene Online-Petition auf der jeweils dazugehörigen Petitions-Plattform MoveOnPetitions bzw. WeAct.Campact (seit Ende Februar 2015 online) gestartet werden.25
Eine weitere Charaktereigenschaft von Hybrid-Organisationen ist das niedrigschwellige Partizipations-Angebot. Schon mit der Unterzeichnung einer einzigen Online-Petition kann man eine Organisation ohne großen Zeit- oder Kostenaufwand unterstützen. Jedoch bleibt es weiterhin die Hoffnung der Organisationen, dass Interessierte sich längerfristig für eine Organisation engagieren und auch andere Kampagnen unterstützen. So z. B., „dass jeder, der sich mit einer E-Mail-Adresse auf der Webseite der Organisation registriert, sich wieder und wieder für weitere Kampagnen mobilisieren lässt.“ (Voss 2013: 219) Deswegen erhält man bei Campact (oder auf Plattformen wie Change.org) bspw. schon nach dem Unterzeichnen einer einzigen Kampagne regelmäßig den Newsletter der Organisation, auch zu anderen Themen als dem, für das man ursprünglich unterzeichnet hat. Doch auch wer sich dauerhaft engagieren möchte, muss nicht zwangsläufig ein formelles Mitglied werden – ein weiterer wichtiger Aspekt, in dem sich Hybrid-Organisationen von klassischen NGOs unterscheiden: „Während die meisten NGOs eher traditionelle Mitgliederstrukturen aufweisen, findet man diese bei den Hybrid-Organisationen kaum. Dort wird als Mitglied gezählt, wer den Newsletter abonniert hat und so in der Datenbank der Organisation geführt wird. Die Unterstützung der Organisation mit kleineren Spenden ist wünschenswert, aber kein zwingendes Kriterium. Mitglieder sind also in erster Linie Empfänger von Nachrichten, gegebenenfalls noch gelegentliche Spender“, so Voss (ebd.: 220).
Während Campact in den ersten Jahren nach Entstehung der Organisation u. a. auf der Webseite alle Newsletter-Empfänger*innen als „Mitglieder“ bezeichnete, wird mittlerweile nur noch von „Menschen“ gesprochen, die den Newsletter empfangen, an der Seite von Campact für progressive Politik streiten oder der Organisation auf Facebook folgen. Ohne jemals Geld gespendet oder eine einzige Kampagne unterzeichnet zu haben, versteht Campact das bloße Empfangen des Newsletters schon als Unterstützung der Organisation. Dies hat den Vorteil, dass Einzelne eine bestimmte Kampagne unterzeichnen bzw. unterstützen können, ohne sich mit der gesamten Organisation identifizieren zu müssen oder alle anderen Themen und Kampagnen ebenso mit zu tragen. Das wiederum führt zu einem neuen Mitgliedschaftsverständnis, einem ‚fluid membership‘. Karpf (2012: 25) bezeichnet diese Entwicklung als Verschiebung „from memberships-as-participation to membership-by-mail“ oder auch „armchair activists“. Solche Aktivist*innen erklären sich mit einzelnen Aspekten in der Arbeit einer Organisation einverstanden und unterstützen diese auch per Mausklick, jedoch ohne aktiver zu werden im Sinne von ‚aufstehen und auf die Straße gehen‘. Karpf (ebd.) führt weiter aus: „Such issue-based membership attachments were easier in a host of ways, requiring less time and commitment on the part of the individual and requiring less maintenance and attention on the part of the organization. However, the easier membership model also created far fewer attachments, making them less useful as ‘laboratories of democracy’ and generators of social capital.“ Auf das Thema Mitgliedschaft wird im Verlauf dieser Arbeit (auch unabhängig von Hybrid-Organisationen) ausführlicher eingegangen. Da man sich nicht in der kompletten Arbeit einer Organisation einbringen oder sich mit allen Wertevorstellungen und Themen identifizieren können muss, engagieren sich viele nur selektiv in Kampagnen ihrer Wahl. Die hohe Anzahl an Aktiven in Hybrid-Organisationen zeigt, dass es einen großen Bedarf an Möglichkeiten dieser sporadischen und einmaligen Partizipation ohne starke Bindung an eine Organisation gibt. Flexible und spontane Partizipationsmöglichkeiten erfahren eine hohe Popularität, enthalten jedoch auch Risiken, „denn das Internet erzeugt nur schwache Bindungen und es besteht die Befürchtung, dass Menschen sich nur für einzelne Aktionen engagieren und nicht mehr dauerhaft, dass aus Mitgliedern nur noch Nutzer werden.“ (Voss 2013: 220)
Obwohl Hybrid-Organisationen wie MoveOn und Campact auch Partizipationsmöglichkeiten außerhalb des Netzes anbieten, beschränkt sich bei einer Vielzahl der Unterstützer*innen die Aktivität ausschließlich auf das Empfangen des Newsletters und/oder Unterzeichnen von Online-Petitionen. Dies lässt sich bspw. veranschaulichen, wenn man Campacts Newsletter-Empfänger*innen-Zahlen mit der Zahl der finanziellen Unterstützer*innen vergleicht: Im Dezember 2020 hatte Campact rund 2,3 Millionen Newsletter-Empfänger*innen.26 Laut Transparenzbericht 2019 erhielt die Organisation im Kalenderjahr 2019 finanzielle Zuwendungen von 79.127 Menschen in Form von regelmäßigen Monatsbeiträgen und weitere 108.467 Unterstützer*innen spendeten Geld zweckgebunden für Kampagnen oder als freie Spende.27 Der Unterschied zwischen finanziellen Förder*innen und Unterstützer*innen im Sinne von einem Newsletter-Empfang ist erheblich.28
Um weitere Eigenschaften von Hybrid-Organisationen zu veranschaulichen, werden nun zwei Fallbeispiele aus Australien und dem Vereinigten Königreich herangezogen: GetUp! und Erzählstrategien dieser Hybrid-Organisation, sowie 38 Degrees und deren Umgang mit verschiedenen Medien. In diesem Zusammenhang wird auch Chadwicks (2007) Konzept von Medienlogiken und hybridem Mediensystem erläutert.
Eine australische Perspektive auf Hybrid-Organisationen und Online Campaigning nehmen Vromen/Coleman (2013) ein, die mit Fokus auf GetUp! und deren Erzählstrategien deutlich machen, dass gegenwärtige Entwicklungen in politischer Protestpartizipation kein spezifisch US-amerikanisches oder deutsches Phänomen sind, sondern auch in anderen Ländern gefunden werden können. Für den Fall von GetUp! stellen sie in einer qualitativen Studie mit den beiden Fallbeispielen Klimawandel und mentale Gesundheit fest: „Stories are used to help citizens, and to a lesser extent, decision makers, identify with an issue, build community, and act in recognition of the moral urgency of political change.“ (ebd.: 76) Folgende Kriterien machen für Vromen/Coleman (ebd.: 81) eine erfolgreiche Erzählstrategie aus: Die emotionale Identifikation mit dem Thema, um für Partizipation zu mobilisieren; ein geteilter Gemeinschaftssinn mit dem entsprechenden Thema um Solidarität zu bilden, ganz nach dem Motto „People over Power“; eine moralische Dringlichkeit für Aktionen, um das Problem zu lösen und sozialen Wandel herbeizuführen und letztendlich das Sichern von öffentlicher und politischer Unterstützung, indem Gegenbewegungen ausgeschaltet werden.
Dennis/Chadwick (2017) untersuchen Online Campaigning Organizations im Vereinigten Königreich anhand des Fallbeispiels 38 Degrees. In ihrer Forschung liegt der Fokus insb. auf dem Konzept der Hybridität, Mobilisierung und dem Umgang der Organisation mit Medien bzw. ihren Strategien für eine professionelle Medienberichterstattung. Dennis/Chadwick (ebd.) kommen zu dem Ergebnis, dass die 38 Degrees-Führung eine Breite an Online-Repertoires kreiere, die individuelle Autonomie und Selbstdarstellung unter den Mitgliedern stärke. Dieses Repertoire wechsele je nach Ziel und Fokus der verschiedenen Phasen einer Kampagne. Häufig würden digitale Medien verwendet, insb. E-Mails, Online-Umfragen und Online-Petitionen, aber auch Social-Media-Diskurse gäben Mitgliedern bottom-up die Möglichkeit Kampagnen-Strategien in Echtzeit mitzugestalten. Lose Netzwerke zwischen Individuen, Technik und Informationen würden kreiert, die zeitlich begrenzt existierten und sich über eine Breite von Themen erstreckten.
Chadwick (2007) geht davon aus, dass die Interaktion zwischen Sozialen Medien und langfristige Entwicklungen hin zu einer Personalisierung, politischem Konsum und postmaterialistischer „Lifestyle Politics“ (Bennett 1998) u. a. auch eine neue politische Form kreiert habe: Sogenannte Hybrid Mobilization Movements (HMMs). Zu diesem Typ von Organisation zählt er MoveOn, GetUp! und 38 Degrees. Laut Chadwick basierten HMMs auf einer Neukonfiguration des Politischen, welche wiederum auf digitaler Kommunikation basiere. Eine weitere Eigenschaft sei das Mischen von älteren Kampagnen-Repertoires aus dem Bereich der Parteien, Interessengruppe und Sozialen Bewegungen mit der Nutzung digitaler Medien, um sich schnell anzupassen und reagieren zu können, zwischen Online- und Offline-Aktionen zu wechseln und elitäre Strategien und Mitglieder-Strategien ergänzend zueinander zu verwenden. Da digitale Medien größtenteils ihre eigenen organisationalen Strukturen schaffen, durchleben HMMs in besonders hohem Maße eine Gestaltveränderung (vgl. Chadwick 2007: 285 f.; Eaton 2010: 187 f.). HMMs fehlen jene bürokratischen Strukturen, die es nichtdigitalen Organisationen so schwer machen, schnell ihre Strukturen zu verändern (vgl. Bimber 2003; Bimber et al. 2005, 2012). Stattdessen mobilisieren HMMs ihre Mitglieder über lose Verbindungen von digital vernetzen Individuen.
38 Degrees ist laut Chadwick (2017) Teil einer neuen Generation von Organisationen, die die Logik alter und neuer Medien und realweltliche Events miteinander verbinden, um so zu mobilisieren und Druck auf politische Entscheidungsträger auszuüben. Entsprechend spricht er von hybriden Mediensystemen, vergleicht detailliert alte und neue Medienlogiken und plädiert dafür, in der Analyse beide Logiken miteinzubeziehen, anstatt nur die eine oder nur die andere zu betrachten. Man müsse sich einerseits anschauen, wie sich neue Logiken der Medien im Feld von Medien und Politik anpassen und sich in Praktiken alter Medienlogiken integrieren. Andererseits müsse man betrachten, wie sich alte Logiken der Medien anpassen und sich in Praktiken neuer Medienlogiken integrieren.
Chadwick (ebd.) bezieht sich im Weiteren auf Latour (2007, 1996) und seine Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), welche ebenso davon ausgeht, dass die Welt auf hybriden Netzwerken (zwischen Mensch und Nicht-Mensch oder Subjekt und Objekt) basiert. Nicht-menschliche Aktanten haben demnach ebenso eine Agency, die sich aus der gegenseitig abhängigen Interaktion mit anderen Ressourcen – technischen und menschlichen – in gegebenen soziotechnischen Systemen ergibt (vgl. Chadwick 2017: 16 f.). Die Idee der ANT basiert stark auf dem Gedanken der Hybridität: Weg vom Entweder-oder, hin zu einer Symmetrie zwischen Menschen und Dingen.29
Aufbauend auf Chadwick (2017) plädiert auch Treré (2018, 2019) für eine intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff der Hybridität im Kontext von Mediennutzung in Protestpraktiken. In von ihm untersuchten Sozialen Bewegungen beobachtet er fünf Typen von Medienhybridität: Online/offline Praktiken, alte/neue Medien, interne/externe Kommunikationstechnologien, kommerzielle/alternative Kommunikationskanäle und menschliche/nicht-menschliche Akteure (Treré 2018: 146). Treré (ebd.:147) betont insb. auch die Bedeutung digitaler Medien für Mobilisierung – sowohl online als auch offline. Er beschreibt eine „continuous interconnection between activists on the streets and activists at home: Both actively use media and communication technologies, but with the different affordances that their divers situations allow.“ Für viele Soziale Bewegungen stellten digitale Medien Möglichkeiten dar, Menschen auf die Straße zu bewegen, Demonstrationen zu koordinieren oder Offline-Aktionen zu bewerben. Gleichzeitig gäbe es aber auch Online-Praktiken, die ausschließlich zu weiterem Online-Aktivismus führen sollten, nicht zwangsläufig zu Offline-Praktiken. Treré (ebd.: 147 f.) schlussfolgert „[…] the online/offline interplay that lies at the center of many contemporary mobilizations does not account for all the new practices of activism. This does not mean that the ones that are not aimed at getting people in the streets are useless forms of slacktivism. Rather, a wide and varied repertoire of communication should be recognized.“
Dafür entwickelt er den Begriff der „Media Ecologies“ (Treré 2019; Treré/Mattoni 2016) und spricht sich dafür aus, die Wichtigkeit des Zusammenwirkens und der gegenseitigen Beeinflussung von verschiedenen Medien, Sozialen Bewegungen, kulturellen Praktiken und politischen Gegebenheiten anzuerkennen, anstatt Technik als neutrale Kanäle anzusehen, sich immer nur auf ein ausgewähltes Medium zu konzentrieren oder Dynamiken in Sozialen Bewegungen als technikunabhängig zu verstehen. Anhand von drei empirischen Fallbeispielen – der mexikanischen Protestbewegung #YoSoy132, den spanischen Indignados und einer italienischen Studentenbewegung – zeigt Treré (2019) auf, welch wichtige Rolle „ecologies“, „imaginaries“ und „algorithms“ für die Protestierenden spielen. Je nach Situation kamen digitalen Medien dabei unterschiedliche Rollen und Vorteile zu, abhängig vom jeweils spezifischen Kontext und der Umwelt eben dieser Proteste. Treré (2019: 15) beschreibt eine „media/movement dynamic“, die beidseitig funktioniert: Nicht nur Medientechnologie wird von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst, die Technik selbst beeinflusst auch ihr Umfeld.
Während Forscher*innen vor den Protesten im Kontext des Arabischen Frühlings häufig politische Gelegenheitsstrukturen und dessen Rolle für die Entstehung von Protest untersuchten, spielen jetzt auch mediale Gelegenheitsstrukturen eine wichtige Rolle für die Entstehung von Protest. Insbesondere Erleichterungen in der Protestkommunikation und –mobilisierung durch Soziale Medien (vgl. Castells 2012; Kraushaar 2012: 129 ff.) haben zu einer veränderten Machtbeziehung zwischen Massenmedien und Protestakteuren und zwischen Protestakteuren und nationalen Regierungen geführt. Hier kann ein Zugewinn an Definitions- und Deutungsmacht auf Seiten der Bürger*innen beobachtet werden (vgl. Baringhorst 2015a: 76).
Auch im Kontext von Hybrid Campaigning Organizations wie 38 Degrees zeigt sich ein solcher Zuwachs an Einflussmöglichkeiten für die einzelnen Akteure. Die Mitarbeiter*innen der Organisation nehmen zwar eine Rolle als Gatekeeper und Filter ein und können bzgl. des Designs der Aktionen ihre Macht ausspielen, trotzdem ist die Organisation keine elitendominierte Lobbygruppe, sondern bietet nur Strukturen an und Mitglieder können letztendlich selbst entscheiden, welche Kampagnen sie unterstützen möchten und welche nicht (vgl. Dennis/Chadwick 2017). Wie andere HMMs vermarkten sie den Rückgang von collective identity frames, indem sie personalisierte Möglichkeiten für Engagement anbieten (vgl. Karpf 2012; Kavada 2012: 44; Vromen 2008, 2015). Viele Mitgliedschaften von Unterstützer*innen von 38 Degrees sind durch solche personalisierten Mitmachmöglichkeiten begründet (Dennis/Chadwick 2017: 55). Dennis/Chadwick (2017) benennen die Führung der Organisation 38 Degrees in Anlehnung an Gerbaudo (2012) als „choreographical leadership“ – anders als bei der Mutterorganisation MoveOn, für die Eaton (2010) eine deutliche Top-down-Struktur beschrieben hat. Bei 38 Degrees jedoch bestimme eine Masse an Individuen die Strategie der Organisation mit, indem sie netzbasiert eingreift und ihre Meinung z. B. in Form von Umfragen kundtut. Die Organisationsführung bietet ihrerseits die Strukturen an und entscheidet über Faktoren wie Timing und Ähnliches.
Neben Kritiken, wie der des Clicktivism und Vorwürfen, dass Hybrid-Organisationen nicht effektiv seien (vgl. Morozov 2011), wird auch kritisiert, dass sie intern nicht so demokratisch seien bzw. nicht so direktdemokratisch arbeiten würden, wie manch andere NGOs. Voss (2013: 221) stellt dazu fest: „Hybrid-Organisationen versuchen zwar, die breite Bevölkerung anzusprechen und diese zu mobilisieren, aber sie sind definitiv keine Bottom-Up-Grasswurzelorganisationen. Daran ändern auch Befragungen oder Online-Abstimmungen, wie sie manche dieser Organisationen durchführen, nichts.“ MoveOn baut auf solche Kritiken reagierend lokale Ortsgruppen auf, doch auch weiterhin basiert die Arbeit auf nur sehr wenigen direktdemokratischen Elementen. In Hybrid-Organisationen werden die Themen und Kampagnen meist von einem kleinen Stab von Mitarbeiter*innen festgelegt und konzipiert, das interaktive Potenzial des Social Web wird nicht ausgeschöpft, wie man es ausschöpfen könnte. Meist bleibt es dabei, dass Unterstützer*innen Online-Petitionen unterzeichnen und eventuell an Freund*innen und Bekannte weiterleiten. Dass Hybrid-Organisationen flexibel sind und schnell auf Entwicklungen im politischen Entscheidungsfindungsprozess eingehen können, geht zulasten direktdemokratischer Elemente. Zusätzlich wird es immer schwerer für einzelne Kampagnen, ausreichende Aufmerksamkeit zu erreichen und einen Einfluss auf politische Prozesse zu nehmen, da die Zahl an aktuell laufenden Kampagnen immer mehr in die Höhe schnellt (vgl. Voss 2013: 222). Deswegen versuchen Hybrid-Organisationen vermehrt, auf Straßenaktionen zu bauen und Partizipationsangebote außerhalb des Netzes zu entwickeln. MoveOn geht dieser Strategie insb. durch die Gründung lokaler Ortsgruppen nach. Campact veranstaltet häufiger kleinere Straßenaktionen, medienwirksam inszenierte Unterschriftenübergaben und in verschiedenen Bündnissen große Straßendemonstrationen. Inwieweit Individuen auf diese Angebote der Organisation eingehen, soll in der Analyse ausführlich diskutiert werden.

2.4 Neue Formen des Protests: Von Clicktivism bis Lifestyle Politics

Eröffnet das Internet neue Möglichkeiten der politischen Partizipation, die dazu führen, dass sich mehr Menschen engagieren und sich ein Gehör für ihre Anliegen verschaffen können? Oder bewirkt das Internet mit seinen Möglichkeiten, sich unverbindlich, schnell, unkompliziert und kostengünstig bspw. in Form einer Unterzeichnung einer Online-Petition für etwas einzusetzen, dass Menschen faul werden und hält sie davon ab, ihre Meinung anderweitig – bei einer Straßendemo oder mit einem Infostand – auszudrücken? In der Literatur gehen die Meinungen diesbezüglich auseinander und decken das komplette Spektrum von Netz-Pessimisten bis –Optimisten ab. An dieser Stelle sei vorab schon angemerkt, dass sich die vorliegende Arbeit weder der einen noch der anderen Richtung uneingeschränkt anschließt. Vielmehr plädiert sie dafür, Protestengagement und deren Konsequenzen für Demokratie und Gesellschaft jeweils individuell abzuwägen und den Fokus auf den jeweiligen Handlungs- und Wirkungszusammenhang verschiedener (Online- und Offline-)Praktiken der Individuen zu legen und sie in ihrer Gesamtheit zu betrachten, anstatt entweder Online-Aktivismus grundsätzlich als Clicktivism abzuwerten oder ihn grundsätzlich als Bereicherung für Demokratie zu verstehen. Der folgende Abschnitt arbeitet den Forschungsstand zu diesem Thema auf und benennt sowohl bisherige Forschungsschwerpunkte und -ergebnisse von Wissenschaftler*innen der Protestforschung als auch noch offene Forschungslücken. Dafür wird Protestpartizipation zuerst als niedrigschwelliges Handeln beschrieben, dann werden Aspekte der Konnektivität und Individualisierung diskutiert und zuletzt Partizipation als Lifestyle-orientiertes Handeln dargestellt.

2.4.1 Protestpartizipation als niedrigschwelliges Handeln

Der gebürtig weißrussische Politikwissenschaftler Morozov bezeichnet den (Großteil von) Online-Aktivismus als sogenannten „Slacktivism“ (2011) – frei übersetzt als Faulenzer-Aktivismus. Er stellt fest, dass „thanks to its granularity, digital activism provides too many easy ways out.“ (Morozov 2011: 190) Laut Morozov bietet das Internet zu viele zu einfache und unverbindliche Wege der Partizipation. Politisch interessierte Bürger*innen würden ihr Engagement demzufolge auf Online-Aktivismus reduzieren und sogenannte Low-Cost- und Low-Threshold-Aktivitäten ausüben, anstatt sich aufwendig, verbindlich und intensiv – z. B. in einer Organisation oder Partei – zu engagieren. Dies führt zu der Sorge, „dass Menschen sich zwar immer mehr im Internet engagieren, aber das dann gleichzeitig für eine ausreichende Form des Protests halten und sich nicht dauerhaft und außerhalb des Internets engagieren, also nicht mehr für andere Protestformen wie Demonstrationen mobilisieren lassen.“ (Voss 2013: 192) Online-Campaigning-Plattformen stünden im Verdacht, zivilgesellschaftliches Engagement auf solchen Slacktivism oder Clicktivism zu reduzieren. Laut Morozov (2011: 190) ist die beste Möglichkeit „to tell whether a digital campaign is serious or ‘slacktivist’ […] to look at what it aspires to achieve. Campaigns of the latter kind seem to be premised on the assumption that, given enough tweets, the world’s problems are solvable […]. But with global issues, whether it’s genocide in Darfur or climate change, there are diminishing returns to awareness rising. At some point one must convert awareness into action, and this is where tools like Twitter and Facebook prove much less successful.“ In „The Net Delusion“ (2011) weist Morozov folglich darauf hin, dass bspw. bei den Protesten im Iran 2008 der Einfluss des Internets vielmehr von westlichen Beobachtern gewünscht war, als dass er tatsächlich stattgefunden habe. „If anything, Iran’s Twitter Revolution revealed the intense Western longing for a world where information technology is the liberator rather than the oppressor, a world where technology could be harvested to spread democracy around the globe rather than entrench existing autocracies.“ (ebd.: 5) Morozov kommt zu dem Schluss, dass das Internet zivilgesellschaftliches Engagement eher schwäche als fördere.
Die Argumente von Netzskeptikern wie Morozov sind jedoch nicht ganz widerspruchsfrei (vgl. Baringhorst 2015b: 330). Auf der einen Seite beklagen sie eine Überforderung der Bürger*innen auf zwei Ebenen: Eine kognitive Überforderung in Form von sogenanntem ‚Information Overload‘ und eine zeitliche Überforderung in Form einer Erschöpfung der individuellen Engagement-Ressourcen. Auf der anderen Seite wird aber auch eine Unterforderung der Bürger*innen durch niedrigschwellige Formate wie Online-Petitionen festgestellt.
Ähnlich wie Morozov (2011) argumentiert auch White (2010) in seinem Essay. Er beschreibt, dass Kampagnen-Organisationen wie MoveOn Ideologien des Marketing und Taktiken von Werbung und Marktforschung übernehmen würden und Analysen und Überwachungen von quantitativem Erfolg dazu führten, dass aus Aktivismus Clicktivism wird: „The obsession with tracking clicks turns digital activism into clicktivism.“ (ebd.) Der Glaube an die Kraft einer Idee würde durch A/B Testing und „echter“ Aktivismus durch eine Reihe von Online-Petitionen ersetzt. In Konsequenz bezeichnet White Online-Aktivismus als Gefahr für linken Aktivismus, was wiederum zu politischer Passivität führe: „However, any activism that uncritically accepts the marketisation of social change must be rejected. Digital activism is a danger to the left. Its ineffectual marketing campaigns spread political cynicism and draw attention away from genuinely radical movements. Political passivity is the end result of replacing salient political critique with the logic of advertising.“ (ebd.) Nichtsdestotrotz prophezeit White das Aufkommen eines neuen Aktivismus, der mit seiner Ideologie, Leidenschaft und Kritik an der Konsumgesellschaft dann Fokusgruppen und Marketing ähnlichen Aktivismus ablösen würde.
Pessimistischer äußert sich Shulman (2009), der ebenfalls am Beispiel von Kampagnen-Organisationen wie MoveOn Konsequenzen von neuen Formen der Partizipation untersucht. Ergebnis seiner Forschungen ist, dass Interessensgruppen vermehrt Online-Mobilisierung nutzen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, Spenden zu sammeln und neue Mitglieder zu akquirieren. Die von MoveOn versendeten E-Mails (in der entsprechenden Untersuchung ein Datensatz von 1.000 der längsten E-Mails der Organisation) und die darauffolgenden öffentlichen Kommentare enthielten aber nur zu einem Bruchteil potentiell neue und relevante Informationen. Der Großteil der Kommentare seien entweder exakte Duplikate eines zwei-Sätze Briefes von MoveOn oder Varianten einer kleinen Anzahl von Forderungen bzgl. eines unangemessenen Gesetzesvorschlages (vgl. Shulman 2009: 23). Laut Shulman (ebd.: 25) habe das Internet mit seinen vermeintlichen Mobilisierungs- und Partizipationsformen die alte Logik des kollektiven Handelns zerstört, er schreibt E-Mail-Kampagnen perverse Anreize und schlechte Qualität der öffentlichen Partizipation zu: „I introduce the theory of perverse incentives in the context of interest groups-initiated mass e-mail campaigns about U.S. regulatory policy. Stated bluntly, the logic of collective action many scholars my age and older grew up with is dead. The Internet killed it.“ Shulman argumentiert, dass die von der Organisation und ihren Unterstützer*innen gesendeten E-Mails keinen wirklichen Einfluss auf die Gesetzgebung hätten, aber wichtigen Input dazu liefern könnten, welche Themen in naher Zukunft aufgegriffen werden sollten. E-Mail-Kampagnen könnten zwar dazu führen, dass Menschen für Aktionen mobilisiert werden, dieser Erfolg sei aber nur oberflächlich. In der täglichen Arbeit erschwere die hohe Anzahl von E-Mails es den Mitarbeiter*innen der Regierung, die wirklich guten und gehaltvollen E-Mails zu erkennen (ebd.: 46 f.).
Gladwell (2010), der in einem Artikel das Beispiel der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre in den USA beschreibt, um zu verdeutlichen, wie ausschließlich mit Mundpropaganda und Zeit aus nur vier Protestierenden 70.000 Protestierende wurden, betont die wichtige Rolle von Risiko und Gefahr für Proteste. Mit Verweis auf McAdams Mississippi Freedom Summer Projekt (1989) zeigt auch Gladwell (2010), dass Teilnehmer*innen von risikoreichen Protestaktionen oft enge Freundschaften innerhalb der Gemeinschaft hätten und sich deswegen dort engagierten. Facebook, Twitter & Co. basierten hingegen nur auf schwachen Bindungen (weak ties) und ermöglichten keine risikohohen Aktivitäten, so Gladwell. Er betont die Wichtigkeit von Strategien und Hierarchien bei „echtem“ Aktivismus und benennt Nachteile von Netzwerken gegenüber Hierarchien. „Echter“ Aktivismus benötige laut Gladwell (ebd.) Face-to-Face-Interaktionen, die Vertrauen aufbauen und dazu führten, dass Leute das Risiko eingehen, sogar verhaftet zu werden. Mit Bezug auf Shirky (2008) merkt Gladwell an, dass Online-Kampagnen erfolgreich sein könnten, wenn von den Teilnehmer*innen nicht zu viel erwartet werde und die Aktivitäten nicht unbequem seien. Am Beispiel einer erfolgreichen Kampagne zeigt Shirky, wie öffentlicher Druck positiven Einfluss auf den Verlauf einer Kampagne haben kann. Gladwell (2010: 9) merkt zu diesen Veränderungen im Aktivismus an: „[…] it is simply a form of organizing which favors the weak-tie connection that give us access to information over the strong-tie connection that help us persevere in the face of danger. It shifts our energies from organizations that promote strategic and disciplined activity and toward those which promote resilience and adaptability. It makes it easier for activists to express themselves, and harder for that expression to have any impact.“ In seinem Buch „Here comes everybody: The power of organizing without organizations“ (2008) befasst sich Shirky insb. mit Fragen der Autorenschaft (Beispiel Wikipedia) und Gruppendynamiken kollektiven Handelns im Kontext des Internets und neuer ICTs.
Auch Lupia und Sin (2003) wollen ein Update für Olsons Logik des kollektiven Handelns (1965) vornehmen. Um ihre Forschungsfrage „What kinds of collective goods do evolving technologies advantage and which collective goods do they endanger?“ (ebd.: 317) zu beantworten, dekonstruieren sie Olsons Ansatz zuerst, um dann ihrem Ziel nachzugehen, ihn in einer Rekonstruktion wiederum stärker zu machen. Laut der beiden Autoren ist Olsons Annahme bzgl. der Gruppengröße und ihrer selektiven Anreize abhängig von Kommunikationskapazitäten, welche jedoch durch neue ICTs verändert würden (ebd.: 318 f.). Neue Techniken und Kommunikationsformen relativierten Olsons Annahme folglich und verdünnten die Macht kleiner Gruppen. ICTs würden Organisationskosten und Wahrnehmbarkeit beeinflussen und von solchen reduzierten Kosten profitierten auch große Gruppen mit einer hohen Mitgliederzahl. Während zuvor die Annahme galt, dass in größeren Gruppen mehr sogenannte ‚free rider‘ vorkamen (da es für sie einfacher war, nicht aufzufallen), verringern ICTs laut Lupia und Sin (ebd.: 321) diesen Zusammenhang. Nach Olson kommt es allerdings weniger auf die wirkliche Gruppengröße an, als vielmehr auf die Wahrnehmbarkeit der Gruppe. Neue ICTs beeinträchtigen diese Wahrnehmbarkeit. Das Internet erlaube zu sehr geringen Kosten eine Vielzahl von Menschen zu erreichen. Die Vorteile der ICTs führten folglich dazu, dass die Abhängigkeit von Wahrnehmbarkeit geringer werde. Lupia und Sin (ebd.: 323) argumentieren weiter, dass heute durch ICTs ein Einzelner einen enorm großen sozialen Druck auf eine Vielzahl von Menschen ausüben könne, so wie man es sich früher nie hätte träumen lassen.
Folgt man der Annahme, dass das Netz durch Kommunikationsgeschwindigkeit und Reichweite die Transaktionskosten von Protestmobilisierung verringert, trägt es durch niedrigschwellige Mitmachangebote zur Lösung des Problems kollektiven Handelns bei. Denn „je geringer die Kosten der Teilnahme an kollektiven politischen Aktionen, desto geringer die Gefahr, dass Trittbrettfahrer in den Genuss der Erfolge kollektiven Handelns kommen können, ohne selbst zu dem Gelingen der Aktionen beizutragen.“ (Baringhorst 2015a: 76)
Nach Halupkas (2014: 116) Verständnis kann Online-Aktivismus nicht grundsätzlich als Clicktivism abgetan werden: Das Teilen von Inhalten auf Social Media, das Unterzeichnen von Online-Petitionen und das Nutzen von Social-Buttons wie dem Like-Button auf Facebook möchte er differenziert betrachten und nicht einheitlich als faul und praktisch abtun. Er fordert eine Heuristik, um ein besseres Verständnis für das Phänomen Online-Aktivismus entwickeln zu können, und gründet diese auf den zwei Begriffen „Cause“ und „Object.“ (ebd.: 120) Ein „Cause“ ist die Verbindung aus Erfahrungen, Vorprägungen, Veranlagungen, Wissen usw. und bezieht sich auf aktuelle Geschehen, die Medien, eine politische Ideologie, Glaubensstrukturen, Werte und Ähnliches. Das „Object“ hingegen bezeichnet Inhalte, die in einer virtuellen Umwelt geschaffen wurden. Gegensätzlich zum Begriff „User-generated Content“ solle der Begriff des Objects jedoch alle Facetten der Online-Welt mit beachten (vgl. ebd.). Um Clicktivism (nicht negativ konnotiert) nun von anderen Formen des Online-Verhaltens abzugrenzen, müsse es laut Halupka ein politisches Element beinhalten. Diese politische Komponente müsse spezifisch genug sein, um sich von anderen Formen des Online-Aktivismus abzuheben: „Clicktivism should be understood as a response to, and engagement with, an established political Object.“ (ebd.: 121) Sieben Eigenschaften von Clicktivism beschreiben das Phänomen zusammenfassend (ebd.: 124): Clicktivism sei ein Akt, der in einer Online-Umwelt stattfinde. Es sei eine spontane Antwort auf ein schon bestehendes politisches Objektiv. Clicktivism erfordere keine weitere Verbindlichkeit in der auf den Akt selbst folgenden Kampagne. Es werde kein spezielles Wissen benötigt, minimale Fähigkeiten seien ausreichend. Clicktivism sei einfach genug, als dass es von der Bevölkerung nachgemacht werden könne. Es sei eine Reaktion auf ein etabliertes politisches Objekt. Clicktivism sei ein vom Individuum verübter Akt und damit unabhängig von einer Kampagne (selbst wenn es diese unterstützt) und einer größeren politischen Ideologie.
Ähnlich wie Shulman hat sich auch Karpf (2010) ausführlich mit der Kampagnen-Organisation MoveOn beschäftigt und nimmt Stellung zu Kritikern wie Shulman, Gladwell, Morozov und White. Karpf (ebd.) würdigt zwar Shulmans empirische Beweise (2009) für qualitativ niedriges, redundantes und substanzloses Kommentieren durch die Öffentlichkeit, präsentiert jedoch eine alternative Perspektive basierend auf teilnehmender Beobachtung und der Analyse eines Datensatzes, der die E-Mail-Aktivitäten von 70 Organisationen über einen Zeitraum von sechs Monaten beinhaltet. Er kommt zu einem Ergebnis, das sich in drei Aussagen zusammenfassen lässt: 1) Massen-E-Mails sind eigentlich das Pendant zu Kopien, gefaxten Petitionen oder Postkarten-Aktionen und repräsentieren damit eher ein „difference-of-degree“ als ein „difference-in-kind.“ (Karpf 2010: 3) 2) Es gibt keine „mass email campaign“ – diese qualitativ niedrigen Aktionen sind nur eine von mehreren Taktiken innerhalb eines strategischen Repertoires der Organisation und damit nur ein Teil einer größeren Kampagne. 3) Die empirische Realität scheint der durch Shulman (2009) geäußerten Kritik zu widersprechen, denn dort gibt es keine Fluten an Online-Kommentaren, die andere verbindliche Formen von Engagement ersetzen (vgl. Karpf 2010: 3).30 An Shulmans Forschung kritisiert Karpf, dass seine Analyse hauptsächlich auf der Sicht von gesetzmachenden Akteuren basiere, während er jedoch die Sicht der Organisationen selbst einnehme. Morozov, White und Gladwell dagegen würden ihre Thesen größtenteils auf Anekdoten aufbauen (ebd.: 5). Mit einem eigenen Datensatz, der darauf basiert, dass Karpf (ebd.: 11 f.) mit einem extra angelegten E-Mail-Account die E-Mails von 70 Advocacy Organisationen empfangen hat, untersucht er aus der Sicht eines Mitglieds Mobilisierungsstrategien der betreffenden Organisationen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass es kein permanentes Campaigning gegeben habe, sondern massive E-Mail-Aktionen nur in strategisch besonders günstigen Gelegenheiten eingesetzt wurden und darüber hinaus eine breite Vielfalt an Taktiken genutzt wurde (ebd.: 22 ff.). Zur weiteren Entkräftigung von Shulmans Kritik (2009) führt Karpf außerdem aus, dass MoveOn mehr als 200 „local councils“ gegründet habe und auch offline sehr aktiv sei.
Langjährige Erfahrungen als Aktivist beim Sierra Club und seine Perspektive als Politikwissenschaftler verbindet Karpf in seinem Buch „The MoveOn Effect“ (2012). Es dokumentiert den Wandel von Graswurzel-Formen der Organisation bis hin zu netzbasierten Formen der Organisation. Karpf (2012) beschäftigt sich ausführlich mit der Organisation MoveOn, politischen Blogs und neuen Tendenzen weg von mitglieder-gestützten Organisationen und hin zu netzgestützten Formen wie Thinktanks. Basierend auf geringen Transaktionskosten habe das Internet die Natur von Fundraising, Mitgliedschaft und Organisationsstrukturen verändert, im Falle von Mitgliedschaft zeige sich eine Entwicklung vom „small donor“ zum „message recipient“ (ebd.: 31).
Darüber hinaus befasst sich Karpf (2016: 59) insb. mit „Analytic Activism“ (2016, 2018) und Online-Petitionen als wichtigste und flexibelste Form von Analytic Activism, da Online-Petitionen im Vergleich zu Twitter-Nachrichten, Likes und Shares über die E-Mail-Adresse einen digitalen Fußabdruck hinterließen. Laut Karpf müsse zwischen dem Unterzeichnen und dem Erstellen einer Online-Petition unterschieden werden. Der Vorwurf des Clicktivism missachte dabei, dass es um weit mehr als nur das Unterzeichnen oder Erstellen gehe. Die Plattformen würden Petitionen listen, Wachstum erzielen, intern mit Logiken arbeiten, die berechnen, welche Online-Petition viral gehen und eine Bewegung hervorrufen könnte und nicht zuletzt durch die Online-Petitionen auch Möglichkeiten erschaffen, wie Kommunikation zwischen Petent*innen, den Unterzeichner*innen und der Plattform selbst entstehen könnte (vgl. Karpf 2016: 62). Durch das Unterzeichnen und das damit verbundene Hinterlassen einer E-Mail-Adresse sei ein erster Schritt getan, der auf einer „ladder of engagement“ (ebd.: 63) später zu mehr Engagement führen könne. Wie dies im Detail geschehen kann, beschreibt auch Han (2014) empirisch fundiert.
In einem Artikel befasst sich Karpf (2018) nochmals detaillierter mit Techniken des Messens von Mitglieder-Interessen, Datenanalyse und einer „culture of testing“. Er bezeichnet Analytic Activism als „a particular constellation of online activist practices, most frequently associated with large-scale ‘netroots’ advocacy associations that tend to prioritize progressive, reformist policy objectives.“ (ebd.: 2) Drei Eigenschaften würden Analytic Activism von bisherigen Formen des Aktivismus unterscheiden: 1) Analytic Activism umfasse eine „culture of testing“, die das Lernen innerhalb der Organisation fördere und die Praktiken der Organisation mit forme. Anstatt vorzugehen, wie man es immer schon gemacht habe, würden Formen für Verbesserung gesucht. 2) Es gehe darum, der Analytik zuzuhören. Das umfasse externes/indirektes und internes/direktes Zuhören. Bei Ersterem liege die Kontrolle bei einer anderen Plattform, z. B. Facebook, im zweiten Fall liege die Kontrolle bei der Organisation selbst, weil die Datenanalyse über die Webseite, E-Mails usw. laufe. 3) Analytic Activism benötige Skalen. Von Unternehmen wie Facebook sei gelernt worden, dass von rohen Daten viele Informationen über Verhalten und Interessen abgelesen werden könnten. Dabei gilt: Umso größer die Zahlen, desto aussagekräftiger die Analytik. Dies gilt auch für Organisationen: Umso mehr Mitglieder, desto aussagekräftiger sind die Zahlen. Die Bedeutung von Analytic Activism steige folglich mit der Organisationsgröße (ebd.: 2 f.).
Mit Ausnahme von Shulman (2009), der seine Kritik am Clicktivism mit einer empirischen Untersuchung belegt, basiert ein Großteil der Argumente von anderen Netzpessimisten auf Annahmen, Anekdoten und Theorien. In der Praxis können einige Forschungsergebnisse die These der Faulheit durch Netzaktivismus jedoch entkräften. Kwak et al. (2018: 198) untersuchen den Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung von Social Media und politischer Partizipation online und offline und stellen die Frage: „can positive perceptions of the expressive potential of a political communication technology in one domain influence political behavior in another?“ Diese Frage ist insb. vor dem Hintergrund der Slacktivism-Debatte interessant, denn Morozov (2013) behauptet, dass die Teilnahme an niedrigschwelligen Protestformen online, dazu führe, dass die Bereitschaft für höherschwellige Protestformen offline abnehme. Andere Literatur argumentiert hingegen, dass niedrigschwellige politische Partizipation im Netz einen „Spill-over“-Effekt auf höherschwellige Offline-Partizipation habe (vgl. Boulianne 2015; Lane/Dal Cin 2017). Der Studie von Kwak et al. (2018: 200) liegt wiederum die Annahme zugrunde, dass die Wahrnehmung des Potenzials von Social Media wichtiger sei als die Technik selbst.
Die Ergebnisse der Studie lauten zusammengefasst: 1) Umso mehr Individuen politische Partizipation auf Social Media als einflussreich („impactful“) oder leicht („easy“) empfinden, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich politisch auf Social Media äußern. 2) Wer sich auf Social Media politisch äußert, partizipiert mit höherer Wahrscheinlichkeit auch offline. 3) Die Wahrnehmung, dass Social Media einflussreich oder einfach ist, erhöhte die politische Partizipation offline dadurch, dass Individuen ermutigt werden, sich politisch auf Social Media zu äußern. 4) Die Beziehung zwischen dem wahrgenommenen Einfluss von Social Media und dem politischen Sich-ausdrücken auf Social Media wird durch Netzwerk-Homogenität beeinflusst, nicht aber durch den Faktor Alter. 5) Die Beziehung zwischen dem politischen Sich-Ausdrücken auf Social Media und politischer Partizipation außerhalb des Netzes wird durch die Faktoren Netzwerk-Homogenität und Alter beeinflusst (vgl. ebd.: 209).
In Konsequenz hieße das, dass der einfache Zugang zu Social Media und die Einschätzung dessen Einflusses in der Tat Auswirkungen auf die Nutzung von Social Media hätten. Gegensätzlich zur Slacktivism-Kritik sei das Ergebnis, dass diejenigen, die sich online über Social Media ausdrücken auch offen gegenüber höherschwelligen offline Formen der politischen Partizipation seien (vgl. ebd.: 213). Relativiert wird dieses Ergebnis jedoch durch die Einschränkung, dass diese Ergebnisse nicht für Individuen in politisch heterogenen Netzwerken und für jüngere Menschen gelten. Hier liegt laut den Autoren die Vermutung nahe, dass für sie eine politische Äußerung in manchen Kontexten zu riskant sein könnte. Menschen in homogenen Netzwerken würden hingegen durch Gleichgesinnte gestärkt und ihre Bereitschaft zu partizipieren – auch offline – steige dadurch. Problematisch an diesem Ergebnis sei, dass somit kaum Austausch mit Andersdenkenden stattfände. Für den demokratischen Prozess seien Deliberation und Austausch jedoch von enormer Bedeutung. Eine mögliche Erklärung für die abweichenden Ergebnisse der verschiedenen Alterskohorten könnte laut Kwak et al. in unterschiedlichen Bürgerschaftsverständnissen – „dutiful vs. actualizing citizenship“ (Bennett et al. 2011) – liegen.
Andere empirische Studien, die zur Entkräftigung der Slacktivism-Kritik beitragen, kommen aus der deutschen Forschungslandschaft. Während Voss (2014) bei einer Umfrage unter Bundestagsabgeordneten herausgefunden hat, dass diese sich eher weniger von Online-Petitionen und Ähnlichem beeinflussen lassen, reagieren laut einer Untersuchung von Baringhorst et al. (2010) größere Unternehmen schon häufiger auf Online-Petitionen mit einer hohen Unterstützer*innen-Anzahl und nehmen sie durchaus als Warnung für potentielle Kundenverluste oder andere Missstände wahr. Unverbindliche Formen des Netz-Engagements sollten folglich nicht einheitlich abgewertet werden, denn sie können je nach Fall durchaus Resonanz beim adressierten Gegner haben. Auch das Argument, Bürger*innen würden Online-Petitionen in Sekundenschnelle unterzeichnen, ohne sie zu hinterfragen oder wirkliches Fachwissen zum Thema zu besitzen, wird durch Forschungsergebnisse von Baringhorst et al. entkräftet. In Partizipationstagebüchern beschrieb eine Teilnehmerin der Studie, wie sie sich zeitintensiv mit einer Vielzahl von Petitionsaufrufen beschäftigen musste, um zu entscheiden, welchen Aufruf sie unterstützen wolle und welchen nicht. „Gegensätzlich zur Behauptung des Slacktivism, dass Protest im Netz nur etwas für Faule sei, lehnten es in dieser Untersuchung viele Teilnehmer*innen ab, einfach zu unterschreiben ohne Hintergrundinformationen recherchiert zu haben.“ (Baringhorst 2015c: 48)
Der Wandel von Protestpartizipation im Zuge der Digitalisierung und die Zunahme niedrigschwelliger Partizipationsangebote zeigen auch Folgen für die Demokratie bzw. das Demokratieverständnis der Bürger*innen. Crouch (2004: 49) argumentiert unter dem Schlagwort „Post-Demokratie“, dass das politische Leben mittlerweile größtenteils von einer kommerziellen Handlungslogik bestimmt werde und sich die politische Beteiligung der Bürger*innen auf ein Konsumverhalten umgestellt habe: „Politics and other types of news have been increasingly redefined as items of very short-term consumer spending. The consumer has triumphed over the citizen.“ Blühdorn (2013) wiederum bezeichnet gegenwärtige Demokratien als „Simulative Demokratie[n]“, die es zum Ziel hätten, zu verschleiern, dass Demokratie gegenwärtig ihre Gültigkeit als Norm verloren habe und sie nicht (mehr) in der Lage sei, auf die widersprüchlichen Bedürfnisse ihrer Bürger*innen einzugehen. Der Begriff schlägt vor, dass eine authentischere Alternative zur tatsächlichen politischen Praxis nicht mehr zur Verfügung stehe „weil dafür die systemischen Imperative längst zu übermächtig sind, die normativen Grundlagen fehlen, die Interessenskonstellationen zu veränderlich, komplex und widersprüchlich sind und jene vermeintlich authentische Politik mit den postdemokratischen Bedürfnissen der Bürger in Konflikt geraten würde.“ (Blühdorn 2013: 182 f.) Blühdorn (ebd.: 197) stellt fest, „dass es bei New Politics 2.0, anders als bei der neuen Politik der partizipatorischen Revolution, ganz wesentlich darum geht, den eigenen Subjekt-Status zu inszenieren, präsentieren und erleben. Beteiligung an kollektiven Partizipationsformen wird dementsprechend zur Inszenierung und zum Erlebnis des kollektiven Subjekts.“ Auf die Konzepte von „Post-Demokratie“ und „Simulative Demokratie“ wird ausführlicher in Abschnitt 5.​2 „Bürgerschaftsverständnis“ eingegangen. An dieser Stelle wurden die Begrifflichkeiten als Konsequenz aus dem Wandel von Protestpartizipation aus Gründen der Vollständigkeit jedoch erwähnt.

2.4.2 Protestpartizipation als konnektives und individualisiertes Handeln

Die tunesische Netzaktivistin und Dozentin für Linguistik Ben Mhenni (2011: 44) fordert: „Vernetzt Euch!“ und ist davon überzeugt, dass das Internet insb. durch seinen vernetzten Charakter dazu geschaffen sei, sich zu solidarisieren und engagieren: „Das Netz ist so mächtig, weil es unmittelbar reagieren und unbegrenzt viele Menschen miteinander verbinden kann. […] Das Netz ist wie geschaffen, um Solidarität zu üben.“ In ihrem 2011 von der Deutschen Welle ausgezeichneten Blog „A Tunisian Girl“ setzt sich Ben Mhenni für die Durchsetzung der Menschenrechte und gegen Zensur in Tunesien ein. In ihrem Essay betont sie die Bedeutung des Internets für den Arabischen Frühling und ruft zur Nutzung der sozialen Netzwerke für die Mobilisierung von mehr direkter Demokratie auf.
Auch Gerbaudo (2012: 134) betont die Vorteile von Sozialen Medien wie Facebook, insb. für Rekrutierungs- und Mobilisierungszwecke. Gerbaudo (ebd.) untersucht basierend auf einer qualitativen ethnografischen Studie die Mobilisierungsfunktion von Sozialen Medien und kommt zu dem Ergebnis, dass Kritik an Netzkommunikation wie von Gladwell (2012: 134), welcher insb. die Schwäche der sozialen Bindungen zwischen Nutzer*innen kritisiert, für soziale Netzwerke wie Facebook nur teilweise zutreffe. Das besondere Potenzial liege hier darin, dass Protestbotschaften vergleichsweise einfach in soziale und persönliche Netzwerke getragen werden könnten und Facebook-Mitglieder auf direktem Weg in diesen privaten Sozialbeziehungen angesprochen werden würden. Baringhorst (2015b: 337) stellt dazu fest: „Die virale Verbreitung von Protestforderungen gelingt dann, wenn Produser zu Botschaftern der guten Sache werden und die mit Protesten verbundenen Informationen und Deutungsmuster weiterleiten, in ihren eigenen sozialen Netzwerken bekannt machen und sie ggf. auch in die Sprache ihrer Freunde übersetzen.“ Eine Einbettung in leicht zu verbreitende Formate, eine sogenannte „Spreadability“ (Jenkins et al. 2013), sei für die Aufmerksamkeitserzeugung in Sozialen Medien bedeutungsvoll. Dass sich Inhalte sowohl top-down als auch bottom-up verbreiten ließen, habe die Kommunikationslandschaft „viel partizipativer, aber auch unordentlicher und unberechenbarer, als oft angenommen“ (Baringhorst 2015a: 75) gemacht.
Auch Bimber/Flanagin/Stohl (2005) befassen sich mit Tendenzen einer Individualisierung von Protestpraktiken und setzen sich zum Ziel, die Theorie kollektiven Handelns neu zu konzipieren. Dabei bauen sie auf Lupia und Sin (2003) auf. Diese hätten bereits eine alte Annahme widerlegt, nämlich Olsons These, dass kleine Gruppen erfolgreicher seien als große. Die Frage sei aber nun grundsätzlich, ob die Theorie von Olson (1965) der Fülle an gegenwärtigen technischen Möglichkeiten noch gerecht werde (Bimber/Flanagin/Stohl 2005: 366). Bimber/Flanagin/Stohl entwickeln ein erweitertes Modell, das zwei fundamentale Aspekte in der Theorie kollektiven Handelns überprüft: Erstens die binäre Unterscheidung zwischen Teilnahme und Nicht-Teilnahme und zweitens die Rolle formeller Organisationen. Die Autor*innen argumentieren, dass die traditionelle Theorie kollektiven Handelns zwar wichtige Aspekte berücksichtige, aber nicht mehr alle gegenwärtig relevanten. Deswegen definieren sie kollektives Handeln als Phänomen, das die Grenzen zwischen privat und öffentlich verschwimmen lässt: „a set of communication processes involving the crossing boundaries between private and public life.“ (ebd.: 367)
Mit einem solchen Verschwimmen der Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit setzt sich auch Papacharissi (2010, 2009) auseinander. Ihr Argument ist, dass durch die Kommerzialisierung und Verbreitung von ICTs die Öffentlichkeit nicht länger das Zentrum von demokratischen Debatten sei. Ergebnis sei, dass zivilgesellschaftliche Aktivitäten mehr und mehr aus der sicheren und bequemen Sphäre des Privaten heraus praktiziert würden. Das Verschwimmen der Grenzen zwischen privat und öffentlich führe laut Papacharissi (2010) dazu, dass Bürger*innen basierend auf neuen Technologien, Praktiken und Räumen ihre zivilgesellschaftlichen Gewohnheiten umstellen und Verständnisse von Bürgerschaft verändern. Papacharissi argumentiert, dass Sichtbarkeit und Kollektivität nicht mehr länger ausschlaggebend dafür seien, ob sich Bürger*innen in einer öffentlichen Debatte beteiligen oder nicht. In gegenwärtigen Demokratien habe sich die Bandbreite von Praktiken insofern vergrößert, als dass sie in den Raum des Privaten und Mobilen hinein reicht.
Bimber/Flanagin/Stohl (2005) beziehen sich auf Bennett, der schon 2003 beschrieb, wie kollektives Handeln online möglich sei und wie neue Techniken die Kosten dafür geringhielten. Während große Organisationen zuvor vom Zugang zu zentralisierten Medienapparaten profitiert hätten und kleine Organisationen dadurch einen Nachteil hatten, schließen ICTs nun diese Lücke und verringern diese Abhängigkeit: „With the rise of micromedia […] and ‚middle‘ media […], formal organizations, flexible decentralized organizations, networks and even individuals now have the potential to communicate and coordinate with others in ways that until recently were feasible almost exclusively for formal organizations.“ (Bimber/Flanagin/Stohl 2005: 375; siehe dazu auch Bennett 2003)
Ein Model, das auf dem Wandel von privat zu öffentlich basiert, ist laut Bimber/Flanagin/Stohl das Herzstück von neuem ICTs-basiertem kollektiven Handeln. Die Autor*innen sprechen von „precollective action“, welche sich von kollektiven Handlungen dahingehend unterscheide, dass sie individuell und nicht öffentlich sei. Kollektive Aktionen wiederum fänden in der Öffentlichkeit statt und erforderten somit Anreize und Bemühungen, Menschen davon zu überzeugen, ihren privaten Raum zu verlassen und in der Öffentlichkeit persönliche Interessen auszudrücken, während sie andere dabei sehen können (Bimber/Flanagin/Stohl 2005: 377). Bei klar definierten Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit seien die Kosten für ein solches Überschreiten meist sehr hoch. Wenn die Grenzen verschwimmen, scheine eine Überschreitung der Grenzen weniger aufwändig. Bimber/Flanagin/Stohl (ebd.: 381) nennen Blogs als eines der offensichtlichsten Beispiele dafür, wie Privates und Öffentliches verschwimmen können. Eigentlich private Gedanken werden hier öffentlich geteilt. Diese Entwicklung geht den Autor*innen nach jedoch nicht nur auf Technikentwicklung zurück, sondern auch auf Veränderungen in der Gesellschaft an sich. So komme es nicht allein auf die Technik an, sondern darauf, wie Menschen Technik anwenden und welche neuen Praktiken sich daraus entwickeln (ebd.: 383 f.).
Mit einem Fokus auf Individuen, die sich in Organisationen engagieren, entwickeln Bimber/Flanagin/Stohl (2012) darauf aufbauend das Konzept von „Collective Action Space“, welches Elemente aus Social Capital Theory, Organization Theory, Collective Action Theory und Interest Group Theory vereint und eine neue Theorie des kollektiven Handelns und Organisierens darstellen soll. Diese Theorie hat zum Ziel, Interaktionen und Engagement von Individuen abzubilden, die Mitglied in einer Organisation sind. Basierend auf Befragungen und Interviews bestimmen die Autor*innen die individuelle Partizipation, den Identifikationsgrad und den Vertrauensgrad von Aktivist*innen, um zu visualisieren, wo Mitglieder von Organisationen im sogenannten Collective Action Space stehen (vgl. ebd.: 74 ff.). Eine dann folgende Analyse der individuellen Motive, Interaktionen und des Engagements ergibt, dass bei der Erklärung von Mitglieder-Beteiligung individuelle Faktoren mindestens genauso wichtig seien wie organisationale und dass individuelle Ziele und Motive für Engagement bessere Voraussagen über die Wahrscheinlichkeit von Partizipation treffen könnten als Faktoren wie Alter, Bildung und andere traditionelle Einflussfaktoren (vgl. Bimber/Flanagin/Stohl 2012: 106 ff.).
Bennett/Segerberg (2012) fassen Tendenzen der zunehmenden Personalisierung und Individualisierung in ihrer „logic of connective action“ zusammen. Immer stärker verbreitete „digitally enabled action networks“ zeichnen sich den Autor*innen nach insb. dadurch aus, dass Netzwerke von Issue Advocacy Organizations die Koordination im Hintergrund übernehmen würden und damit konventionelle Kollektive und deren starre Mitgliedschaftverständnisse ersetzen. „Instead they cast a broader public engagement net using interactive digital media and easy-to-personalize action themes, often deploying batteries of social technologies to help citizens spread the word over their personal networks.“ (ebd.: 742) Digitale Plattformen übernähmen die Rolle von etablierten Organisationen und politische Forderungen würden in persönlichen Kontexten über Soziale Medien, E-Mail und andere Online-Formen geteilt werden. Im Vergleich zu konventionellen Sozialen Bewegungen seien digitale Aktionsnetzwerke flexibler und schneller: „compared to many conventional social movement protests with identifiable membership organizations leading the way under common banners and collective identity frames, these more personalized, digitally mediated collective action formations have frequently been larger; have scaled up more quickly; and have been flexible in tracking moving political targets and bridging different issues.“ (ebd.)
Um zu beschreiben, wie solche Netzwerke funktionieren, was sie zusammen hält und was ihre politischen Effekte sind, entwerfen Bennett/Segerberg (ebd.: 743) drei Idealtypen von politischen Aktionen, die zwei verschiedenen Logiken zuzuordnen sind: Der „logic of collective action“ und der „logic of connective action“. Grundlage dessen ist eine Unterscheidung zwischen „collective action frames“ einerseits und „personalized action formations“ andererseits. Letzteres zeichne sich durch einen Rückgang von Mitgliedschaften und Loyalität gegenüber Institutionen aus und führe zu Veränderungen in den sozialen und politischen Orientierungen der Bürger*innen. Dieser Aspekt wird – sowohl theoretisch mit Bezug auf Bennett/Segerberg (2012) als auch empirisch – ausführlich in Abschnitt 5.​3.​2 „Kollektive Identität und Mitgliedschaft“ beleuchtet.
Individualisierte Orientierungen bewirken laut Bennett/Segerberg (ebd.: 744), dass zivilgesellschaftliches Engagement als Ausdruck von persönlichen Hoffnungen, Lebensstilen und Missständen verstanden würde. Politische Identifikation basiere dabei eher auf persönlichen Lebensstilen als auf Gruppenidentifikation oder Ideologien und entsprechend entstünden flexible soziale Netzwerke mit schwachen Bindungen.
Personalisierung und Individualisierung von politischer Partizipation zeigen sich auch in den Wegen, wie einzelne Themen es auf die Agenda der Öffentlichkeit schaffen und wie Organisationen sich für oder gegen bestimmte Themen entscheiden. In manchen Fällen ist es die Aufmerksamkeit der Bürger*innen, die es Organisationen ermöglicht zu handeln und sich einem Thema anzunehmen und nicht anders herum, die Organisation, die es den Bürger*innen ermöglicht für oder gegen etwas aktiv zu werden (vgl. Bimber 2017). Karpf (2012) argumentiert, dass eine neue Art von Organisationen sich dem neuen Umfeld der digitalen Medien angepasst habe und ihre Agenda basierend auf steigenden und sinkenden öffentlichen Aufmerksamkeiten für einzelne Themen aufbaue. Diese Organisationen bieten Bürger*innen dann Mitmachmöglichkeiten – so gesehen aber als erweiterte Agency der Bürger*innen selbst. Eine andere Möglichkeit sei es wiederum, dass Individuen Möglichkeiten geboten werden, sich bei der gleichen Organisation einzubringen, dies aber auf personalisierten Wegen geschehe (Bimber/Flanagin/Stohl 2012). Bennett/Segerberg (2012) argumentieren, dass solche Organisationen entscheiden, ob sie Aktionen selbst „framen“ und strukturieren oder ob sie zurücktreten und personalisierte Arten von „networked action and expression“ erleichtern, die sich insb. jüngere Generationen mittlerweile wünschen. Bimber (2017) schlägt in diesem Kontext eine Dreiteilung vor und differenziert zwischen „organizational-prompted behavior“, „socially-prompted behavior“ und „self-directed behavior“. Im Falle des ersten folge die Entscheidung zu partizipieren einer Aufforderung durch eine Organisation. Diese sei eindeutig identifizierbar und genieße eventuell eine gewisse Autorität oder Legitimität. Dieser Weg entspräche dem klassischen Verständnis einer organisationsgeführten politischen Mobilisierung. Heutzutage müssten Individuen dabei nicht mehr zwangsläufig auch Mitglied der entsprechenden Organisation sein oder sich besonders stark mit ihr identifizieren, diese Faktoren würden die Wahrscheinlichkeit der Partizipation jedoch erhöhen. Im Fall von „socially prompted behavior“ entscheide sich das Individuum zur Teilnahme, weil ihm bewusst werde, dass auch andere mitmachen. Dies könne auch beinhalten, dass eine Organisation ihre Netzwerke so aktiviere, dass andere auf Aktionen aufmerksam würden, ohne dabei diese Strategie der Mobilisierung zu erkennen. In anderen Fällen organisierten sich Bürger*innen selbst und ließen ihre Aktionen durch soziale Netzwerke oder Nachrichtenmedien sichtbar werden. Der dritte und etwas seltenere Typ von „self-directed behavior“ umfasse Fälle, in denen Individuen unabhängige Trigger erfahren. Diese Bürger*innen könnten zwar auch in Informationsflüsse von anderen Quellen wie Organisationen oder Bekannten eingeschlossen sein, die explizite Anfrage für Partizipation käme in diesem Fall aber von keinem der beiden. Beispiele dafür wären, wenn jemand nach Lesen einer Nachricht einen Politiker kontaktiert, einen politischen Post verfasst oder Geld an eine Organisation spendet, weil etwas in der Nachricht dieses Verlangen bei ihm/ihr ausgelöst hat (vgl. Bimber 2017: 13). Unterstützung erhält dieser dritte Typ u. a. in den Forschungsergebnissen von Earl/Kimport (2009), die feststellen, dass sogenannte „movement tactics“ wie Petitionen oder Boykotts sich aus Verhaltensnormen und alltäglichen Praktiken heraus entwickeln können, die keinerlei weitere externe Aufforderungen benötigen.
Dolata/Schrape (2016) befassen sich hingegen mit der Frage, wie die Vielzahl verschiedener durch Personalisierung und Individualisierung entstandener Akteure im Netz unterschieden und klassifiziert werden können und welchen Einfluss technische Infrastrukturen haben, in denen diese Akteure operieren. Dabei unterscheiden die Autoren zwischen zwei Haupttypen von sozialen Kollektiven: „non-organized collectives“ und „collective actors“. Dolata/Schrape (2016) untersuchen das Zusammenwirken von technologischen Infrastrukturen, in die diese Kollektive eingebettet sind, und sozialen Prozessen der Koordination und Institutionalisierung. Sie stimmen vorhergehender Forschung von Bennett/Segerberg (2012) und Bimber/Flanaging/Stohl (2012) in der Hinsicht zu, als dass in allen Fällen von neuen Formen der Mobilisierung und Organisation von politischem Protest im Netz Technologien als „organizing agents“ (Bennett/Segerberg 2012: 752) oder zumindest als „technological tools that fundamentally enhance connectivity among people“ (Bimber/Flanaging/Stohl 2012: 3) dienen. Jedoch bemängeln sie fehlende soziologische Studien und Konzepte bzgl. der Auswirkungen technischer Infrastrukturen.
Der erste Typ, „non-organized collectives“, habe die Hauptaufgabe, ähnliche Entscheidungen und Verhaltensweisen von Individuen zu bündeln. Diese Akteure hätten keinen organisierten oder aktionsgeleiteten Kern, verfügen aber über eine gemeinsame Wahrnehmung von einem Problem, was zu einem Massenverhalten führen könne: „[…] non-organized collectives do not act as one entity […] they are characterized by spontaneous and volatile forms of collective behaviour“ (Dolata/Schrape 2016: 3). Dieses Verhalten könne in Sozialen Bewegungen oder Communities münden, die geteilte Ziele, Regeln und Identitätseigenschaften hätten. Sie könnten in Form von strategischen Aktionen auftreten, über die Zeit eine Gruppenidentität entwickeln und sich durch Institutionalisierung stabilisieren. Darüber hinaus differenzieren sie sich intern aus (Aktive vs. Mitläufer) und entwickeln eventuelle Machthierarchien. Solche „collective actors“ seien keine formellen Organisationen, aber sie seien organisiert. Soziale Bewegungen oder Communities mit Bezug zu Online- wie Offline-Kontexten definieren Dolata/Schrape (ebd.: 8) auch als „groups of people who are consciously and deliberately connected by shared views of reality or specific objectives rather than any geographical or friendship ties. […] [They] are neither based on any explicit hierarchical order, as exists in organizations, nor do they have a formal membership structure or binding rules of conduct.” Akteure, die diesem zweiten Haupttyp zuzuordnen seien, hätten bestimmte institutionelle Charaktereigenschaften wie Konventionen, Werte, Standards, Wissensstrukturen usw., die das Verhalten der Mitglieder beeinflussen und Grenzen der Gemeinschaft markieren würden.
Für beide Haupttypen bilden die Autoren nochmal jeweils Untertypen. Innerhalb von „non-organized collectives“ unterscheiden Dolata/Schrape (2016: 4 f.) in Anlehnung an Blumer (1939) zwischen „masses“, „crowds“ und „issue publics“. Sie werden charakterisiert durch eine situative Spontanität, hohe Flüchtigkeit und Unbeständigkeit, keine eigene Koordination und Entscheidungsstrukturen und keine so gute Wiedererkennbarkeit wie autonome soziale Akteure. Der zweite Haupttyp kann wiederum in sechs Untertypen unterschieden werden: 1) Soziale Bewegungen im klassischen Sinne, 2) „loosely networked movements“, 3) „internet-mediated issue generalists“, 4) „elite-structured and clearly focused groups“, 5) „hacktivist collective“ und 6) „production-oriented communities“ (Dolata/Schrape 2016: 11 f.). Bei allen Formen ließen sich situationsübergreifende Institutionalisierungsprozesse beobachten, während denen sich Gruppenidentitäten, geteilte Regeln und Ziele und Koordinations- und Organisations-Kernstrukturen herausbilden, die kollektive Aktionen ermöglichen.
Neu an der Typisierung von Dolata/Schrape ist die signifikante Rolle von Technik, spezifischer gesagt, von technischen Infrastrukturen, welche kollektives Verhalten oder kollektive Aktionen formen und organisieren. Beide Haupttypen können nicht länger als rein soziale Phänomene beschrieben werden, sondern als enge Vernetzung von sozialen und technischen Faktoren (vgl. ebd.: 13 ff.). Technik ermöglicht in diesem Kontext die Formation von Kollektiven (u. a. durch reduzierte Transaktionskosten, schnelle Austauschmöglichkeiten, erweiterte Reichweite usw.).
Grundsätzlich schreiben Dolata/Schrape (ebd.: 5 f.) Web-Infrastrukturen drei Eigenschaften zu: Empowerment, Koordination und Kontrolle: 1) Empowerment: Die verschiedenen Internet-Plattformen erweitern Optionen für die Beschaffung von Informationen, erhöhen Interaktivität und Geschwindigkeit kollektiver Formen der Kommunikation und des Austausches und ermöglichen Kommunikation unabhängig von einem Ort. 2) Koordination: Web-Infrastrukturen entwickeln Koordinations- und Regulations-Charakteristiken. Feste, aber dennoch reproduzierbare Applikationen, Funktionen und Konditionen einer Plattform tragen zu einer sozialen Strukturierung von sogenannten „non-organized collectives“ und kollektivem Verhalten bei und führen damit zu mehr Stabilisierung. 3) Kontrolle: Web-Infrastrukturen generieren eine fundamental neue Bedeutung von sozialer Kontrolle. Sie ermöglichen das Beobachten, Auswerten und Beurteilen von Profilen und Präferenzen von Individuen und „non-organized collectives“ besser als es zuvor jemals möglich war. Diese Kontrolle kann aber nicht nur von privaten Operateuren ausgeführt werden, sondern auch von Staaten und Regierungen.
Zivilgesellschaftliches Engagement wird sowohl von technischen als auch gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst. Digitale Medien fördern durch ihre technische Struktur und teilweise Loslösung von Örtlichkeiten vernetzte Formen der sozialen Organisation (vgl. Bennett/Segerberg 2012; Castells 2012). Webgestützte Protestnetzwerke werden als Ausdruck einer zunehmend individualisierten sozialen Vernetzung verstanden. Castells (2005: 145) bezeichnet dies als „vernetzte(n) Individualismus“, Papacharissi (2009) spricht von „networked selves“, die in Social Media als Individuen agieren, und Reckwitz (2017) von „Neogemeinschaften“.
Eine solche Individualisierung kann jedoch nicht nur im Bereich politischen Protests und zivilgesellschaftlichen Engagements beobachtet werden, sondern beschreibt grundsätzliche gesellschaftliche Entwicklungstendenzen im 21. Jahrhundert. Beck (1986, 2008) beschreibt Individualisierung und Flexibilisierung schon früh und meint damit bspw. die Auflösung von starren Schichtzugehörigkeiten, traditionellen Familienbildern oder der Vorstellung, dass Menschen ihr Leben lang ein und demselben Beruf an nur einem festen Wohnort nachgehen. Bürger*innen gestalten ihre Biografien nach Beck (1993) und Beck-Gernsheim (1994) heutzutage selbstständig, aus der Normalbiografie wird die Bastelbiografie. In Anlehnung an Sartre (1993) sei der Mensch zur Individualisierung verdammt, so Beck (1993).
Diese gesellschaftlichen Entwicklungen zeichnen sich auch im Bereich der politischen Partizipation ab. Personalisierung von Politik führt zu einer neuen Form von Lebensstilpolitik, die sich durch eine stärkere lebensweltliche Verankerung von Engagement im Alltag der Bürger*innen auszeichnet. Dies geht einher mit einem schwächer werdenden Verständnis von Bürgerschaft als Pflicht – „dutiful citizenship“ – zugunsten einer zunehmenden Vorstellung einer selbstbestimmten Bürgerschaft – „actualizing citizenship“ (Bennett 2008). Mit solchen Tendenzen von Protestpartizipation als Lifestyle-orientiertes Handeln befasst sich das nächste Unterkapitel.

2.4.3 Protestpartizipation als Lifestyle-orientiertes Handeln

Politischer Konsum ist ein besonders anschauliches Beispiel für das, was Bennett „lifestyle politics“ (1998) nennt. In der Wissenschaft befassen sich einige Forscher*innen mit politischem Konsum und dessen Bedeutung für politische Partizipation.31 Diese Form von Konsum beinhaltet das Ausdrücken von politischen Werten und moralischen Bedenken in Aktionen, die traditionell von Forscher*innen eher als privat, individuell und nicht-politisch bezeichnet wurden und für die nicht von Organisationen oder Netzwerken politischer Aktionen aufgefordert werden muss. Forschung zu sozialen Einflüssen zeigt, dass soziale Signale in der Regel stärker sind, wenn die Zahl der Unterstützer*innen hoch ist oder Aktionen besonders gut sichtbar sind. Wer später solchen Aktionen beitritt ist dann in der Regel stärker von sozialen Signalen beeinflusst worden, als es die Initiatoren wurden, die eher „self-directed“ gehandelt haben (vgl. Bimber 2017).
Van Deth (2014) und de Moor (2014) befassen sich ausführlich mit der Frage, wie politische Partizipation im Kontext von Personalisierung und Individualisierung definiert werden kann, da es neue Formen der Partizipation erschweren, politische Partizipation trennscharf von anderen Phänomenen zu unterscheiden. Um die Ausbreitung politischer Aktivitäten systematisch, effizient und konsistent zu konzeptualisieren, entwickelt van Deth (2014) eine operative Definition politischer Partizipation. Er möchte ein gemeinsames Verständnis davon schaffen und Intentionen und Ziele von Individuen als Kriterium für die Charakterisierung von politischer Partizipation miteinbeziehen. Politisch wäre dann folglich alles, was das Individuum selbst als politisch versteht. Laut van Deth (ebd.: 349) enthält die Expansion der Partizipationsformen durch neue, kreative, personalisierte und individualisierte Formen mit politischem Konsum, Straßenparties oder Guerilla-Gardening an sich unpolitische Formen, die jedoch für politische Zwecke genutzt werden.
Vier Aspekte sind laut van Deth (ebd.: 351 f.) in der Literatur unumstritten und können demnach als Minimaldefinition politischer Partizipation gelten: 1) Politische Partizipation ist eine konkrete Aktivität oder Aktion, nur Fernsehen schauen oder eine Webseite besuchen, gehört folglich nicht dazu. Ebenso wenig Meinungen, Einstellungen oder Orientierungen. 2) Politische Partizipation wird verstanden als etwas, dass Menschen in ihrer Rolle als Bürger*in tun, nicht als Politiker*in oder Lobbyist*in. Die Aktivität ist also nicht-bezahlt, nicht-professionell und amateurhaft. 3) Politische Partizipation sollte freiwillig sein und nicht durch Gesetze, Regeln oder Einschüchterungen erzwungen werden. 4) Politische Partizipation hat im weitesten Sinne mit dem Staat, Regierungen oder Politik zu tun und ist nicht eingeschränkt auf bestimmte Phasen oder Level. Sind alle diese vier Aspekte erfüllt, erhält man laut van Deth (2014: 354) den ersten Typ politischer Partizipation, welcher Aktivitäten wie Wählen, eine offizielle Petition absenden, einen Kandidaten oder eine Partei unterstützen oder aber auch ‚participatory budgeting‘ umschließt. Eine häufige übergeordnete Bezeichnung für Aktivitäten, die diese minimale Definition erfüllen, ist „conventional modes of participation“ (Kaase & Marsh 1979).
Drei weitere Anschlussfragen führen zu drei weiteren Typen von politischer Partizipation: 5) Zielt die Aktivität auf eine Sphäre des staatlichen, politischen oder regierenden ab? Van Deths (2014: 357) zweiter Typ politischer Partizipation heißt „targeted political participation“ und umfasst Aktivitäten, die nicht innerhalb von Staat, Regierung oder Politik stattfinden, aber darauf abzielen. Viele dieser Aktivitäten werden angewendet, um Aufmerksamkeit auf Probleme zu lenken, die entweder noch nicht als problematisch empfunden wurden oder bei denen noch nicht anerkannt wurde, dass sie den Staat, die Regierung oder das Politische betreffen. Häufige Bezeichnungen für diesen Aktivitätstyp sind: „contentious politics“ (Tilly 2008: 5) oder „elite-challenging politics“ (Inglehart 1990: 338 ff.). 6) Hat die Aktivität zum Ziel, dass ein kollektives oder gemeinschaftliches Problem gelöst wird? Aktionen, die nicht die Regierung, den Staat oder die Politik angreifen oder in deren Sphäre stattfinden, können trotzdem als politische Partizipation gelten, wenn sie zum Ziel haben, ein kollektives oder gemeinsames Problem zu lösen. Solche Aktionen werden oft „individualized collective action“ (Micheletti 2003; Shirky 2008; van Deth 2010) genannt. Diesen dritten Typ nennt van Deth (2014: 358) „second variant of a targeted definition of political participation“ und er umfasst z. B. Bürgerinitiativen oder Nachbarschaftsgemeinschaften. 7) Wird die Aktivität genutzt, um politische Ziele und Intentionen von Partizipation auszudrücken? Jede Aktivität, welche die ersten drei Minimalbedingungen erfüllt (Aktivität, als Bürger*in, freiwillig), aber weder in der politischen Arena angesiedelt ist, noch politische Akteure oder kollektive Problemlösung zum Ziel hat, kann als Form von politischer Partizipation verstanden werden, wenn sie politische Ziele oder Intentionen ausdrückt. Micheletti (2003: 14) betont, dass „political consumerism is politics when people knowingly target market actors to express their opinions on justice, fairness, or noneconomic issues that concern personal and family well-being.“ Bennett (2012: 30) nennt dieses Phänomen „profusion of self-actualizing, digitally mediated DIY politics“. Dieser vierte Typ von van Deths (2014) Konzeptualisierung beschreibt folglich eine auf Motive bezogene Form und deckt alle freiwilligen nicht-politischen Aktivitäten von Bürger*innen ab, die ihre politischen Intentionen oder Ziele ausdrücken.
De Moor (2014) baut auf van Deths (2014) Konzeption auf und will die Nützlichkeit dessen explizit für Lifestyle Politics prüfen. Dazu systematisiert de Moor (2014: 7 ff.) Lifestyle Politics und entwickelt sechs Typen. Er stellt fest, dass Lifestyle Politics häufig in verschiedenen privaten, öffentlichen und institutionellen Rahmen ausgeübt würden und damit oft auf mehrere soziale und politische Akteure gleichzeitig abgezielt werde. Entsprechend schlägt de Moor eine Anpassung von van Deths Konzept vor, sodass die Komplexität von erweiterten Möglichkeiten der politischen Partizipation ausreichend erfasst werde.
De Moor (ebd.: 4) definiert Lifestyle Politics mit Bezug auf Bennett (1998), Giddens (1991) und Micheletti (2003) als „politization of everyday life, including ethically, morally or politically inspired decisions about, for example, consumption, transportation or modes of living“. Er versteht diese neue Form der politischen Partizipation als Konsequenz aus der Machtverschiebung weg vom einzelnen Staat hin zu internationalen Regierungsorganisationen, multinationalen Konzernen und privatisierten Anbietern. In Konsequenz sei der Staat nicht mehr so oft Zielscheibe von Protesten und Menschen würden direkt selbst Veränderungen durch alltägliche Entscheidungen bewirken wollen. Damit bringen Lifestyle Politics das Politische in den Raum des Privaten und zu privaten Entscheidungen. Doch dabei gäbe es weiterhin eine kollektive und eine individuelle Ebene. Lifestyle Politics „concerns both the politization of individual lifestyle choices, and the mobilization of fellow citizens into making politically or ethnically motivated lifestyle choices.“ (de Moor 2014: 5) Die Politisierung von Lifestyle Entscheidungen könne sich auf den gesamten Alltag erstrecken, besonders evident ist der Bereich des Konsums.
Basierend auf den Dimensionen Organisation, Zielgruppe, Ziele und Mobilisierung entwickelt de Moor (ebd.: 7 ff.) sechs Typen, die er nicht als wechselseitig exklusiv, sondern als sich ergänzend versteht: 1) individual lifestyle change: Die Entscheidung eines Individuums bzgl. seines Lebensstils ist motiviert durch politische oder ethische Berücksichtigungen und baut auf dem Verständnis auf, dass sozialer Wandel bei den eigenen Lebensstil-Entscheidungen anfängt. Beispiel: Die Wahl von Kleidung oder welches Essen man einkauft. 2) individual lifestyle mobilization: Übereinstimmung mit Typ 1, plus zusätzliches Informieren von Freund*innen, Familie usw. und Öffentlich-Machen dieser persönlichen Entscheidung, um andere dafür zu mobilisieren. 3) collective lifestyle change: Dieser Typ will sozialen Wandel dadurch erreichen, dass der bewusste Lebensstil der einzelnen Mitglieder des Kollektivs gestärkt wird. Beispiel: Solidarische Landwirtschaft. 4) collective lifestyle mobilization: Übereinstimmung mit Typ 3, zusätzlich werden auch Mit-Mitglieder adressiert, denn es herrscht das Verständnis vor, dass für das Ziel des sozialen Wandels möglichst viele Menschen die Nachricht des Kollektivs erhalten müssen. 5) lifestyle politics as prefigurative politics: Lifestyle Politics gelten als Modell dafür, wie Gesellschaft als Ganzes umorganisiert werden müsste, wobei dafür auch politische Eliten miteinbezogen werden müssten. Lifestyle Politics dienen folglich als Vorreiter, die Akteure sind aber auf eine Zusammenarbeit mit politischen Akteuren und Institutionen angewiesen, um den Wandel auf ganzer Ebene durchzusetzen und rechtlich bindend zu machen. 6) lifestyle politics as consensus mobilization: Wenn Bewegungen bestimmte Lebensstile bewerben, liegt dem ein bestimmtes Weltbild zugrunde. Ein dominantes Glaubenssystem muss dann durch ein neues Glaubenssystem ersetzt werden. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung müssen politische Eliten und Entscheidungsträger ihr Handeln ggf. nochmal überdenken. Die Bewegung kann so den politischen Entscheidungsprozess beeinflussen (vgl. de Moor 2014: 11).
Haenfler/Johnson/Jones (2012) kritisieren eine von vielen Forscher*innen vorgenommene Unterscheidung zwischen Sozialen Bewegungen einerseits und Individualebene von politischer Partizipation in Form von Lifestyle Politics andererseits und benennen dies als Schwachstelle im Konzept von Contentious Politics. Die Autoren beobachten einen blinden Fleck an der Schnittstelle von „private action and movement participation, personal and social change, and personal and collective identity“ (ebd.: 1). In Konsequenz schlagen sie das Konzept von Lifestyle Movements vor, welches einen anderen Lebensstil beschreibe, der das Ziel habe, sozialen Wandel zu bewirken.
Bisher haben Forscher*innen immer streng zwischen Sozialen Bewegungen und Lifestyle unterschieden, „conceptualizing movements as organized, change-oriented collective action aimed at the state or other authority structures, and lifestyles as more diffuse, internally focused, style-oriented groupings driven by consumption and popular culture.“ (ebd.) Während Bewegungen als kollektives Handeln verstanden wurden, mit einem Fokus auf sozialen Wandel, einen hohen Grad an Organisiertheit, Kontinuität und Handlungen außerhalb konventioneller politischer Institutionen und Lifestyle hingegen eher verstanden wurde als alltägliche Handlungen, die sich mit Geschmack und Konsum auseinandersetzen, Ausdruck des Selbst und der Freizeit zuzuordnen sind, blieben alternative Lebensstile in dieser Kategorisierung außen vor. Haenfler/Johnson/Jones (ebd.: 2) beschäftigen sich mit eben diesem Zwischenraum zwischen Sozialen Bewegungen und Lifestyle als „individualized collective action […] that consciously and actively promote a lifestyle, or way of life, as their primary means to foster social change.“
Lifestyle Movements zeichnen sich insb. durch vier Charakteristika aus: Erstens begünstigen sie individuelle Aktivitäten, die Partizipation findet eher auf Individualebene statt, folgt aber gleichzeitig dem Verständnis, dass andere das Gleiche tun (sollten) und dies gebündelt dann zu sozialem Wandel beiträgt. Zweitens finden diese Aktivitäten eher im privaten Bereich statt und sind kontinuierlich mit dem täglichen Leben verwoben. Drittens werden diese individuellen und privaten Handlungen als Bestrebungen hin zu einem sozialen Wandel verstanden und viertens betreiben sie Identitätsarbeit, indem sich eine moralisch vertretbare, persönlich bedeutungsvolle Identität im Kontext von kollektiver Identität kultiviert. Individuen in Lifestyle Movements haben häufig wenig Kontakt zu Organisationen: „Much of the structure of LMs, including movement ideology and authority, tends to emerge from a diffuse discursive field rather than in the course of a highly organized campaign.“ (Haenfler/Johnson/Jones 2012: 10) Ihre Struktur bildet sich eher aus informellen sozialen Netzwerken, Cultural Entrepreneurs32 und losen Kontakten zu formalen Organisationen, einschließlich sogenannter Lifestyle Movement Organizations (LMOs), Nonprofits und Social Movement Organizations. „LMOs, nonprofits, and businesses nevertheless structure these LMs as they organize and groom leaders, build a collective identity, refine movement ideology, organize public events and social networks, and mobilize adherents to spread movement ideology.“ (ebd.: 11) Haenfler/Johnson/Jones (ebd.: 14) fassen ihr Konzept von Lifestyle Movements zusammen als „loosely bound collectivities in which participants advocate lifestyle change as a primary means to social change, politicizing daily life while pursuing morally coherent ‘authentic’ identities.“
Eine weitere Konsequenz des Wandels von Protestpartizipation ist eine Zunahme von kreativen Formen der Partizipation. Betz (2016) untersucht in empirischen Studien die Rolle von Vergnügen in Protestaktionen und betont den Ereignischarakter von Veranstaltungen wie Schnibbelpartys oder Nachttanzdemos (siehe Abschnitt 5.​3.​1 „Ursprung und Motivation“). Auch kreative Formen des Upcyclings und Reparierens erfahren großen Zulauf (vgl. Kannengießer 2018a, 2018b; Kuni 2016), ebenso neue Formen des Landwirtschaftens und Umgangs mit Lebensmitteln, wie Solidarische Landwirtschaft und foodsharing (vgl. Kraiß 2009; Yang/Villioth/Radtke 2019), die sich gleichwohl als politische Formen der Partizipation verstehen und auf Missstände in Landwirtschaft und Lebensmittelkonsum hinweisen. Rund um den Begriff „Culture Jamming“ untersucht Baringhorst (2012) kreative Formen des politischen Protests, die Kunst und Politik miteinander verschwimmen lassen. Das konkrete Machen und Anpacken, welches eine Vielzahl dieser neuen Formen von im Alltag verankerter Partizipation kennzeichnet, spielt für viele Bürger*innen eine wichtige Rolle in ihrer Motivation für politische Partizipation und wird im Weiteren in Abschnitt 5.​3.​1 „Ursprung und Motivation“ genauer betrachtet.
Betrachtet man diese und weitere neue Formen politischer Partizipation, die im Zuge der Digitalisierung entstanden sind und/oder sich dadurch weiter ausgebreitet haben, könnte vermutet werden, das Netz würde nun mehr Bürger*innen in politische Prozesse einbeziehen als zuvor und Protest könnte sich diversifizieren. Doch online zeigt sich ein ähnliches Bild wie offline: Hohe Bildung, überdurchschnittliches politisches Interesse, eine starke Überzeugung von der politischen Wirksamkeit des eigenen Handelns und eine überdurchschnittliche Zufriedenheit mit dem politischen System zeichnen die Engagierten im Netz aus (vgl. Vowe 2014: 48). Viele junge, männliche „digital citizens“ sind insb. an Themen der Freiheit und Selbstbestimmung interessiert, weniger an Themen der Gleichheit oder Sicherheit. Damit bestätigt sich erneut die These von Verba/Schlozman/Brady (2010: 487), dass das Internet eine „weapon of the strong“ ist und weniger eine Waffe der ressourcenarmen Bürger*innen.
Doch wie von Baringhorst (2015b: 335) beschrieben, liegen die Besonderheit und der Erfolg netzgestützter politischer Partizipation nicht darin, dass das Internet mehr Bürger*innen wie zuvor zu Partizipation motiviert, sondern der „entscheidende Vorteil der Netzkommunikation besteht vielmehr darin, dass die vielen oft weniger aufwendigen Einzelbeiträge durch Praktiken des kollaborativen Produsage in kollektiven Schwarmaktionen oder anderen Formen der Kollaboration schnell und flexibel zu höchst wirkungsvollen Protestaktionen gebündelt werden können.“ Eine sinkende Schwelle und gute Einstiegsoptionen für politische Partizipation, sowie ein Gefühl der Wirksamkeit zeichnen den gegenwärtigen Netzprotest aus: „Netzaktivismus senkt die Schwelle des politischen Mitmachens und kann insb., aber nicht nur, mit Blick auf jüngere Bürger neue Einstiegsoptionen in politisches und zivilgesellschaftliches Engagement schaffen. Neben der Vervielfältigung von Zugängen zum politischen Raum kann das Internet auf der individuellen Ebene der Bürger Gefühle der Efficacy, des selbsttätigen Einwirkens auf das soziale und politische Geschehen stärken und damit Ohnmachtsgefühle und Apathie entgegenwirken. Zwar sind die vom Einzelnen geforderten Leistungen beim sogenannten Click-Aktivismus gering. Doch können die vielen kleinen Beiträge im kollaborativen Produsage zuweilen Medienwirksamkeit und auch politische Folgen verursachen, wie Proteste gegen ACTA oder die Rücktritte von Ministerin Schavan oder Verteidigungsminister von Guttenberg eindrücklich gezeigt haben.“ (ebd.: 347 f.)
Darüber hinaus fordert Netzkommunikation von politischen Institutionen und Organisationen mehr Transparenz und sorgt damit für mehr Kontrollmöglichkeiten durch Bürger*innen. „Mehr Partizipation, mehr Offenheit und mehr Interaktivität – so lassen sich die positiven Effekte der Netzkommunikation auf die Politik zusammenfassen.“ (Baringhorst 2015b: 347)
Während insb. Treré (2019) bereits eine kontextabhängige und fallspezifische Analyse des Handlungs- und Wirkungszusammenhangs von Online- und Offline-Praktiken durchgeführt hat, mangelt es in der Protestforschung weiterhin an subjektzentrierten Untersuchungen dieses Zusammenhangs. Zahlreiche Forscher*innen und Projekte haben gesamtgesellschaftliche Konsequenzen einer Digitalisierung von Protestpartizipation untersucht und Vor- und Nachteile aus Sicht der Organisationen und Sozialer Bewegungen als Kollektivakteur beschrieben. Dabei decken die Meinungen das komplette Spektrum von Netz-Pessimisten zu -Optimisten ab. Insbesondere die Forschungen, die mit Konzepten von Hybridität und unter Berücksichtigung zahlreicher Kontextfaktoren arbeiten, nähern sich der Herangehensweise, die auch die vorliegende Arbeit verfolgt. Doch individuelle Motive und die Berücksichtigung zahlreicher persönlicher Faktoren wie Ressourcen, Emotionen, Bürgerschaftsverständnissen oder auch die Einschätzung zur Wirksamkeit einzelner Protestpraktiken, fanden in dieser Kombination von Faktoren in der Vergangenheit kaum Einfluss in wissenschaftliche Untersuchungen. Warum entschließen sich individuelle Bürger*innen, ganz spezifischen Protestpraktiken – online wie offline – nachzugehen und anderen Praktiken nicht? Welche Vor- und Nachteile sehen die Subjekte in den einzelnen ihnen zur Verfügung stehenden Kanälen und Kommunikationsformaten? Die vorliegende Arbeit plädiert dafür, Protestpartizipation und dessen Konsequenzen für Demokratie und Gesellschaft jeweils individuell abzuwägen und den Fokus auf den jeweiligen Handlungs- und Wirkungszusammenhang verschiedener (Online- und Offline-)Praktiken der Individuen zu legen und sie in ihrer Gesamtheit zu betrachten, anstatt entweder Online-Aktivismus grundsätzlich als Clicktivism abzuwerten oder ihn grundsätzlich als Bereicherung für Demokratie zu verstehen, ohne dabei spezifische Protestpraktiken, -intensitäten und andere Faktoren zu berücksichtigen.
Dabei soll auch untersucht werden, wie individuelle Unterstützer*innen der Umweltschutz-Bewegung auf die ihnen heute zur Verfügung stehende Bandbreite von Praktiken reagieren, während sie in den 1980er Jahren viele der heutigen Online-Praktiken noch nicht nutzen konnten. Haben sich Engagement und Bürgerschaftsverständnis über die Jahrzehnte hinweg verändert und wenn ja, welche Rolle spielen technische Entwicklungen dabei? Nutzen jüngere Aktive automatisch digitale Kommunikationskanäle und Protestpraktiken, nur weil sie als Digital Natives mit entsprechender Technologie aufgewachsen sind? Ein Vergleich verschiedener Protestgenerationen, verschiedener Intensitäten und Räume von Protest steht derzeit noch aus.33 Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, diese Lücke zu schließen und Protestpartizipation – welche als gleichwertiger Wirkungszusammenhang von Aktionen im Netz und auf der Straße verstanden wird – aus Sicht der Individuen und unter Berücksichtigung zahlreicher Kontextfaktoren zu untersuchen.
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Fußnoten
1
In Reihenfolge der Nennung: Ben Mhenni (2011), Hessel (2011), Kessler (2013), Honolka (2013) und Brodde (2010).
 
3
Eine Ausnahme stellt dabei die Gruppe Extinction Rebellion dar, welche häufig mit Flashmobs und Tanzaktionen auf ihre Anliegen aufmerksam macht. Siehe u. a. https://​extinctionrebell​ion.​de/​aktionen/​ und https://​extinctionrebell​ion.​de/​aktionen/​formate/​discobedience/​ Da keiner der Interview-Partner*innen in dieser Gruppe aktiv ist, werden Flashmobs im Folgenden nicht weiter thematisiert.
 
4
Zu den Merkmalen von Sozialen Bewegungen siehe u. a. auch Lahusen (2013).
 
5
Vgl. dazu auch Fahlenbrach (2004).
 
6
Rucht (2007: 26 f.) fragt dazu: „Inwiefern stellen soziale Bewegungen, deren Bedeutung in den letzten Jahrzehnten eher zu- als abgenommen hat, ein gesellschaftliches Kapital dar, das einer demokratischen Gesellschaft zuträglich ist? Welche Funktionen erfüllen sie in einer demokratischen Gesellschaft?“ Er nennt daraufhin fünf Funktionen Sozialer Bewegungen: Das ‚Warnsystem für strukturelle Defizite‘, den ‚Anwalt für vernachlässigte Interessen‘, die ‚Scharfsichtige Kontrolle und unverblümte Kritik‘, ihre ‚Visionen für eine andere Zukunft‘ und ein ‚Lernfeld für Demokratie‘. Siehe dazu ausführlicher: Rucht (2007: 26 ff.).
 
7
Vgl. dazu Bruns (2008) und Hands (2011).
 
10
Zur Bedeutung von Straßenprotest siehe u. a. Balistier (1996), Tarrow (1998) und Tilly (2008). Umfangreiche empirische Studien zu Straßenprotesten, Motiven für die Teilnahme an Straßenprotesten und Ländervergleichen führten u. a. Klandermans/van Stekelenburg/Walgrave (2014) und Giugni/Grasso (2019) durch.
 
11
Seit dem Frühjahr 2020 stellt die Corona-Pandemie mit Versammlungsverboten, Hygiene- und Abstandsregelungen auch eine Herausforderung für Straßenprotest dar. Siehe dazu u. a. Mullis (2020), Crossley (2020), della Porta (2020) und Zajak (2020). FFF-Unterstützer*innen begegnen dem z. B. mit kleineren symbolischen Protestaktionen auf der Straße und weltweiten digitalen Klimastreiks, siehe dazu z. B. https://​www.​dw.​com/​de/​klimastreiks-in-zeiten-von-corona/​a-53230926 und https://​www.​instagram.​com/​p/​B_​XT0qKpPnu/​?​utm_​source=​ig_​embed&​utm_​campaign=​loading.
 
12
Vgl. dazu auch Baringhorst (1998).
 
13
Zum Thema „Protest als Performanz“ und zu bewusst medial ausgerichteten Inszenierungen siehe u. a. Juris (2015), Mörtenböck/Mooshammer (2013) und Reed (2005).
 
14
Zur Popularisierung von Protestsymbolen wie z. B. der Regenbogenflagge siehe auch Regener/Safaian/Teune (2020).
 
15
Zu Medienstrategien von Protestbewegungen siehe auch Rucht (2004: 29 ff., 2014a: 19 ff.) und Baringhorst (2013: 17 f.).
 
16
Auf diese und ähnliche Argumente wird in Abschnitt 2.4.1 unter dem Stichwort ‚Clicktivism‘ genauer eingegangen.
 
18
Dazu auch: Earl (2006: 365 ff.)
 
20
Einen anderen wichtigen Forschungsbereich zum Thema Online-Protesträume stellen Untersuchungen zur Rolle von Jugendlichen dar (vgl. Banaji/Buckingham 2013; Bastian/Burger/Harring 2016; Haan 2016; Hurrelmann 2020; Kersting 2016). Aus Platzgründen kann auf diesen Bereich hier nicht weiter eingegangen werden.
 
22
Vgl. Speth (2013: 7); generell dazu: Wiesendahl (2012, 2006); Spier et al. (2011).
 
23
Stichwort „Individualisierung“ Beck (1986).
 
24
Details zu Struktur, Finanzierung und Positionen der beiden Organisationen folgen ausführlich in Abschnitt 4.​2.
 
28
Zur Finanzierung der Organisation folgen mehr Informationen in Abschnitt 4.​2.
 
29
Die ANT spielt im weiteren Verlauf dieser Arbeit keine tragende Rolle, soll aber im Kontext von (Konzepten von) Hybridität an dieser Stelle zumindest Erwähnung finden.
 
30
Diesem Verständnis schließt sich auch die vorliegende Arbeit an, welche ebenso davon ausgeht, dass Online-Petitionen in vielen Fällen nur Teil einer größeren Kampagne sind und von zusätzlichen Offline-Engagementformen begleitet werden.
 
31
Siehe dazu u. a.: Baringhorst/Yang/Witterhold (2019); Baringhorst et al. (2015); Jaeger-Erben/Rückert-John/Schäfer (2017); Boström/Micheletti/Oosterver (2019); Micheletti/Follesdal/Stolle (2004).
 
32
Lifestyle Movements haben oft keine formellen Führer, sondern es bilden sich individuelle Cultural Entrepreneurs als Autoritäten hinaus, z. B. indem sie bekannte Bücher veröffentlichen, Newsletter versenden und in Dokus oder Magazinen auftreten. Individuen folgen ihnen nicht, weil sie der Anführer sind, sondern wegen ihren charismatischen Werken, Texten, Ansprachen usw.
 
33
Insbesondere rund um FFF erscheint derzeit (Stand Sommer 2021) jedoch Literatur, die sich mit den spezifischen Ansichten, Motiven und Protestpraktiken der „Generation Greta“ (Hurrelmann/Albrecht 2020) auseinandersetzt.
 
Metadaten
Titel
Wandel von Protestpartizipation im Zuge der Digitalisierung
verfasst von
Lisa Villioth
Copyright-Jahr
2023
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40532-8_2